1850 - Alfred Brehm
Der Sturm und die Flut
Khartoum, Sudan
Das Klima Chartums ist unbedingt eins der ungesundesten der Erde. Man hat berechnet, daß achtzig Prozent aller Europäer, welche gezwungen sind, mehrere Jahre nacheinander in Chartum zu leben, während dieser Zeit sterben. Die Lage der Stadt selbst, zwischen zwei während der Regenzeit anschwellenden und dann große Sümpfe bildenden Flüssen, würde zwar auch unter unserem Himmel eine der Gesundheit schädliche sein, allein die Sterblichkeit ihrer Bewohner steht mit der einer gleich ungünstig gelegenen Stadt Europas in keinem Verhältnis. Das Klima des Sudan ist es, das dem Menschen verderblich wird: ein Klima, welches dem Schwarzen ebensowenig zusagt als dem Weißen, welches den Eingeborenen ebenso leicht hinrafft als den Fremdling. Die Krankheiten sind im Sudan so rapid, daß sie oft in wenigen Stunden den Tod herbeiführen. Sie sind teilweise durch gewisse Jahreszeiten bedingt, treten aber sporadisch auch das ganze Jahr hindurch auf.
Man kann im Sudan hauptsächlich zwei Jahreszeiten unterscheiden: die „Zeit der Dürre“ und die „Regenzeit“ oder Sommer und Winter. Zwischen beiden gibt es keine Übergänge: die eine folgt plötzlich auf die andere.
Der Charief, wie der Araber die Zeit der Regen nennt, (drei Monate zwischen Sommer und Winter, in denen man Früchte einsammelt) beginnt in Chartum im Juni oder Juli und währt bis Mitte Oktober. Im Süden regnet es früher und heftiger als im Norden; die Regen kommen von oben herab und ziehen sich bis zum achtzehnten Grad der nördlichen Breite nach dem Mittelmeer hinab. Man kann sich von dem trostlosen Zustande der Natur vor und dem lebenskräftigen Schaffen derselben während und nach der Regenzeit keine Vorstellung machen. Der Charief erweckt alles zu neuem Leben; er kleidet die verbrannte Steppe in ein neues, blütenreiches, duftiges Gewand.
Wenn in den Monaten März und April die Sonne ihre Glutstrahlen senkrecht auf den Sudan herabsendet und beinahe ihre größte Höhe erreicht hat, treten die Südwinde, welche bis dahin noch durch die von Norden her zuströmenden Passatwinde zurückgehalten wurden, häufiger und stärker auf. Sie vermehren die Hitze und nehmen nach den Beobachtungen Russeggers einen elektrischen Charakter an, beengen die Brust des Menschen und ängstigen die Tiere. Es sind dieselben Winde, welche in den Wüsten als Samum den Sand emporwirbeln, die Wasserschläuche der ziehenden Karawane trocknen und die an Durstesqualen verendeten Menschen damit begraben, in Ägypten als Chamasihn (oft Kamsin, Chamsin, und Schamsin geschrieben. Abgeleitet von chamsihn, fünfzig), d. h. der Wind, welcher innerhalb fünfzig Tagen weht, die Bäume entblättern, als Schirokko den Schiffern des Mittelmeeres, als Föhn den Bewohnern der Alpen gefährlich werden und als Tauwind Deutschlands Fluren durchsausen. Sie sind überall mehr oder weniger gefürchtet, am heftigsten und furchtbarsten aber in den Tropen. Es scheint, als wollten sie dort die ganze Natur vernichten. Sie trocknen und zerstäuben die Blätter der noch grünenden Bäume, zerspalten und zerklüften die dürstende Erde.
Ein Gewitter in den Tropen ist eine so imposante Naturerscheinung, ist so grauenhaft furchtbar und so unendlich erhaben, daß keine Feder Worte finden kann, es würdig zu schildern. Ich will es versuchen, den Umriß zu einem nie wiederzugebenden Bilde zu liefern:
Gewitterschwanger droht der Himmel, ein Orkan mit Regengüssen ist im Anzug. Wir betrachten das sich entfaltende Schauspiel von einem erhöhten Standpunkte aus, wozu uns die Terrasse unseres Lehmhauses am geeignetsten scheint. Noch rührt sich bei uns kein Lüftchen, noch hört man kein Flüstern der Blätter grünender Bäume, noch ist alles tot. Tot wird es aber auch in den Straßen der Stadt, tot in dem Walde und den Baumhecken der Gärten. Die Verkaufshallen in den Basaren, die öffentlichen Amtssäle und Schreibstuben der Regierung werden geschlossen, jedermann zieht sich in seine Behausung zurück; die sonst so lauten, streitsüchtigen Hunde schleichen mit eingezogenem Schwänze einem stillen Plätzchen zu; der Gesang, jede Stimme der Vögel ist längst verstummt, sie selbst haben sich im dichtesten Laubwerk geborgen. Diese Ruhe ist unheimlich, wahrhaft grauenerregend; sie ist die Stille vor dem Ausbruch einer allgemeinen Empörung der Natur.
In der Ferne ballt sich eine dunkle, flammende Wolke zusammen. Sie erscheint wie die Feuerwolke über einer brennenden Stadt oder einem meilenweit in Flammen stehenden Wald. Brandrot, Purpur, Dunkelrot und Braun, Fahlgelb, Grau, Tiefblau und Schwarz gattet und vereint sich in allen Schattierungen zu einem furchtbar anzuschauenden Ganzen. Je dunkler diese Wolke wird, um so dunkler wird der Himmel. Sie wächst immer mehr an Ausdehnung und ihre Farbe an Intensität. Jetzt hört man von ferne ein pfeifendes und sausendes Geräusch - bei uns ist noch alles tonlos. Nur die Hitze und der Luftdruck mehren sich; das Thermometer steigt um mehrere Grade, das Barometer fällt auf »Sturm« herab. Die Schwüle wird unerträglich und beengend; der mutigste Mann fühlt sein Herz stärker schlagen, unwillkürlich muß er dem allgemeinen Zustand der Natur folgen.
Unser Horizont wird immer kleiner. Die dunkle, undurchsichtige Wolke hüllt nach und nach alles Sichtbare in ihren düsteren Schleier. Plötzlich bewegen sich die Zweige der nächsten Bäume mit Heftigkeit, der Wind hat sie erreicht. Zuerst sind es mehrere einzelne Stöße, dann nimmt er seine sich immer steigernde Heftigkeit an. In wenigen Minuten erwächst er zum Sturme, der Sturm zum Orkan. Dieser wütet mit beispielloser Gewalt. Sein Toben ist so groß, daß man das ausgesprochene Wort nicht tönen hört. Jeder Laut wird von einem nicht zu beschreibenden Getöse, Geprassel, Pfeifen und Sausen, Heulen und Rauschen übertönt, verschlungen. Die vor kurzem noch ruhig stehenden Bäume beugen sich wie schlanke Gerten, ihre Kronen werden hin und her geschleudert und des größten Teiles der ihnen noch gebliebenen Blätter beraubt, die Stämme ächzen, krachen und brechen. Es ist, als ob die Elemente miteinander kämpfen wollten. Selbst die Grundfesten der Erde möchte der Orkan erschüttern: er wühlt in den Ritzen und Spalten der Erdoberfläche herum, nimmt den Staub und Sand heraus, führt ihn mit sich fort und schleudert ihn mit Gewalt durch die Tür- und Fensteröffnungen in das Innere der Wohnungen hinein; er belegt damit alle Gegenstände liniendick und wirft ihn mit solcher Macht an feststehende Sachen an, daß er prickelnd zurückprallt. Wir haben längst unseren Rückzug in das Innere der Wohnung nehmen müssen; denn wehe dem Armen, der im Freien von solch einem Unwetter überrascht wird. Aber auch in unserer Behausung wird es unheimlich. Es wird so finster, daß wir, um nur etwas zu sehen, Laternen anzünden müssen; der über und um uns dahinsausende Staub verdunkelt jede Aussicht. (Diese Schilederung wurde nach einem von uns am 5. Juli in Chartum beobachteten Gewittersturm und einem uns am 10. Juni im Freien überraschenden Orkane entworfen).
Da auf einmal übertäuben prasselnde Donnerschläge das Tosen der Windsbraut. Noch kann man keine Blitze sehen, die Staubwolken sind zu dicht, aber immer lauter und vernehmlicher dröhnt des Donners Rollen durch das allgemeine Tonchaos hindurch. Jetzt rauscht es sonderbar dazwischen: es ist, als ob der Hagel Deutschlands Gaue verwüstet und doch sind es nur einzelne Regentropfen, die aber bald zu Güssen anwachsen. Die Musik der Hölle nähert sich dem Ende, der Orkan ermattet, der Sturm schweigt endlich. Nun werden wir auch des fahlen Lichtes der Blitze gewahr; einer folgt auf den andern, ohne Pausen; ihr Licht ist so grell, daß man die schmerzenden Augen schließen muß. Der Donner rollt in unübertrefflicher Stärke, ohne Aufhören, der Regen stürzt in wolkenbruchartigen Strömen herunter. Er hat allen Staub mit sich niedergeschlagen und bildet auf den Dächern der Lehmhäuser Teiche, deren Wasser in dichten Strahlen auf die Straßen herabfällt. In kurzer Zeit gleichen diese Flüssen, die Hauptstraßen Strömen, die öffentlichen Plätze Seen; es bilden sich Lachen von drei bis acht Fuß Wassertiefe.
So dauert das Unwetter zwei oder höchstens drei Stunden. Der dunkle Himmel entsendet einen seiner flammenden Feuerstrahlen nach dem andern, der Donner rollt ohne Unterbrechung, aus dem Regen scheint ein Wolkenbruch geworden zu sein. Doch der Wind erhebt sich nach kurzer Ruhe wieder und führt die Regenwolken rasch von dannen; schon leuchten die Blitze in weiter Ferne, der Donner wird schwächer, der Regen hört auf. Noch immer ist die Sonne hinter dichtem Gewölk verborgen, aber ehe sie für heute scheidet, sendet sie noch einen Strahlenblick zu uns herauf und beleuchtet rosig die gleichsam neubelebte Natur.
Jetzt tritt jene wohltätige Ruhe nach dem Sturme ein. Die Blätter der immergrünen Bäume, auf denen sich wochen- und monatelang der Staub gelagert hatte, prangen jetzt im schönsten Dunkelgrün; die Pflanzen, welche ermattet ihre Zweige, Blätter und Blütenkronen hängen ließen, scheinen neu geboren zu sein.
Gewöhnlich regnet es in drei bis fünf Tagen einmal. Die seit Monaten durstige Erde saugt begierig den Himmelssegen ein, das sich auf der Oberfläche sammelnde Wasser verschwindet schnell. Schon nach kurzer Zeit wirbelt der Wind neue Staubmassen auf und erst ein zweiter Regen muß diese wieder niederschlagen. Die Wärme wird überaus lästig, der Mensch Tag und Nacht von dem aus allen Poren der Haut hervorrieselnden Schweiß gebadet; aber dennoch ist es nicht die positive Hitze, sondern mehr eine kaum zu ertragende Schwüle, welche ermattend auf Körper und Geist einwirkt. Jeder neue Regenguß beschleunigt das wunderbar schnelle Wachstum der Pflanzen und jeder schwellt die schon hoch gestiegenen Ströme noch mehr an.
Bekanntlich sind es nur die in den Tropen Nordostafrikas während des Charief herabstürzenden Regen, welche das Steigen des weißen und blauen Flusses und somit auch des Nil bewirken. Nachdem die Regenzeit auch bei Chartum begonnen hat, steigen beide Ströme erstaunlich schnell: der blaue Fluß nimmt manchen Tag um einen Fuß an Höhe zu, der weiße zwar weniger, aber um so mehr an Breite. Zur Zeit der Dürre ist er eine starke Viertelmeile von den Häusern Chartums entfernt, bei seinem höchsten Stande bespülen seine Fluten den dicht an den letzten Häuserreihen der Stadt aufgeworfenen Erddamm; dabei ist er auch auf seinem anderen Ufer fast eine Achtelmeile weit ins Land hineingetreten. Dann sieht man in den einzelnen Ritzen des durch die Sonnenglut tief zerklüfteten Schlammlandes seiner Ufer geschäftig kleine Bächlein Wassers dem Lande zulaufen; sie erweichen schon vorher den Uferboden weit umher und wandeln ihn, noch ehe er von den Fluten des Stromes bedeckt wird, in zähen, tiefen Schlamm um. Ein Orkan treibt die Wellen des Flusses oft mehrere hundert Schritte über die Ufer hinaus und bildet, das Wasser zurücklassend, neben dem Strome eine mehr oder weniger unterbrochene Reihe von Sümpfen.
In der Mitte des Monats August hat der blaue Fluß seine größte Höhe erreicht und beginnt von nun an erst langsam, dann sehr rasch und schließlich kaum bemerkbar bis zum Februaranfang zu fallen. Der weiße Fluß hat erst zu Ende des August seinen höchsten Wasserstand. Zu dieser Zeit gewähren beide Ströme dicht unter ihrem, der Stadt sehr nahe gerückten Vereinigungspunkte ein majestätisches Schauspiel. Man hat die Wasserfläche eines Stromes von fast einer halben Meile Breite vor sich. Alles Land zwischen den beiden Strömen und Chartum, welches sich früher wüst oder bebaut dem Auge zeigte, ist verschwunden; von den Inseln inmitten der Ströme sieht man nur noch die mit Wasservögeln aller Art wie mit weißen Blüten bedeckten Kronen der Bäume über den Wasserspiegel emporragen.
Brehms Reisen im Sudan 1847-1852
Hg. von Helmut Arndt
München/Zürich 1981