1870 - Georg Schweinfurth
Es gibt sie: Pygmäen
Grenzgebiet von Kongo und Südsudan
Schon hatte ich mehrere Tage in der Residenz des Königs verlebt, und noch immer waren mir nicht die vielbesprochenen Zwerge zu Gesicht gekommen, meine Leute aber hatten sie gesehen. „Weshalb habt ihr sie mir nicht gleich mitgebracht?" war meine vorwurfsvolle Frage. — „Sie fürchten sich", hieß es. Da erscholl eines Vormittags lauter Jubel durch das Lager. Mohammed hatte einige Pygmäen beim König überrascht und schleppte nun trotz seines Sträubens und wilden Gebarens ein seltsames Männlein vor mein Zelt, das hockte auf seiner rechten Schulter, ängstlich hielt es Mohammeds Kopf umklammert und warf scheue Blicke nach allen Seiten. Jetzt saß es vor mir auf meinem Ehrenplatz, zu seiner Seite der königliche Dolmetsch. Ich konnte nun endlich meine Augen weiden an der handgreiflichen Verkörperung tausendjähriger Mythe, ihn zeichnen und ausfragen. Beides war nicht so leicht getan wie gedacht. Ihn vorläufig zum Sitzen zu bringen, war nur dem Erfolge zu verdanken, den die von mir mit großer Eilfertigkeit ausgekramten Geschenke erzwangen. In meiner Angst, es würde sich keine zweite Gelegenheit darbieten, griff ich zu jedem Mittel der Überredungskunst. Ich beschenkte den Dolmetsch und bat ihn, dem Furchtsamen ja doch Mut zuzusprechen und ihm Zutrauen zu mir zu erwecken. Was also in zwei Stunden geschehen konnte, geschah, er wurde gemessen, porträtiert, gefüttert, beschenkt und bis zur Erschöpfung ausgefragt. Sein Name war Adimoku, und er war das Haupt einer Familie, die eine halbe Stunde von der Residenz eine kleine Pygmäenkolonie darstellte. Aus seinem eigenen Munde erfuhr ich nun die Bestätigung, daß ihr Volksname „Akka" sei. Die Akka bewohnen ausgedehnte Gebiete im Süden der Mangbattu, ungefähr zwischen dem ersten und zweiten Grad nördlicher Breite. Ein Teil der Akka ist dem Mangbattu-König unterworfen, und dieser, indem er die Pracht seines Hofes durch eine Sammlung aller ihm zugänglichen Naturmerkwürdigkeiten zu erhöhen suchte, hatte einige Familien des Pygmäenvolkes in seiner Nähe angesiedelt. Meine Niamniam gaben mir Satz für Satz dasjenige wieder, was der Mangbattu-Dolmetsch, der nur diese Sprache gelernt hatte, von Adimoku erfuhr. Schließlich war Adimokus Geduld erschöpft. Er sprang auf, zum Zelt hinaus und wollte entfliehen, aber da standen die Scharen der neugierigen Nubier und Bongo und vorläufig mußte er noch bleiben. Auf vieles Zureden ließ er sich denn bewegen, einige Waffentänze zum besten zu geben. Er war nach Art der Mangbattu kostümiert und mit Lanze, Bogen und Pfeilen bewaffnet. Alles en miniature, denn er hatte nur eine Höhe von 1,5 Meter; dies war jedenfalls das durchschnittliche Körpermaß.
Hatte ich wiederholt bereits den Waffentänzen der Niamniam meine Bewunderung gezollt, so war diesmal der Eindruck zunächst der einer grenzenlosen Heiterkeit. Trotz seines großen Hängebauches, trotz seiner dürren Säbelbeine leistete Adimoku, der, beiläufig gesagt, bereits bejahrt zu sein schien, wahrhaft Unglaubliches an Sprungkraft und Gewandtheit; seine Sprünge waren dabei von einer Lebhaftigkeit des Gesichtsausdrucks unterstützt, daß alle Anwesenden sich den Bauch vor Lachen halten mußten.
Bereits am folgenden Tage erfreute ich mich des Besuchs von zwei jungen Männern, die ich zeichnete. Nachdem ich ihnen alle Furcht genommen hatte, erhielt ich fast täglich Besuche von Akka. Auch größere Exemplare fanden sich ein, und jedesmal, wenn ich mich nach dem Grunde dieser Verschiedenheit erkundigte, erfuhr ich, daß es das Resultat einer Vermischung mit den Mangbattu sei, in deren Mitte sie lebten. Leider kam unser Aufbruch von Munsa unerwartet plötzlich, bevor ich noch die sich mir darbietende Gelegenheit zum Studium dieses Volkes erschöpft hatte. Ich bedauerte namentlich, keines einzigen Weibes dieser Rasse ansichtig geworden zu sein, auch den Besuch ihrer Wohnungen von Tag zu Tag hinausgeschoben zu haben, bis es zu spät war. Unvergeßlich ist mir eine Begegnung, bei der ich Gelegenheit haben sollte, mehrere Hunderte von Akka-Kriegern zu sehen. Ich hätte sie genau in Augenschein nehmen können, wären die Umstände danach gewesen. Mummeri, dem die Akka zunächst zinsbar sind, war an das Hoflager gekommen, und ein ganzes Corps von Pygmäen befand sich in seinem Gefolge. Ich hatte an jenem Tage einen weiten Ausflug gemacht, auf dem mich meine Niamniam begleiteten. Die Sonne war bereits ihrem Untergang nahe, als mich der Rückweg durch das große Residenzdorf führte. Ich wußte nichts von Mummeris Ankunft. Da sah ich mich auf dem weiten Freiplatz vor den königlichen Hallen plötzlich von einem Haufen übermütiger Knaben umringt, die ein Scheingefecht zu meinem Empfang improvisierten, ihre Pfeile auf mich richteten und in einer Weise mich umschwärmten, daß ich diese Zudringlichkeit meiner Person gegenüber zumindest für unziemlich betrachten mußte. „Da sind ja Tikitiki", riefen meine Niamniam aus (so heißen die Akka bei ihnen), „du glaubst wohl, es seien Kinder, das sind Männer, die zu fechten wissen!" Die Begrüßung Mummeris entzog mir diese denkwürdige Szene; ich nahm mir vor, am folgenden Morgen das Lager der Ankömmlinge zu besichtigen, aber ich hatte mich verrechnet: Mummeri hatte beim frühesten Morgengrauen bereits den Platz verlassen und mit ihm die Pygmäen. Einem phantastischen Traumgebilde gleich waren sie wieder zurückgesunken in die Nacht, die das innerste Afrika umfangen hält, so nah und doch so unerreichbar!
Schweinfurth, Georg
Im Herzen von Afrika
Leipzig 1918