Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1869 - Gustav Nachtigal
Durst!
Tibesti, Tschad

Immer stiller wurde die Gesellschaft, in der jeder das düstere Gespenst ernstlicher Wassernot vor seinen inneren Augen auftauchen sah. Mit der Energie der Furcht vor dem am meisten gefürchteten Schicksal der Wüstenreisenden folgte jeder dem Führer; doch als eine vollständige Finsternis hereingebrochen war, weigerte ich mich nach der traurigen Erfahrung der verflossenen Nacht und ihrer nutzlosen Kraftvergeudung weiterzumarschieren, sondern drang darauf, den Aufgang des Mondes abzuwarten. Dies trug mir einige Stunden Rast in der erfrischenden Kühle der Nacht ein, doch für einen wirklich erquickenden Schlaf war mein Gemüt zu aufgeregt und mein Körper zu ermüdet. Kurz nach Mitternacht nahmen wir den entsetzlichen Kampf wieder auf; doch jetzt gaben alle, Menschen und Tiere, deutliche Spuren überwältigender Ermattung kund. Der eine blieb zurück und konnte nur durch gewaltsame Aufrüttlung zur Fortsetzung des Marsches gezwungen werden; ein anderer kratzte feuchte Erde aus dem Boden, als wenn sie Aussicht auf lebendiges Wasser eröffnete, ein dritter bat flehentlich um einen kleinen Trunk Wasser, da bekannt geworden war, daß Giuseppe einen kleinen Vorrat für die äußerste Not aufbewahrt hatte, und Ali und Sa'ad flehten vergebens, beritten gemacht zu werden. Solange nicht der beginnende Tag unsere räumlichen Fortschritte klargemacht hatte, solange die Hoffnung nicht wuchs, konnten die Kamele nicht noch mehr belastet, durfte der letzte Tropfen Wasser nicht gewissermaßen nutzlos verschleudert werden.
    Der Morgen kam, und die Hoffnung Kolokomis schien mit der gehaltenen Umschau nicht zu wachsen. Sein Vetter Wolla und Bu Zeïds Diener Galma wurden vermißt und waren wahrscheinlich im Dunkel der Nacht unbemerkt zurückgeblieben. In ernster Beratung waren die wüstenkundigen Männer Kolokomi, Bu Zeïd, Birsa und der alte Qatruner darüber einig, daß weder Mensch noch Tiere in der bisherigen Weise den gesuchten Brunnen zu erreichen vermöchten. Ich mußte mich also entschließen, das Gepäck zurückzulassen und die Leute sämtlich beritten zu machen, um wenigstens das Ziel, wenn der Weg zu ihm gefunden sein würde, erreichen zu können. Der gleichmütige Bui Mohammed suchte vorsorglich eine hochgelegene Stelle für unsere Habe, da man nie wissen könne, ob nicht ein plötzlicher Regen das Tal mit einem rauschenden Wasserstrome anfüllen werde, und die Tiere wurden entlastet. Daß die Sachen ohne Bewachung oder Versteck auf freiem Felde gelassen wurden, hatte in dieser so selten von Menschen besuchten, öden Wildnis durchaus keiner Bedenken. Giuseppe ging an die Verteilung des Wasserrestes. Jeder erhielt ein volles Glas von sechs bis acht Unzen des köstlichen Naß, das die Frische der Nacht und die Verdunstung von der Oberfläche der Quirba fast eisig gekühlt hatte, und gierig sogen wir, mit schmerzlichen Bedauern, daß es nicht mehr sei, den letzten Tropfen ein. Der letzte war Kolokomi. Er schob seinen Gesichtsschleier von Nase und Mund nach unten über das Kinn zurück, ergriff das Glas, nahm einen Schluck, kühlte die Schleimhaut seines Mundes mit demselben, spritzte es in langem Strahle durch eine Zahnlücke von sich, als ob es nicht heiliges Wasser, sondern der gewöhnliche Inhalt eines Tubumundes, grünlicher Tabaksaft, wäre, und reichte mir den Rest mit dem Bemerken, daß er noch keinen Durst habe, aber wohl begreife, daß wir als Leute des Wassers sogar diesen erst beginnenden Mangel nicht ertragen könnten. Der Mann imponierte mir, wie er, ausgetrocknet gleich den öden Gefilden seiner Heimat, hart und schroff wie die Felsen seines Landes, nichts von seiner Energie eingebüßt hatte.
    Ohne Aufenthalt ging es wieder vorwärts. An der Spitze war Kolokomi, der seinen Landsmann Birsa hinter sich auf seine noch rüstige Naqa (weibliches Kamel) genommen hatte; ihm der nächste war Bu Zeïd auf seinem schlanken Tiere, das ebenfalls nicht durch Belastung erschöpft war und mit zartem Gliederbau die Energie und leichte Beweglichkeit seiner Rasse vereinigte, dann folgte ich, und hinter mir kam Giuseppe Valpreda, jeder allein auf einem Kamel, Ali Bu Bekr war der nächstfolgende, und Bui Mohammed schloß den Zug, dessen Glieder keineswegs nahe beieinander blieben.
    Kolokomi und Bu Zeïd waren Dank der Leichtfüßigkeit ihrer Tubukamele bald unseren Blicken entschwunden, während wir unsere Tiere nur durch unmenschliche Züchtigung bewegen konnten, ihren Spuren zu folgen. Die uns in nächster Nähe umgebenden Felsen verhinderten den freien Umblick und verdeckten uns das lockende, rettende Ziel. Da, etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang, eröffnete sich vor uns plötzlich ein weites Flußbett, dessen Anblick unsern Mut wieder anfachte und uns mit neuer Energie belebte. Am Ursprung desselben, zu den Füßen der hohen, finsteren Felsen, die wir aus der Ferne erblickt hatten, sollte der heißersehnte Brunnen liegen. Die Hoffnung wuchs, als in dem reinen Sande des Bettes zahlreiche Fußspuren von Kamelen, Eseln, Antilopen zu beweisen schienen, daß noch in jüngster Zeit Wasser in der Nähe war. Zum ersten Male sah ich hier den kräftigen Eindruck des Straußenfußes im Sande, der stets für ein sicheres Zeichen von Wasser in nicht zu großer Ferne gilt. Allerdings wollte der alte Qatruner, dessen Natur sich nicht leicht zu sanguinischer Hoffnung fortreißen ließ, dieser Erscheinung nicht den hohen Wert beilegen, den ihr meine Phantasie zuschrieb. Auf meine Verwunderung darüber erklärte er mir, daß bei der großen Ausdehnung des gebirgigen Gebietes und bei dem eng zwischen hohen Felsen eingebetteten Sand solche Spuren sich lange unbedeckt und unverwischt in scheinbarer Frische erhalten können und daß also kein sicherer Schluß aus ihnen zu ziehen ist. So viel schien mir wenigstens klar, daß, wenn überhaupt Wasser am Ursprunge des Flußtales vorhanden war, wir dasselbe erreichen mußten; dem Gedanken, daß der Brunnen leer sein könne, wagte ich nicht Raum zu geben. Unser Weg war uns jetzt vorgezeichnet, und mit Aufbietung aller unserer Kräfte trieben wir mit unseren eisernen Ladestöcken und mit Knütteln die armen, erschöpften Tiere vorwärts und folgten den Windungen des Flusses. Bald erhob sich der größte Feind des vom Durste Bedrohten oder Gequälten, die Sonne, zu bedenklicher Höhe. Glühend sendete sie ihre Strahlen auf die dunkelfarbigen Felsen der Ufer und auf den hellen Sand zwischen denselben, und Strahlung und Rückstrahlung versetzte uns bald in ein Meer von Feuer und Glut. In ihm erstarb die momentan aufgeflackerte Tatkraft, drohte der kaum angefachte Hoffnungsfunke schnell wieder zu erlöschen. Furchtbarer Durst stellte sich ein, die Mund-, Rachen-, Nasen- und Kehlkopfschleimhaut wurde ihrer letzten Feuchtigkeit beraubt; um Schläfe und Stirn schien sich ein eiserner Ring enger und enger zu schließen. Kein erfrischender Windstoß erreichte uns im engen Tal; die Augen brannten schmerzhaft; die Ermattung wurde grenzenlos. Außerdem trugen die Kamele der Hoffnung auf Rettung, welche in der Ferne winkte, keinerlei Rechnung, sondern begannen in beunruhigender Weise mit den Sajalakazien zu liebäugeln, welche hier und da im Flußsande durch ihr spärliches aber kräftiges Grün das Auge erquickten und durch ihren wenn auch noch so kümmerlichen Schatten zur Rast einluden. Zweimal legte mein ermattetes Tier trotz meiner Schläge seine müden Glieder unter einen Baum, und zweimal gelang es mir, durch Verdoppelung der Züchtigung das arme Geschöpf zu qualvollem Weiterschwanken zu bewegen. Doch als es sich in der Mitte des Vormittags zum dritten Male in das Geäst einer Akazie, deren lange, kräftige Stacheln mir die Haut zerrissen, gedrängt und niedergelegt hatte, entfaltete es den ganzen Eigensinn seiner Art und war durch nichts zu bewegen, den sauer errungenen Schatten aufzugeben.
    Ich war schon geschwächt genug, um eine geheime Befriedigung über den Entschluß meines Trägers zu empfinden und ohne Rücksicht auf die drohend nahe Zukunft mich am nächsten Genuß des Schattens zu erlaben. Als die Kamele meiner Gefährten nach und nach eintrafen, folgten sie ohne Zaudern dem Beispiel ihres Vorgängers und krochen mit ihrer menschlichen Bürde unter den Baum. Bald waren wir alle vereint und beschlossen, bis gegen Abend im Schatten zu verweilen und dann zu versuchen, mit dem Reste unserer Kräfte den Brunnen zu erreichen, wenn bis dahin Kolokomi und der Muradni kein Wasser gesendet haben sollten. Letzteres hoffte ich natürlich von ganzem Herzen und suchte meinen Gefährten diese Hoffnung so sicher und wahrscheinlich als möglich darzustellen.
    Leider gelang es mir nicht, auf diese Weise die Lebensgeister Alis und Sa'ads aufzumuntern. Der erstere verfiel schnell in einen Zustand halber Bewußtlosigkeit, der mir eine so ernstliche Besorgnis einjagte, als der erwachende Egoismus der eigenen Lebensgefahr zuließ. Der letztere sprach mit entstellten Zügen nur von seinem nahen Tode, mir für den Fall meiner Rettung seine Frau und Kinder auf die Seele bindend, erging sich dann in bitteren Vorwürfen gegen mich, sie trotz der Warnung aller vernünftigen Leute in dies gräßliche Land geführt zu haben, und bereitete sich endlich durch laute, heiße Gebete zum Eintritt ins Paradies vor. Mohammed klammerte sich ohne Ostentation an seine einfache, fatalistische Lebensanschauung und verwies dem törichten Sa'ad ernstlich seine Invektiven gegen mich, indem er ihm klarmachte, daß alles vom allmächtigen Gott so bestimmt sei und daß ich doch unmöglich mehr tun könne, als mit ihnen zu sterben, wenn es so verhängt sei. Giuseppe Valpreda endlich, ein energischer, heftiger Charakter, brütete stumm vor sich hin, erhob sich dann plötzlich, steckte den Revolver in den Gürtel und erklärte mir mit heiserer Stimme, er sei nicht gewillt, so tatenlos den Untergang zu erwarten, sondern werde dem Laufe des Flußbettes folgen und entweder Wasser finden oder mit dem Urheber des Unheils, Kolokomi, mittelst des Revolvers abzurechnen wissen. Trotz meiner und Bu Mohammeds Vorstellungen folgte er seinem eigensinnigen Kopfe. Sowohl Giuseppe als ich boten schon frühzeitig die Symptome zunehmender Heiserkeit und eines höchst lästigen Harnzwanges dar, von denen selbst bei Sa'ad und Ali, welche doch erschöpfter zu sein schienen als wir, nichts wahrzunehmen war. Zweckmäßiger würde es gewesen sein, den Baum zu verlassen und abseits vom Flusse irgendwo einen vollkommeneren und kühleren Felsschatten zu suchen; doch dann hätten unsere weitergeeilten Genossen, wenn sie mit dem rettenden Naß eingetroffen wären, uns erst suchen müssen, und wir wollten in einem solchen Falle keinen Augenblick verlieren. Mit diesem Grunde fand sich unsere Energielosigkeit leicht in das passive Harren. Der Schatten des Baumes war in der Tat sehr unzureichend, und, wo es möglich war, suchte jeder sich eng an eines der Kamele zu schmiegen, um im Schatten seines mächtigen Körpers zu liegen. Doch die Sonne stieg höher, der Schatten der Tiere und der ohnehin sehr kleinen Baumblätter wurde kürzer und kürzer, und die stechenden Sonnenstrahlen zwangen uns oft, Platz oder Körperlage zu ändern. Die Minuten schlichen mit aufreibender Langsamkeit dahin; Furcht und Hoffnung hielten abwechselnd den Rest unserer Lebensgeister wach; doch allmählich wurden wir stiller und stiller. Kein Geräusch störte die Grabesstille der umgebenden Natur; keine Bewegung milderte das starre, tote Aussehen der düsteren Felsen; kein Windeshauch ließ die Zweige und Blätter der wenigen Bäume, dieser kümmerlichen Repräsentanten des Lebens, auch nur erzittern. Als der Nachmittag herankam, die Sonne sich allmählich zu senken begann und kein Wasser sich zeigte, fing meine Hoffnung an zu erblassen; wahrscheinlich hatten unsere vorausgeeilten Begleiter kein Wasser in dem betreffenden Brunnen gefunden und suchten dasselbe in weiterer Ferne. Kein Schlaf wollte mich der drohenden Gegenwart für Augenblicke entrücken. Bald lehnte sich meine ganze Hoffnungskraft in momentaner Energie gegen ein so frühes Ende meiner innerafrikanischen Laufbahn auf, ehe ich noch den geringsten meiner Pläne ausgeführt zu haben die Genugtuung hatte; bald gedachte ich in schmerzlicher Rührung der zahlreichen Freunde, die mich so ungern zu der gefahrvollen Reise hatten scheiden sehen; bald suchte und fand ich einen vorübergehenden Trost in dem fatalistischen Gefühle der Ergebung in das Unvermeidliche und in dem Bewußtsein, nach bestem Wissen und Willen alle Dispositionen für die verhängnisvolle Reise getroffen zu haben.
    Allmählich wurden diese Gedanken zu unbestimmten Empfindungen, verwischten sich in Träumereien, in denen ich meine Umgebung sah, ohne in ihr zu leben, in denen Bilder aus meiner Vergangenheit mit den Erlebnissen der Gegenwart verschmolzen und ich mir nicht mehr klar bewußt war, ob ich in der fernen Heimat, ob am Fuße eines Felsens in der Sahara weilte. Zuweilen ward ich noch aufgerüttelt aus meinem Traumleben, wenn stechende Sonnenstrahlen mein Gesicht trafen oder Sa'ad in neu erwachender Glaubensglut seine Gebete inniger murmelte. Doch bald schwand alles, Gegenwart und Vergangenheit, die drohende Todesgefahr und die nie ganz ersterbende Hoffnung, und ein Zustand umfing mich, von dem ich nicht weiß, ob er ein unvollkommener Schlummer oder die beginnende Bewußtlosigkeit eines nahen Unterganges war. Ich weiß nicht, wie lange dieser, ich kann nicht sagen qualvolle Zustand dauerte, in dem meine Sinnesorgane Eindrücke von außen aufnahmen, ohne daß diese zu richtigem Bewußtsein gelangten.
    Da, war es ein Traum, war es ein Spiel meiner krankhaft erregten Sinne? Eilte dort nicht mit schnellen, seltsamen Sprüngen eine mächtige Ziege gerade auf unsere Akazie los und trug sie nicht gar einen Menschen auf ihrem Rücken? Ich hätte nachher darauf schwören mögen, Hörner und Bart gesehen zu haben. Freilich war es ein Mensch, ein heißersehnter Mensch, doch die Ziege verwandelte sich in ein Kamel, auf dem uns Birsa in zwei Schläuchen Wasser zutrug, dessen Anblick uns bei unserer Schwäche und Reizbarkeit Tränen der Rührung auspreßte. Im Nu war Ali Bu Bekr wieder zum Leben erwacht, Sa'ad versparte den Rest seiner Gebete auf eine passendere Gelegenheit, und ich war im Augenblicke voll und ganz zur Gegenwart zurückgekehrt. Der nicht aus dem Gleichgewicht zu bringende Bu Mohammed allein ließ sich zu keiner unwürdigen Lebhaftigkeit der Gefühlsäußerung hinreißen, sondern kramte aus unserem Proviantsäckchen ein Dutzend Zwiebäcke, brockte sie in unser Trinkgefäß und meinte, es sei zuträglicher, nach längerem Durste vor der Stillung desselben etwas feste Nahrung zu sich zu nehmen. Erst dann sogen wir uns voll des köstlichsten aller Getränke. Unter andern Verhältnissen wäre dasselbe freilich schwerlich von vielen angerührt worden, so schmutzig und voll fremder Bestandteile war es. Uns schien es ein Göttertrank, und unsere Lippen bebten keineswegs vor den verwesten Materien zurück. Nach dem ersten ausgiebigen Trunke hatte die Schleimhaut ihre normale Feuchtigkeit wieder erlangt, der heisere Choleraton der natürlichen Stimme Platz gemacht, und der lästige Harnzwang verschwand wie durch Zauberschlag. Mohammed schob zur Feier des Momentes eine ausgiebigere Prise Tabak in seinen Mund, biß ein entsprechendes Stück Natron mit seinem einsamen Eckzahne ab, und alles war Glück und Freude und Hoffnung.

Nachtigal, Gustav
Sahara und Sudan
1. Band, Berlin 1879

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