Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1894 - Pierre Loti
Vom Sinai zur Oase Wadi Al-Ain

Stundenlang in der Ebene, unter brennender Sonne und eisigem Winde geritten. Die Wüste, einförmig wie das Meer, ist ebenso abwechslungsreich wie dieses. Vorgestern sahen wir riesige Granitfelsen, gestern Sandflächen, und heute treten wir in das Gebiet der Mühlsteine ein, das uns neue Überraschungen, nie gesehene Anblicke bietet. Vor uns öffnet sich ein düsteres Labyrinth von Tälern aus gelblichen und weißen Steinen; ihre waagrecht übereinander geschichteten Felswände sehen täuschend wie von Menschenhand gebaute Mauern mit regelmäßigen Steinlagen aus. Es ist, als ob man mitten durch zerstörte Städte wanderte, durch Straßen käme - Straßen für Riesen -, zwischen Ruinen von Palästen und Festungen. Die aufgeschichteten Bauten werden immer höher, immer übermenschlicher; sie nehmen die Form von Tempeln, Pyramiden, Säulengängen oder großen, einsamen Türmen an. überall herrscht Tod - unumschränkter Tod mit seinen Schrecken, seinem Schweigen.
   Von Zeit zu Zeit singen unsere Kameltreiber. Ihr Gesang ist ein trauriger Schrei, der sich in absteigendem Tonfall hinzieht, um mit einer Klage zu enden.
   Plötzlich erscheinen dort oben Gazellen! Wie der Wind jagen sie auf dem Gipfel eines dieser phantastischen Wälle dahin, und sofort haben sie sich wieder in der blendend weißen Ferne verloren.
   Wir haben zur Stunde der Mittagsrast auf dem stark duftenden Sande geschlafen, den Kopf unter dem weißen Burnus versteckt. Beim Erwachen erfaßt uns eine bis zur Stunde noch nie gefühlte Bangigkeit vor der Wüste.
   Diese Angst nimmt im Laufe des Nachmittags noch zu, indes unsere Dromedare uns wiegend weitertragen und wir die gleichen, immer trostloseren Täler mit ihrer allzu düsteren, übermäßig großen Ruinenwelt durchziehen. Es ist etwas Unerklärliches, ein Heimweh vielleicht, eine Sehnsucht nach dem Frühling, der in anderen Gegenden grüne Blätter und Blumen hervorbringt und den wir hier versäumen. Hier ist nichts! Wahrlich, ein fluchbeladener Teil der Erde, der unerforscht bleiben möchte und wohin der Mensch nicht dringen sollte ...
   Unseren Beduinen preisgegeben, dringen wir dort ein - immer tiefer und tiefer ins Ungewisse, das stets düsterer wird, trotz der drückenden Sonne, und wo - ich weiß nicht welche - stumme, drohende Zerstörung brütet.
   Aber der Abend kommt wieder, der Abend mit seinem Blendwerk, und wir lassen uns wieder bezaubern.
   Um unser kleines vertrauensseliges Lager, um den ganzen öden Horizont herum, der jetzt nichts Drohendes für uns mehr hat, entzündet der dämmernde Himmel einen unvergleichlichen, rosafarbenen und orangegelben, dann ins Grün übergehenden Rand, der sich allmählich bis zum erlöschenden Zenit erhebt ...
Dann kommt die unbestimmte herrliche Stunde, die weder Tag noch Nacht ist, in der unsere duftenden Feuer hell zu glänzen beginnen und der weiße Rauch zu den ersten Sternen hinaufsteigt; die Stunde, zu der unsere von schwerer Last oder hohem Sattel befreiten Kamele wie große, phantastische, gutmütige und träge Schafe die schmächtigen Sträucher aufsuchen und die duftenden Ästchen abgrasen; die Stunde, zu der sich unsere Beduinen im Kreise ans Feuer setzen, singen und Geschichten erzählen; die Stunde der Ruhe und des Träumens, die entzückende Stunde des Nomadenlebens ...

Mittwoch, 7. März
Je mehr wir uns von der Hochebene der Sinaiwüste entfernen, um zum Golf von Akaba hinabzusteigen, desto heißer brennt die Sonne, desto lauer wird der Wind. Den ganzen Morgen ritten wir wie gestern unter titanischen Ruinen von Wällen, Tempeln und Palästen. Regen, Hitze und Bergstürze müssen hier tausend und aber tausend Jahre unendlich langsam gearbeitet haben, mit künstlerischer, symmetrischer Absicht, die härtesten Streifen bloßlegend, die weichen zerstörend, höhlend, meißelnd, zerbröckelnd, um dies schreckliche, übermenschliche Trugbild einer Stadt zu erschaffen, worin wir nun schon zwanzig Meilen zurücklegten, ohne das Ende zu sehen.
   Gegen Mittag färbt sich die Wüste, so weit das Auge reicht, überall schwärzlich; schwärzlich sind ihre Berge, schwärzlich der mit schwarzen Kieseln bestreute Sand; auch die blassesten Pflanzen sind verschwunden. Ringsum trostlose Einöde, der große Triumph des Todes. Darauf fällt eine drückende, trostlose Sonne, die nur zum Ausdörren und Töten geschaffen scheint. Nie noch haben wir ein so trauriges Bild gesehen; man erstickt inmitten dieser ausgebrannten, düsteren Massen, die alles Licht aufzusaugen und zu vernichten scheinen. Man ist hier wie in einer zerstörten, vom Feuer verzehrten Welt, die kein Tau mehr befruchten wird ...
   Am Abend jedoch kommen wir in das »Tal des Brunnens« (Wadi-el-Ain), wo wir unser Lager aufgeschlagen finden.
   Die erste Oase, seitdem wir durch die Wüste ziehen! Sie erscheint uns wie ein verzauberter Ort, als sie plötzlich wie eine verwandelte Dekoration zwischen zwei hohen Berglehnen vor uns steht. Sie liegt prachtvoll zwischen den Granitfelsen eingemauert, die hier wieder rot wie die vom Sinai sind, ja vielleicht noch röter. Im Hintergrund und in der Mitte erhebt sich wie ein Tempel oder eine indische Pagode eine seltsame geologische Laune: eine riesige regelrechte Pyramide, fast symmetrisch mit Türmchen zu beiden Seiten geziert. Der Fuß ist von so leuchtender Farbe, als wäre er mit Blut angestrichen, indes die Spitze, jedenfalls von besonderem Granit, heller wird und ins Schwefelgelbe übergeht.
   Von dem Dunkelrot der hohen Felsen heben sich Palmengruppen von übersättigtem, fast blauem Grün ab, teils als dichte Büschel auf der Erde, teils auf langen, sich neigenden Stämmchen. Daneben Tamarisken und Schilf und fließendes Wasser, das über die Steine plätschert! Unsere durstigen Kamele schreien nach dem frischen Naß, laufen hinzu und stecken gierig die heißen Köpfe hinein.
   Und wir sind nach all den düsteren Bildern plötzlich wie berauscht von der Pracht dieses verborgenen Edens; freudig lagern wir uns in den dreifachen Kreis blutroter Felsen, zwischen dem herrlichen Blaugrün.

Donnerstag, 8. März
Oh! dieses Wadi-el-Ain, dieses Tal des Brunnens! Mit welchen Worten, mit welch herrlich frischen Bildern aus den Dichtungen des alten Orients soll ich das im Granit der Wüste versteckte Eden beschreiben!
   Am Morgen, am strahlenden Morgen, streife ich aufs Geratewohl in der entzückenden Oase umher, wo unsere kleine weiße Zeltstadt für zwei bis drei Tage aufgeschlagen bleibt. In den tiefsten Höhlungen des Tales fließt klares, frisches Quellwasser in rosafarbenen, glattgeschliffenen Granitbecken, in denen ich weder eine Pflanze noch eine Alge entdecken kann; durchsichtig bis zum Grunde wie die künstlichen Behälter für die Waschungen der Sultanninen und Huris. Bald rauscht das seltene Wasser, das kostbare Wasser versteckt in den letzten rosigen Falten der Becken, bald über den Weg hin, wo es kleine sandige Tümpel bildet, an denen das Schilf, die Tamarisken und die Palmen mit ihren breiten blauen Blätterwedeln wachsen.
   Beim Vorübergehen bewundert man jeden dieser wildwachsenden Gärten. Plötzlich ist dieser paradiesische Winkel hinter ungeheueren Granitblöcken versteckt, und man sieht nur noch eine Zeitlang die geglätteten, das Wasser verbergenden Steine, bis an einer Biegung das Wunder von neuem beginnt und ein anderer zauberhafter Hain uns überrascht. Der Himmel ist natürlich kristallrein, wie der Himmel eines Eden sein soll; Vögel singen in den Palmen, Libellen schillern auf dem Schilfe, und Sonnenlichter huschen trotz der überhängenden Felsen hindurch und tanzen auf dem sprudelnden Wasser.

Loti, Pierre
Die Wüste
Dresden 1912

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!