Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1859 - Constantin Tischendorf
Die Entdeckung des Codex Sinaiticus
Katharinenkloster

Als ich im Mai des Jahres 1844, nach vierjährigen dokumentlichen Forschungen in europäischen Bibliotheken, zum ersten Male das St. Katharinenkloster besuchte, geschah es in der Hoffnung, innerhalb seiner alten Mauern, die seit ihrer Erbauung durch Justinian unzerstört geblieben, Schätze für die Bibelwissenschaft aufzuspüren. Diese Hoffnung blieb nicht unerfüllt. In der Mitte der Bibliothek, deren Bücher und Handschriften ringsum auf Regalen aufgestellt waren, stand ein Korb mit Resten von verschiedenen alten, teilweise verdorbenen Handschriften, dergleichen schon zwei Körbe voll als unbrauchbar ins Feuer geworfen worden waren. In diesem Korbe fand ich zur größten Überraschung mehrere Fragmente von einer griechischen Bibelhandschrift auf Pergament, in der ich sogleich eine der ältesten, die es gibt, erkennen mußte. Es gelang leicht, die Abtretung eines Teils derselben zu veranlassen; die anderen umfänglicheren Teile empfahl ich zu besserer Aufbewahrung, indem ich ihre Erwerbung, die zunächst nicht möglich war, späteren Schritten vorbehielt. Jenen geringeren Teil gab ich nach der Rückkehr in die Heimat, geschmückt mit dem Namen des Königs Friedrich August von Sachsen, des hohen Beschützers meiner Forschungen, als die mutmaßlich älteste aller auf unsere Zeit gekommenen griechischen Pergamenthandschriften, in lithographiertem Faksimile heraus. Da indessen meine Bemühungen um die im Kloster zurückgebliebenen Fragmente keinen Erfolg hatten, so gedachte ich sie im Kloster selbst aufs Genaueste abzuschreiben und aus der Abschrift herauszugeben, zu welchem Behufe ich 1853 eine zweite Reise in den Orient unternahm. Bei meinem zweiten Aufenthalt im Sinaikloster wurde mir aber wahrscheinlich, daß der Schatz inzwischen nach Europa gekommen sei. Bei dem gänzlichen Schweigen darüber schien es mir jedoch angemessen, dasjenige, was ich 1844 davon abgeschrieben und zehn Jahre lang als Geheimnis gehütet hatte, einem größeren, aus ähnlichen Funden hervorgegangenen Werk einzuverleiben. Ich deutete dabei auf meinen Anteil an der Erhaltung jener anderen kostbaren Überreste hin, wohin sie auch immer gekommen sein mochten.
   Trotzdem drängte es mich zu einer nochmaligen Reise nach dem Sinai; sie sollte den Anfang bilden von längeren Forschungen in den Ländern des Orients, die mir infolge gestellten Antrages von der kaiserlich-russischen Regierung übertragen worden waren. Die besondere Protektion Alexanders II. und ihrer Majestät der Kaiserin geleitete mich. Bei meinem dritten Aufenthalt im St. Katharinenkloster hatte ich bereits mehrere Tage dem Studium seiner Bibliotheken gewidmet. Nachdem ich am 3. Februar den Sinai bestiegen hatte, schickte ich in der Frühe des 4. einen Klosterdiener vom Stamme der Dschebelijeh ab, um meine in der Wüste bei ihren Kamelen weilenden Beduinen aufzusuchen und für den 7. behufs meiner Rückreise zu bestellen. Am Nachmittag des 4. hatte ich bei einem Ausflug über den Hutberg zu der Sebaijeh-Ebene den wohlunterrichteten lkonomos des Klosters zum Begleiter; da ich einige Exemplare meiner Leipziger Ausgaben vom griechischen Texte des Alten und Neuen Testaments dem Kloster zum Geschenke gemacht, so kamen wir auf diese Bücher und besonders auf den Text des Alten Testaments zu sprechen. Nach unserer Rückkehr ins Kloster, in der Abenddämmerung, bat mich der lkonom, in seiner Zelle eine Erquickung anzunehmen. Als wir damit beschäftigt waren, bemerkte er, auch er habe hier eine Septuaginta (so heißt der übliche griechische Text des Alten Testaments, so benannt nach den berühmten 70 Dolmetschern zu Alexandrien), und holte aus einer Ecke des Zimmers ein in ein rotes Tuch eingeschlagenes Manuskript herbei, das er vor mich auf den Tisch legte. Ich öffnete das Tuch, und sah zu meinem größten Erstaunen vor meinen Augen jene kostbaren Reliquien liegen, die ich im Jahre 1844 aus dem verhängnisvollen Korbe hervorgezogen. Der Umfang der Blätter, die vor mir lagen, - einen Einband hatten sie nicht - verriet sogleich, daß sie sich keineswegs auf jene alttestamentlichen Fragmente beschränkten. Ein flüchtiges Durchblättern vermehrte mein Erstaunen; denn ich bemerkte Anfang und Ende des Neuen Testaments, sogar den Brief des Barnabas. Mit dem lkonom standen noch andere Klosterbrüder um mich; sie waren Zeugen meines freudigen Staunens, doch konnten sie schwerlich begreifen, was hier vorging. Ich bat, das Tuch mit seinem ganzem Inhalt zu näherer Prüfung auf mein eigenes Zimmer tragen zu dürfen; der gütige lkonom, des Kyrillos geistlicher Sohn, wie er sich selbst nannte, gewährte es bereitwilligst.
   Als ich allein auf meinem Zimmer war, da erst gab ich mich dem überwältigenden Eindruck dieser Erfahrung hin; ich wußte es, der Herr hatte einen unvergleichlichen Schatz, eine Urkunde von der höchsten Wichtigkeit für Kirche und Wissenschaft, in meine Hände gelegt. Meine kühnsten Hoffnungen waren weit übertroffen. In der tiefsten Rührung über die wunderbare Fügung beschlich mich der Gedanke: Könnte hier, neben dem Barnabas, nicht auch der Hirte enthalten sein? Schon schämte ich mich des undankbaren Gedankens mitten in solcher Fülle, als mein Blick unwillkürlich auf einem ziemlich verblichenen Blatte vor mir haftete. Ich las die Aufschrift, und erschrak, denn ich las: der Hirte. Wie könnt' ich schildern, was ich dabei empfand.
   Ich übersah nun, was die sämtlichen Blätter, 346 an der Zahl und von größtem Formate, wirklich enthielten. Außer 22 Büchern des Alten Testaments, größtenteils vollständig und namentlich aus den Propheten, den poetischen Büchern und den sogenannten Apokryphen, war es das ganze Neue Testament, ohne die geringste Lücke; darüber noch der vollständige Brief des Barnabas und der erste Teil vom Hirten des Hermas. In der Unmöglichkeit zu schlafen setzte ich mich, trotz trüber Lampe und kühler Temperatur, sofort daran, den Barnabas abzuschreiben, schwelgend in der Vorfreude, mit dem ehrwürdigen Schriftstück die christliche Welt zu beschenken. Sein erster Teil war nämlich bis jetzt nur aus einer höchst mangelhaften lateinischen Übersetzung bekannt geworden, der andere nur aus einigen jungen, also wenig zuverlässigen griechischen Handschriften. Und doch hatte die Kirche des 2. und 3. Jahrhunderts gar sehr die Neigung, diesem Lehrschreiben, das allerdings eines Apostels Namen trug, gleichen Rang mit den Briefen der Apostel Paulus und Petrus anzuweisen. Außer dem Barnabas schrieb ich im Kloster selbst auch noch die Fragmente des Hirten ab, einer Schrift von gleichem Ansehen wie Barnabas, die im Originaltext für gänzlich verloren gegolten hatte, bis ihn 1855 der vielberufene Grieche Simonides, teils abschriftlich, teils in drei Papierblättern des 14. Jahrhunderts, vom Berg Athos nach Leipzig brachte. Aus mehreren Gründen hatte ich diesen an vielfacher Verderbnis leidenden Text für eine mittelalterliche Rückübersetzung aus dem Latein angesehen; der uralte Sinaitext überzeugte mich bald, daß diese Ansicht, wenigstens in Bezug auf das Ganze, eine irrtümliche gewesen.
Am nächsten Morgen, in der Frühe des 5. Februar, teilte ich dem Ikonomos meine Absichten auf das Manuskript mit. Bei der Scheu des Klosters, Handschriften zu veräußern, beschränkte ich meine Wünsche darauf, den gesamten Text von Anfang bis zu Ende aufs Genaueste abzuschreiben. Er umfaßt gegen 120.000 kurze Zeilen, deren Niederschrift im 4. Jahrhundert, wenn sie auch durch die gewandte Hand alexandrinischer Schönschreiber geschah, mehr als Jahresfrist gekostet haben mag. Im Kloster selbst diese Arbeit unverweilt auszuführen, dazu fehlte es an jeglicher Vorbereitung. Andererseits beanstandete die sofortige Mitgabe des Originals, in Widerspruch mit den übrigen Brüdern, der hochbetagte Skevophylax, aus dessen Bibliothek - es ist jene mit den erzbischöflichen Hinterlassenschaften und dem Kirchengerät - die Handschrift in die Zelle des lkonom gekommen war. Infolge der tags nach meiner Ankunft im Kloster eingetroffenen Nachricht vom Ableben des hundertjährigen Erzbischofs Constantinos zu Konstantinopel war der Prior, dessen Verfügung entscheidend gewesen wäre, den 3. Februar nach Kairo abgereist, um mit den übrigen Vorständen der Sinaitischen Brüderschaft von dort nach Konstantinopel zur Wahl eines neuen Erzbischofs zu gehen. Unter diesen Umständen blieb mir nichts übrig, als gleichfalls nach Kairo zu eilen, um die Klostervorstände womöglich noch vor ihrer Abreise anzutreffen und von der Sache zu unterrichten. Für den Fall, daß die Sendung des Originals nach Kairo untunlich sein würde, behielt ich mir die schleunige Rückkehr ins Kloster zu einem Aufenthalt von einigen Monaten vor.
   Am 7. Februar lagerte in der Tat, der früheren Bestellung gemäß, Scheich Nazar samt Leuten und Kamelen wieder unter den Klostermauern, zur neuen Führung bereit. Die heftigen Winde, welche in den vorhergehenden Tagen und Nächten die Berge und selbst das Kloster durchbraust hatten, schwiegen an diesem Morgen; der wolkenlose blaue Himmel verhieß eine glückliche Reise. Die hoch über dem Kloster aufgezogene russische Flagge ehrte meinen Abschied. Die zu demselben Zwecke vom platten Klosterdache aus gelösten Salutschüsse fanden in den Bergen ein vielstimmiges Echo. Mehrere der Klosterbrüder, unter ihnen der gelehrte Kyrillos und der lkonom, ließen es sich nicht nehmen, in Person bis in die Ebene Rahah dem Scheidenden das Geleit zu geben. Und so trennte ich mich voll Rührung und Dankbarkeit zum dritten Male vom Sinai und seinem Kloster …
   Vom 7. bis 12. Februar, von Montag bis Sonnabend, gelang es, den Wüstenweg vom Kloster bis nach Suez zurückzulegen. Vom Wadi Saddr hatte ich einen meiner Leute vorausgeschickt, um zur Überfahrt übers Meer eine Barke vom afrikanischen ans asiatische Ufer zu bestellen. Kurz vor unserer Ankunft war sie eingetroffen; nachmittags um zwei Uhr brachte sie uns nach Suez. Da die sofortige Abreise nach Kairo auf der Eisenbahn untunlich war, so genoß ich bis Sonntag nachmittag die Gastlichkeit des so dienstfertigen russischen Konsuls. Aber erst gegen Mitternacht hatte uns die Lokomotive die ägyptische Wüste hinübergebraust.
   Montag früh besuchte ich das Mutterkloster der Sinaiten. Zu meiner nicht geringen Freude traf ich die Prioren noch an; in voller Bereitschaft zur Abreise hatten sie von den Brüdern zu Konstantinopel die Meldung erhalten, daß der Wunsch obwalte, die Wahl in Kairo zu vollziehen. Ich trug mein Anliegen vor. Wir werden's überlegen, lautete die Antwort. Aber nach Lesung der Briefschaften, die Kyrillos und der lkonom mitgeschickt hatten, erfolgte die Zusage unverweilter Absendung eines ihrer zuverlässigen Scheichs zu Dromedar, um durch ihn so schnell als möglich die Handschrift herbeiholen zu lassen. Beflügelt durch das Versprechen eines guten Bakschisch, verließ der Scheich am Abend desselben Tages die Mauern der Stadt.
   Was dieser wahre Eilbote in Aussicht gestellt hatte, das erfüllte er pünktlich, so unglaublich es scheint: innerhalb neun Tagen durchflog er zweimal die Ägyptische und die Arabische Wüste, so daß er am 23. Februar mit dem ihm anvertrauten Kleinode in Kairo zurück war. In der Frühe des 24. erschien der Prior nebst seinem Vikar auf dem russischen Generalkonsulat, da er mich in meiner Wohnung nicht angetroffen hatte, um mir das Frachtstück der Dromedarpost vorzulegen. Wir trafen die Übereinkunft, daß ich sogleich mehrere Hefte zu acht Blättern - in dergleichen, genannt Quaternionen, war die alte Handschrift gleich ursprünglich abgeteilt - entnehmen und so nach und nach das ganze Manuskript behufs genauer Kopie in meine Hände erhalten sollte.
   Zwei Monate saß ich im Hotel des Pyramides, durch die Fenster in fortwährendem Verkehr mit allem, was von der Esbekija in die bunte lebensvolle Stadt sich bewegte, in Person gefesselt an die große Arbeit. Zur leichteren Bewältigung des materiellen Teils derselben gewann ich zwei deutsche Landsleute, einen Arzt und einen Apotheker, die unter meinen Augen schrieben; die Verantwortlichkeit treuer Abschrift freilich war nicht übertragbar; sie knüpfte sich ausschließlich an meine eigene strenge Revision. Abgesehen von den zahlreichen im Laufe so vieler Jahrhunderte sehr verblichenen Seiten ergab sich dabei bald als schwierigste Aufgabe die Bearbeitung aller derjenigen Stellen, die im ursprünglichen Text von alten Korrektoren geändert worden sind. Diese Stellen sind so massenhaft, daß ihre Zahl auf manchem der 346 Blätter mehr als hundert beträgt. Zugleich führt die Verschiedenheit der Schriftzüge in diesen späteren, aber doch sämtlich über ein Jahrtausend alten Zutaten auf die Unterscheidung von wenigstens sechs Korrektoren, von denen nicht selten einer den anderen wieder in seinem Sinne verbessert hat.
   Die Hälfte der Abschrift war kaum vollendet, als auf eine flüchtige Bekanntschaft meinerseits ein zu Kairo mit Konsulargeschäften betrauter deutscher Kaufmann einem jungen englischen Gelehrten ins Kloster führte, um ihm die Einsicht in das seltene Schriftwerk zu verschaffen. Als ich kurz darauf ebendahin kam, wurde mir berichtet, daß man den Schatz feil zu machen gesucht, ja sogar ein Gebot getan habe. Ich war nicht verlegen, auf diese Mitteilung zu antworten; der edle Prior aber selbst äußerte, das Kloster würde eher dem Kaiser Alexander, dem Hort und Schutz der rechtgläubigen Kirche, sein Bibelbuch zum Geschenk machen, als es um englisches Gold zu veräußern. Es versteht sich, daß ich diese Gesinnung nach Kräften zu nähren suchte. Ich behalte mir vor, darauf zurückzukommen. Die so unerwartet hervorgetretene Teilnahme an meinem Funde veranlaßte mich aber, nicht länger mit der ersten öffentlichen Mitteilung darüber anzustehen. (Sie geschah in einem Briefe an den Staatsminister v. Falkenstein, datiert Kairo den 15. März, und wurde zuerst abgedruckt in Nr. 31 der wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung vom Jahre 1859.)
   Was ist es aber denn, was dieser Angelegenheit, was dieser Handschrift solch außerordentliche Bedeutung gibt? Mit dieser Frage möchte leicht der eine und der andere meiner freundlichen Leser diese ausführlichen Mitteilungen über Auffindung und Bearbeitung derselben unterbrechen. Machte doch selbst ein griechischer Patriarch, als ihm 1844 die Wichtigkeit meiner Forschungen gerühmt wurde, die zwischen Ironie und Naivität schwankende Bemerkung: wir haben ja längst die Evangelien und die Apostelschriften - was brauchen wir noch? Diese unsere heiligen Schriften haben wir allerdings schon längst; sie sind uns dadurch erhalten worden, daß ihr Text vom ersten Jahrhundert an fort und fort abgeschrieben wurde. Indem aber Abschrift auf Abschrift gefertigt wurde, lief der Text begreiflicherweise Gefahr, in manchen Stücken seiner ursprünglichen Gestalt entfremdet zu werden. Teils konnte dies durch Fahrlässigkeit, Mißverständnis und Unwissenheit beim Abschreiben geschehen, um so mehr, als die alte Schrift Buchstabe an Buchstabe reiht, ohne Worttrennung und ohne Interpunktion; teils durch unberufenen Eifer in Verbesserungen des Ausdrucks, in Vervollständigung der Erzählungen, in Angleichung vermeintlicher Verschiedenheiten. Und daß dies keine bloßen Möglichkeiten, keine leeren Besorgnisse geblieben, das lehrt uns der geschichtliche Tatbestand. Denn da die Bibliotheken der christlichen Welt gegen tausend Urkunden von mehr von mehr oder weniger Büchern des griechischen Neuen Testaments, um uns auf das letztere zunächst zu beschränken, noch heutzutage besitzen, desgleichen eine beträchtliche Anzahl Handschriften von den alten Übersetzungen, wie der syrischen, der koptischen, der lateinischen, der gothischen, so hat sich daraus eine so große Mannigfaltigkeit der Textgestalt ergeben, daß nur eine geringe Minderzahl von Versen in völliger Übereinstimmung vorliegt, mancher Vers aber wohl zehn und noch mehr sogenannte Varianten darbietet, wenn sie auch weit mehr sprachlicher als sachlicher Art sind. Die seit dem 16. Jahrhundert an die Stelle der Abschritten getretene Vervielfältigung durch die Presse hat insofern den Zustand nicht geändert, als sich der Druck bald an einzelne, bald an mehrere Handschriften anschloß, und zwar öfters unter der Leitung von Männern, die wenig zur Förderung der Sache befähigt waren, niemals aber unter der Gunst einer entscheidenden Autorität. Nachdem man im 16. und den nächstfolgenden Jahrhunderten, mehr aus Unkenntnis als aus Überzeugung, denjenigen Text bevorzugt hatte, der sich in der Mehrzahl der neueren, allmählich zu größerer Gleichförmigkeit gelangten Handschriften vorfindet, hat die jüngste Zeit den Vorrang der älteren Urkunden anerkannt, und in den letzten Jahrzehnten begann die Verbreitung des Textes, den sie enthalten. Der Verfasser dieser Reiseskizzen selbst hat seit dem Jahre 1839 in diesem Sinne gewirkt; durch sieben aufeinanderfolgende Ausarbeitungen hat er mit fast zwanzigtausend Exemplaren des griechischen Neuen Testaments, ausgestattet mit mehr oder weniger ausführlichen kritischen Noten, seinen Grundsätzen Billigung zu gewinnen versucht. Es leitete ihn dabei die Überzeugung, daß bei dem heiligsten und einflußreichsten Buch der Welt, demjenigen, worin die Christenheit die höchste Norm ihres Glaubens und Lebens besitzt, nichts, auch nicht sprachliche Formen und Wendungen, gleichgültig oder ernsteren Studiums unwert sei. Das Ziel, das es bei dem textkritischen Geschäft gilt, kann offenbar kein anderes sein als das, den Text der Schrift von allen Entstellungen und Zutaten zu reinigen und zu derjenigen Gestalt, in der derselbe aus den Händen der heiligen Autoren kam, so viel als möglich zurückzuführen. Als hauptsächliche Leiter dabei sind drei Handschriften, mutmaßlich vom vierten und fünften Jahrhundert, anerkannt worden: die berühmte Vatikanische, eine Londoner, genannt die Alexandrinische, und eine Pariser, die als Palimpsest Ephräm des Syrers bekannt geworden. (Palimpsest ist eine Handschrift, deren ursprünglicher Text auf dem Pergament mittels Abwaschens, Abschabens und dergleichen Vertilgung durch einen anderen auf der neugeglätteten Fläche ersetzt worden ist. Die Pariser Handschrift wurde im 5. Jahrhundert mit dem biblischen Text beschrieben. Im 12. Jahrhundert traten an dessen Stelle Werke Ehräm des Syrers. 1840 und 1841 entzifferte ich den alten, im 12. Jahrhundert verwischten Text, mit Ausnahme sehr weniger Stellen, nachdem er acht Jahre früher durch chemische Mittel aufgefrischt worden war. Bei vielen anderen Palimpsesten erreichte ich dasselbe Ziel ohne chemische Beihilfe.)
   Aber keine dieser drei Handschriften ist vollständig: Die Pariser enthält nur die größere Hälfte des Neuen Testaments; der Londoner fehlt fast das ganze erste Evangelium mit zwei Kapiteln des vierten, sowie größtenteils der 2. Brief Pauli an die Corinther; und von der Vatikanischen, der ältesten und wichtigsten, sind vier ganze Briefe, nebst den letzten Kapiteln des Hebräerbriefs und die Apokalypse, verloren gegangen.
   Da erfolgt nun nach wunderbarer Fügung die Entdeckung einer Handschrift, die nicht nur wenigstens von gleichem Alter mit der ältesten, der Vatikanischen, ist, sondern auch die einzige vollständige unter den genannten Dreien sowohl als unter allen, die wir noch außerdem von tausendjährigem Alter besitzen. Dem Texte nach berührt sie sich gleichfalls am nächsten mit der Vatikanischen; oft aber auch hat sie im Widerspruch mit ihr und mit den meisten oder allen anderen solche Lesarten getreu aufbewahrt, die uns aus dem höchsten Altertum durch Zeugnisse der Kirchenväter oder der frühesten Übersetzer verbürgt sind. Welche Autorität sich hieraus für den ganzen Text derselben ergibt, ist klar. Obschon er keineswegs von Fehlern der Abschreiber frei ist, noch auch von solchen, die aus der unkritischen Behandlung der Schrift in den ersten Jahrhunderten herflossen, so eignet er sich doch einzig, unter Hinzuziehung der ihm nächstverwandten Urkunden, zur bestbeglaubigten Grundlage für alle wissenschaftlichen Forschungen über den heiligen Text. Den durch die neuesten Forschungen in den Vordergrund getretenen Grundsätzen gewährt sie die bedeutsamste Stütze; an Tausenden von Stellen wird sie denjenigen Lesarten, die bereits auf die wenigen ältesten Zeugen hin neuerdings aufgenommen worden sind, dauernde Sicherheit verleihen; an vielen anderen wird erst durch sie die richtige Lesart zur Geltung gelangen. Daß trotzdem kein Lehrsatz der evangelischen Wahrheit oder des seligmachenden Glaubens eine Beeinträchtigung erfährt, wenn auch immer manche wichtige Stelle von den Verschiedenheiten betroffen wird, das zählt für alle, die neben dem frommen Glauben der Väter auch das prüfende Auge ernster Forschung für berechtigt halten, nicht zu den gleichgültigsten Resultaten der Auffindung einer so gewaltigen Waffe der kritischen Wissenschaft.
   So viel vom Neuen Testament. Dem sei nur noch beigefügt, daß es sich ähnlich mit dem kritischen Bestand des griechischen Textes des Alten Testaments verhält, dessen hohe christliche Bedeutung vor allem in dem Gebrauche liegt, den die evangelischen und apostolischen Autoren davon gemacht haben.
   Vom Barnabasbrief und den Hermansfragmenten, die allein hingereicht hätten, die Sinaitische Handschrift unvergänglich teuer zu machen, ist schon oben gesprochen worden.
Von der Bedeutung der Sinaitischen Handschrift auch außer ihrer Beziehung auf die Herstellung des wahren Schrifttextes ein einziges Beispiel. Bekanntlich herrschen über das Alter unserer Evangelien und das ihrer kirchlichen Anerkennung verschiedene Ansichten; vorzugsweise macht man es von den ältesten christlichen Schriften abhängig, worin sich ein aus den Evangelien entnommenes Zeugnis findet. In demjenigen Teil vom Briefe des Barnabas, der bis jetzt nur lateinisch vorhanden war, erregte schon längst die Stelle: «Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt» besondere Aufmerksamkeit. Auch bei Verwerfung der Abfassung des Briefs durch Barnabas den Apostel erschien sie als das früheste Zeugnis für das erste Evangelium, obgleich sich nicht leugnen ließ, daß ein solcher Ausspruch des Herrn recht gut auch aus mündlicher Überlieferung geflossen sein konnte. Diese Annahme wurde freilich dadurch beeinträchtigt, daß dem Spruch die Worte voranstehen: »wie geschrieben stehet«; allein diese Worte setzte man mit großer Wahrscheinlichkeit auf ausschließliche Rechnung des Übersetzers. Wie konnte denn auch schon im ersten Viertel des 4. Jahrhunderts, in welchem der Brief geschrieben sein muß, eine Stelle des Matthäus mit derselben Formel angeführt werden, die in des Heilands und der Apostel Munde nur dem alten Offenbarungskanon zukam. Dennoch bringt nun die Sinaitische Handschrift die Entscheidung, daß die beanstandeten lateinischen Worte in der Tat vom Verfasser der Schrift selbst, nicht vom späteren Übersetzer stammen. Und hiermit ist auf unvergleichliche Weise dargetan, daß schon im ersten Viertel des zweiten Jahrhunderts, wider alles Erwarten negativer Forscher, unser Matthäus-Evangelium nicht etwa nur vorhanden und bekannt war, sondern in der Kirche für kanonisch galt.

Tischendorf, Constantin
Aus dem Heiligen Lande
Leipzig 1862

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Ägypten 2200 v. Chr. – 2000 n. Chr.
Wien 2001

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