Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1894 - Karl Dove
Im Ägyptischen Museum (altes Museum) oder:
Von der Totenruhe

Wer aber das Volk der Ägypter so recht von Grund auf kennenlernen will, der wandere über die große Nilbrücke bis zu jener Stelle, an der sich inmitten eines schönen Parks der Palast von Giseh erhebt. Nicht die heutigen Bewohner des Landes sind es, die er dort findet, wohl aber die verstorbenen und dazu all die unzähligen Dinge, welche von dem Leben des uralten Reiches unzertrennlich waren. In Tausenden von Stücken sind in den Schränken die Kostbarkeiten gespeichert, die den Gräbern der Könige, der Priester und hoher Staatsmänner entstammen. Sehr groß und von ungeheurem Wert ist ferner die Zahl der Statuen und Denkmäler, welche namentlich die weiten Räume des Erdgeschosses füllen. An ihnen erkennen wir auch, daß die Mehrzahl der heutigen Ägypter unverfälschte Nachkommen des Volkes der Pharaonen sind, und ganz besonders tritt die Verwandtschaft zwischen den beiden durch die berühmt gewordene Holzstatue des sogenannten Dorfschulzen hervor. Als man sie fand, riefen die herbeigeeilten Fellachen wie aus einem Munde: "Das ist ja der Scheich el-beled, der Schulze!" Diese Ähnlichkeit mit dem dörflichen Machthaber einer nahe beim Fundort gelegenen Ortschaft verdankt sie ihre heutige Bezeichnung. [Es handelt sich um die Statue des Priesters Ka.aper, um 2.500 v. Chr., Fundnummer 140 des Ägyptischen Museums, auch heute noch als "Dorfschulze" bekannt.]
   Es würde selbst für den Kenner eine schwierige Aufgabe bedeuten, auch nur die Hauptnummern der außerordentlich reichhaltigen Sammlung zu schildern. Was uns anlangt, so konnten wir zwar auf die Bezeichnung als solcher nicht den geringsten Anspruch erheben, doch die Fülle des in Giseh Gebotenen, die alles bisher von uns Geschaute übertraf, war Anlaß genug zu einem wiederholten, langdauernden Besuch dieses in das großartigste Museum verwandelten Schlosses. Wir trafen es beide Male gut. Es waren zufällig die Tage, an denen Eintrittsgeld nicht erhoben wurde, und zu unserem Erstaunen war die Zahl der einheimischen Besucher, sowohl Araber wie Fellachen, sehr groß. Ja, unter den Hunderten von Schaulustigen, denen wir in den Sälen und auf den Treppen begegneten, befanden sich sogar sehr viele Damen, und unter diesen wieder einige von älteren, watschelnden Ehrendamen geführte Gruppen junger Mädchen, deren summendes Geschwätz und lebhaftes Gekicher und deren eifriges Kokettieren mit den lustig unter dem Schleier hervorlugenden Augen fast den Eindruck eines ins Orientalische übersetzten Pensionats hervorrief. Wir vermochten auf diese Weise die Gesichtszüge der Lebenden unmittelbar mit den steinernen und hölzernen Bildern ihrer Stammväter zu vergleichen.
   Auch die Toten findet man hier, denn lange Reihen von Schränken sind mit den Mumien angefüllt, die man den Gräbern der Vornehmen und Großen entnommen hat. In einem runden Saal auf der Höhe des Palastes hat man diejenigen der Könige selbst in gläsernen Särgen aufgebahrt, und wir schauen in das Antlitz mancher Persönlichkeit, von deren Taten und Schicksalen die bedeutendsten Urkunden des Altertums berichten. Wir blicken in das wohlerhaltene Antlitz des Pharao Seti, welcher Moses erziehen ließ, und wir schauen in die erloschenen Züge des großen Ramses, den die Griechen unter dem Namen Sesostris kannten. Was für Gedanken mögen es gewesen sein, die hinter dieser Stirn wohnten, und deren manche der große Fürst in die Tat umsetzte, von denen die Geschichte noch jetzt berichtet? Wo waren die Völker, welche heute die Erde beherrschen, als dieser Mann, dessen fast unveränderte Leiche vor uns liegt, sein Volk regierte, dessen hohe Kultur damals, vor zweiunddreißig Jahrhunderten, bereits ein Alter von mehreren tausend Jahren besaß? Schier unheimlich aber wird uns zu Mute, wenn wir vernehmen, daß die älteste in Giseh aufbewahrte Königsmumie einem schon vor fünf Jahrtausenden verstorbenen Herrscher angehört. Wo werden die sterblichen Überreste der Großen unserer Tage in einer Zukunft sein, deren dämmernden Ferne ebenso weit vor uns liegt, wie diese graue Vergangenheit hinter uns? Ihr Los wird vermutlich ein besseres sein als das dieser Königsleichen. Sie werden zerfallen und im Winde verwehen, und von den größten unter ihnen werden Geschichte und Sage in jenen fernen Zeiten berichten können, ohne daß die Blicke Neugieriger sich auf ihre schmachvoll dem Grabe entrissenen und einer katalogisierten Sammlung einverleibten Leichname richten. Erscheint es uns hier beinahe als ein tröstlicher Gedanke, zu wissen, daß die Körper unserer Heroen als das Nebensächliche an ihnen verschwinden werden und niemals in dieser Weise entweiht werden können, so erweckt die an das Wunderbare grenzende Geschicklichkeit der alten Ägypter in der Erhaltung ihrer Toten doch unsere ungeteilte Bewunderung. Wie dies Volk sein ganzes Denken und Sein auf das Leben nach dem Tode richtete, das erkennen wir noch heute an den Riesengräbern und der Sorgfalt, mit der es seine Leichen vor dem Verfall zu bewahren verstand.
   
Dove, Karl
Vom Kap zum Nil
2. Auflage Berlin 1898

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