Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Um 1907 - Fritz Kummer
Gewimmel in Kairo und bei den Pyramiden

Von Port Said ist die Hauptstadt Ägyptens auf einer vorzüglichen Bahn in weniger als 4 Stunden zu erreichen. Sie zieht sich dicht neben dem Suezkanal hin, biegt dann bei Ismailia in westlicher Richtung ab. So neuzeitlich wie die Bahn, ist auch der Kairoer Bahnhof. Die Züge enden in einer mächtigen Bogenhalle. Eingekeilt in einen Klumpen Menschheit, strebte ich dem Ausgang zu. Vor mir lag ein ausgedehnter Platz, wie er nicht schöner in einer europäischen Großstadt anzutreffen ist. Der erste Eindruck ließ fühlen, daß Kairo nicht umsonst das "afrikanische Paris" genannt wird. Es zieht die Parasiten der kapitalistischen Gesellschaft, die mit Gold behängten wie die in Lumpen gehüllten, gleich stark an. Für die einen sind bayrische Bierhallen, französische Kaffeehäuser, prunkende Hotels und Freudenhäuser in schwerer Menge da; für die andern gibt es Wohltätigkeitsvereine sowie Verzapfstellen für Bibelsprüche mit Krumen vom Tische der reichen Fremden.
   Die Straßen waren belebt wie die Pariser Boulevards an warmen Sonntagnachmittagen, obwohl es noch wochenlang dauerte, bis der große Fremdenstrom einsetzte. Feiertagstimmung allenthalben. Die hohe Gesellschaft saß oben auf den Veranden der großen Karawansereien bei Wein und Schokolade, das gewöhnliche Volk unten am Straßenrand bei Bier und Kaffee. Den Fahrdamm füllte das buntscheckigste Gewimmel, das ich je gesehen hatte. Araber, Türken, Beduinen, Juden, Europäer und viel leichtgeschürzte Dämchen, dann Händler, Gaukler und Tagediebe wälzten sich bei lauter Unterhaltung auf und nieder. Kairos Straßenleben ist gewiß furchtbar lärmend, aber fesselnd und lehrreich auch. Ganze Tage und halbe Nächte habe ich bei einem Töpfchen Mokka dem Getriebe zugeschaut. Freilich, an eine ungestörte Betrachtung war nicht zu denken. Der auf dem Fußsteig sitzende Efendi ist ja gerade das, wonach das hökernde Volk eifrig sucht. Der Schmuckwarenhändler hängt einem ein Kettchen um den Hals, im selben Augenblick krabbelt unten an den Füßen ein Stiefelwichser, und gleichzeitig fühlt man sich rechts und links, hinten und vorn gezupft und angejammert. Man hat ständig mit Händen und Füßen kräftig abzuwehren, will man den Geldbeutel nicht verpflichten.
   Noch anziehender als das Leben des europäischen Viertels ist das der arabischen Stadt. Zwischen den vor langer Zeit einmal getünchten Häuserreihen kann man tagelang einherwandeln, ohne des Schauens müde zu werden. In den Kaffeehäusern wird guter Mokka für wenig Geld ausgeschenkt, in den Basaren sind echt arabische Schmucksachen spottbillig zu haben, die aber bei Wertheim in Berlin oder im Pariser Louvre schon zum halben Preise feilgehalten werden.
   Das Zurechtfinden in der arabischen Stadt ist schwer, das Herausfinden schier unmöglich. Als Retter in der Not erweisen sich die englischen Soldaten, wovon stets genug in dem Labyrinth herumstrolchen. Sie zeigten sich immer gerne bereit, mich, ihren "American cousin", nach einer Bierschankstelle in der europäischen Stadt zu begleiten, wo ich ihnen einen "drink" spenden wollte. Die ungeschlachten Söldner waren freundlich genug, mich in die Zitadelle einzuladen, damit sie Gleiches mit Gleichem vergelten könnten. Ich bin dann wohl hinauf in die achthundert Jahre alte Festung gewandert, habe von dort oben die herrliche Aussicht auf Stadt, Niltal und Wüste genossen wie auch die unvergleichliche Alabastermoschee bewundert, bin aber wieder nach Kairo hinabgestiegen, ohne in die Kaserne einzukehren.
   Für die dunkelhäutigen Proletarier ist jeder Weiße ein Krösus, weil er ihnen Arbeitsgelegenheit und nach ihrem Begriff guten Verdienst bringt. Sie lauern zu Dutzenden vor den europäischen Hotels auf eine Gelegenheit zum Geldverdienen. Zu welcher Tages- oder Nachtzeit man auch im Hotel ein- und ausgeht, immer wird man von einer Schar arbeitswilliger Eingeborener begrüßt. Sie harren Tag und Nacht auf ihrem Posten aus. Ist ein Opfer nicht zu erwarten, strecken sie sich auf den Fußsteig zum Schlummer nieder. Bereit sein ist alles!  Daß ihre weißen Schicksalsgenossen nicht weniger eifrig aufs Geldmachen aus sind, sollte ich bald erfahren.
   Weißen Arbeitern bietet Kairo herzlich wenig Erwerbsmöglichkeit. Schicksal oder Abenteuerlust trägt ihrer stets mehr ins "afrikanische Paris", als Arbeitsplätze vorhanden sind. In den Monaten des Fremdenandranges vermögen sie sich schließlich noch durchzuschlagen, sonst aber langt es nicht zur Befriedigung des Allernotwendigsten. Mit den eingeborenen Arbeitern kann der weiße nicht in Wettbewerb treten, denn sie zu unterbieten ist unmöglich. Die Hilfsvereine verschließen ihm bald die Tür, und freigebige Landsleute kommen in der heißen Jahreszeit wenig. Ein Teil der weißen Proletarier vertreibt sich die Langweile mit einem Ausflug ins Niltal, der andere mit dem Erdichten von Elendsgeschichten, womit dann eintreffenden Landsleuten die mildtätige Hand zu öffnen versucht wird. Auch an mir wurde der Versuch gemacht:
   Eines Nachmittags meldet der Hoteldiener, ein Herr wünsche mich zu sprechen. Das mußte auf jeden Fall ein Irrtum sein, denn in ganz Ägypten wußte ich keine bekannte Seele. Immerhin, ich stieg hinunter. In der Eintrittshalle wartete ein fünfundzwanzigjähriger, in einem abgeschabten Gehrock hängender Mann. Er redete mich deutsch bei meinem Namen an. Woher kannte mich der mir wildfremde Gast? Ohne Zögern erzählte er in flottem Zug eine steinerweichende Geschichte.  Als sie in eine Bitte um Unterstützung auszulaufen drohte, unterbrach ich den lieben Landsmann: »Ah, Sie sind arbeitsloser Buchhalter? Ich bin arbeitsloser Schlossergeselle. Kein Kunde!« Auf diesen Einwurf wurde des Landsmannes Gesicht beängstigend lang. Er schwieg, um seinen ausgegangenen Luftvorrat zu ergänzen. Damit er seine Verlegenheit leichter überwinden konnte, lud ich ihn zu einer Tasse Tee ein. Als sich die Zeichen von der Wiedererlangung seiner gewöhnlichen Verfassung mehrten, hub ich an: »Mensch, wie haben Sie eigentlich meinen Namen erfahren?« - »Na, aus der Fremdenliste. « Jetzt in der heißen Jahreszeit, wo die »duften Winde« rar seien, müsse alles mitgenommen werden. Er ersuchte mich, in die Herberge zu kommen, allwo ich noch mehr deutsche Kunden treffen könne; da sie nichts zu tun hätten, würden sie mich gerne in Kairo und zu den Pyramiden führen.
   Zu den Pyramiden bin ich nun zwar anderntags gegangen, aber allein. Die Absicht, ohne Führer die Pyramiden besuchen zu wollen, erregte bei den Hotelgästen Kopfschütteln. Das sei gänzlich unmöglich; ein Europäer ohne Führer werde von den Eingeborenen derart belästigt, daß er gerne wieder umkehre. Daß sie recht hatten, wurde ich bald inne.
   Von Kairo erreicht man die Pyramiden für ein paar Piaster mit einer elektrischen Straßenbahn. Der Weg geht durch den neuen Stadtteil, dann über einen Arm des Nil und schließlich auf einer breiten, von schattigen Bäumen eingefaßten Straße quer durch das Niltal. Das dunkle Grün der Niederung endet an einer höherliegenden sandgrauen Fläche, an der Wüste. Einige hundert Meter wüsteneinwärts erheben sich die spitzen Kegel der Pyramiden.
   Beim Verlassen der Straßenbahn stürmte eine Horde Eingeborener auf mich ein. »Führer, Herr! Führer, Herr!« kam es aus hundert Mäulern zugleich. Im Nu hatte sich um mich ein fester Ring von Menschenleibern gebildet, der nicht wich noch wankte. Er wurde von Sekunde zu Sekunde noch verstärkt durch herbeigezogene Kamele und Esel. Ob ich den Kerlen freundlich zuredete oder sie anschrie, sie antworteten einstimmig: »Führer, Herr!« In meiner Not blickte ich nach einem Retter aus. Kein Weißer war zu sehen. Drüben am Straßenrand fläzte an einem Baum ein dunkelhäutiger Polizist, der mich aufreizend ruhig angrinste. Da er keine Miene machte, mir beizuspringen, schrie ich ihm zu, er möge mir schleunigst die Kerle vom Halse schaffen. Nach einigem Zögern setzte er seine Gehstecken in Bewegung. Bald knackte er kräftig auf die Schädel meiner Belästiger. Das gab mir Mut. Auch ich begann Fäuste und Beine tüchtig zu gebrauchen. Durch die gemeinschaftliche Anstrengung konnte nun zwar der Ring nicht geöffnet, immerhin aber langsam vorwärts getrieben werden. Unter Stößen und Tritten und Flüchen bahnte ich den Weg zur Bude eines Kairoer Photographen, wo mich dessen arabisch und französisch sprechender Gehilfe erwartete. Der Lärm hatte ihn schon aus der Dunkelkammer gelockt. Er kam auch gleich herbeigesaust und half mit Fäusten und Zunge, die Kerle zu vertreiben. Er meinte, es sei entschieden besser, einen Esel- oder Kameltreiber anzuheuern, ansonsten an eine ungestörte Besichtigung der Pyramiden nicht zu denken sei, vom Photographieren ganz zu schweigen. Die Amerikaner und Engländer hätten mit ihren Geldstücken die Eingeborenen gänzlich verdorben; und wenn man sie halbtot schlüge, so ließen sie einen führerlosen Weißen nicht allein. Der Rat wurde auf der Stelle befolgt. Eine halbe Minute später schaukelte ich hoch oben auf dem Buckel eines Kamels, der Photograph ritt auf einem Langohr, einem Knappen gleich, nebenher. Als die Horde den Efendi versorgt sah, zog sie sich zurück bis auf zwei, die von der Hoffnung auf Backschisch noch lange neben uns hergetrieben wurden.
   Wir betraten das Totenfeld der alten Ägypter. Vor uns ragte das mächtigste Grabdenkmal aller Zeiten, die 140 Meter hohe Cheopspyramide, himmelwärts. Hinter ihr liegt die etwas niedrigere Chefrenpyramide. Rings um diese Steinriesen liegt noch eine Anzahl viel kleinerer Grabdenkmäler gleicher Art. Die Cheopspyramide kam mir noch größer, noch eindrucksvoller vor, als die Abbildungen erwarten ließen. Einst soll sie außen nicht treppenartig, sondern eben gewesen sein. Ihre glatte Marmordecke sei für den Bau der Alabastermoschee verwendet worden. Wie die Kunde geht, hat ein Hunderttausend Sklaven 20 Jahre an der Aufrichtung dieses klobigen Steinhaufens gearbeitet. Welch wahnsinnige Vergeudung menschlicher Arbeitskraft!
   Hinter der Cheopspyramide liegt die Sphinx, den Kopf dem Nil zugewandt. Für ihre Größe erhielten wir einen Maßstab, als der uns begleitende Araberjunge auf den Riesenleib hinaufkletterte und sich an die Nase lehnte. Unweit davon andere Königsgräber. Ein in Wüstensand gegrabener Gang fährt hinunter zu einer Anzahl über- und nebeneinander gereihter Steinsärge. Hier sollen einige von den Mumien gebettet gewesen sein, die jetzt im Kairoer Museum ausgestellt sind.

Kummer, Fritz
Eines Arbeiters Weltreise
Erstausgabe Stuttgart 1913; Nachdruck Leipzig und Weimar 1986

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!