1907 - Otto Julius Bierbaum
In Kairo
Da unserer Karawane die Aufgabe gestellt war, Kairo und Umgebung inklusive Wüste Sakkara in 175 Stunden kennenzulernen, galt es, keine Müdigkeit vorzuschützen, sondern das Pensum rastlos zu erledigen. Kaum hatten unsere Ohren die weißen Schlummerkissen des Savoy-Hotels berührt, da erschien auch schon unser Leib-Sudanese, zeigte uns lachend seine Zähne und dann die Tür, durch die wir das Zimmer zu verlassen hätten, um hinabzufahren. Unten erwartete uns der Dragoman, dem wir mit Gottlob nur zwanzig anderen Karawansen für die erwähnten Stunden überantwortet waren.
Dieser Dragoman vereinigte zwei Nachschlagebücher in sich: einen Baedeker für Ägypten und ein polyglottes Lexikon. Er sprach Armenisch, Türkisch, Griechisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch und Hebräisch. Das Ferment, das alle Sprachen in ihm hielt und gleichsam konservierte und imprägnierte, war der Duft des Knoblauchs. Was er auch sprach: alles knofelte. Aber diese kleine Eigenschaft hinderte nicht, daß er ein sehr gescheiter und höflicher Führer war. Nur protzte er gern mit seiner Wissenschaft und schloß seine Erklärungen: »Ich könnte Ihnen noch viel mehr erzählen, aber das geht nur bei Privatführungen.« Er hatte ja recht, aber nett war es nicht von ihm, uns immer wieder daran zu erinnern, daß wir Reisende dritter Klasse waren. Denn die erste Klasse ist die der Fremden von Distinktion, die offizielle Kawassen als Führer haben; die zweite ist die der Reisenden auf eigene Faust, die sich einen Privatführer mieten; die dritte kennen wir schon; die vierte ist die der ganz gescheiten Leute, die ohne Führer herumbummeln; dazu gehören Archäologen, Künstler und Handwerksburschen. Wenn ich wieder reise, dann in vierter Klasse, da ich mangels Distinktion in erster nicht kann.
Zuerst geleitete er uns nach Heliopolis. Wir fuhren in einem sehr stattlichen Zweispänner, dessen Kutscher mir sofort vertraut vorkam, weil er wie ein älterer Bruder von Felix Salten aussah. Gewiß hätte er auch so schön erzählen und phantasieren können wie dieser, denn in seinen Augen saß das Glühlicht des Märchens; aber der Unmensch hatte sich eine Sprache angewöhnt, die aus dem Arabischen, Englischen, Französischen und Italienischen nur die Worte bevorzugte, die mir unbekannt sind. Meine Frau sagte zwar immerzu: Si, si, capisco; aber es war gar nicht wahr. Denn wenn sie mir Felixens Mixtum Polyglottosom übersetzt hatte, merkte ich, klug, wie ich nun leider bin, sofort, daß sie orientalisch schwindelte. Sie hat auch das Glühlicht.
Nun, wir brauchten seine Kommentare gar nicht. Was wir sahen, war auch ohne Randbemerkungen verständlich. Das erste, was uns auffiel, war die unglaubliche Menge von schönen Wagen: lauter Zweispänner. Ich glaube, wenn ein Mensch in Kairo in einem Einspänner fahren würde (Eselwagen ausgenommen), so würde er einen Straßenauflauf hervorrufen. Wien besitzt auch viele Wagen, darunter eine Menge schöner Zweispänner; aber neben Kairo wirkt es hierin wie München neben Wien. Die Kairoer Kutscher aber sind genau wie ihre Wiener Kollegen. Sie tragen zwar keine Melone, sondern einen Tarbusch, aber darunter wohnt nur ein Gedanke: Bakschisch. Und dieser Gedanke nimmt noch phantastischere Dimensionen an als an der Donau; denn Bakschisch heißt nicht Trinkgeld schlechthin, sondern Trinkgeld im Quadrat.
Die Mohammedaner teilen sich bekanntlich (einen Augenblick, ich sehe im Brockhaus nach) in Sunniten und Schiiten; alle aber sind Bakschischiten. Es ist ratsam, sich dies fest einzuprägen, wenn man eine Reise in den Orient macht. Und man darf in dieser Hinsicht auch die orientalischen Christen und Juden zu den Muselmännern rechnen. Weiß man dies von vornherein und ist man zu der Erkenntnis vorgedrungen, daß der Bakschischismus ein Bestandteil östlicher Ideologie ist, so wird man so weise sein und sich nicht darüber ärgern, sondern sich damit abfinden. Was wollen alle diese Hände? Sich demütigen und der deinen Gelegenheit geben, über ihren zu schweben. Nehmen ist keine Schande, aber Geben ist Verdienst. Sie wünschen, daß du, Giaur, auch in den Himmel kommst. Das ist doch sehr nobel von ihnen, und du solltest keineswegs darüber schimpfen. Willst du nichts geben, verzichtest du auf die Wollust der guten Werke und ihren himmlischen Lohn, so schweig; aber gebärde dich nicht zornig und rede wild. Das hat keinen Effekt und amüsiert die Bakschischiten nur. Ja, es kann dir ergehen wie mir, und du wirst zum blamierten Mitteleuropäer. Als ich nämlich noch nicht weise war, ärgerte ich mich manchmal über das, was ich noch nicht als Ausfluß demütiger Herzen erkannt hatte, sondern für Aufdringlichkeit hielt. Ich wurde grob, wenn mich ein fanatischer Bakschischite nicht in Ruhe lassen wollte. Aber Beschämung hat mich kuriert. Die gelindere Kur war diese: Ein junger Mann wollte mir unter allen Umständen ein kleines lebendiges Krokodil verkaufen, hielt es mir unausgesetzt vor die Nase und lispelte: »Sehr niedlich, Herr Baron! Oh ja, sehr niedlich!« Diese intelligenten Bürger von Kairo wissen nämlich sofort, ob einer ein Engländer, Deutscher oder ein anderer Giaur ist, und sie wissen auch, daß ein Deutscher entweder Baron oder Professor anzusprechen ist; überdies schnappen sie Worte jeder Sprache auf, ihren Sinn meist richtig erratend. Erst sagte ich bloß: »Nein!!« mit zwei Ausrufezeichen. Im Echo klang's arabisch süß: »Nein??? « mit drei Fragezeichen. Ich: »Ich will nicht.« Er: »Sehr niedlich, Herr Baron, oh ja!« Ich: »Zum Donnerwetter, nein!« Er: »Donnerwetter, Donnerwetter, Donnerwetter, oh ja!« Ich: »Fahr ab.« Er: »Nein? Will nicht? Donnerwetter? Fahr ab? Sehr niedlich! Sehr niedlich!« Ich: »Himmelkreuzdonnerwetter noch mal!« Er, akzentuierend: »Himmelkreuzdonnerwetter noch mal? Noch mal? Donnerwetter? Will nicht? Nein? Fahr ab? Oh, Herr Baron? Sehr niedlich! Niedlich!« Ich hatte die Empfindung, daß der Mensch mit dem Krokodil mich bewußt verhöhnte, und ich schrie ihn an: »Fahr zum Teufel!« Und er? Was tat er? Er repetierte sämtliche Flüche und Verwünschungen, die er je von Deutschen vernommen hatte, wie eine Maschine, aber alles mit süßestem Ton und dem Fragezeichen dahinter: »Rutsch mir den Buckel lang? Frecher Halunke? Infamer Schweinehund? Pack dich? Pack dich? Pack dich? Weg da, weg da? Aufdringliches Gesindel? Impertinentes Ungeziefer? Marsch, oder ich hau dir eine?« Und es war mir tatsächlich eine rechtschaffene Beschämung, daß er als Krone dieser deutschen Freundlichkeiten zuletzt »Fahr zum Teufel« lispelte. Ich bezahlte sie mit einer kleinen Silbermünze, und er zog mit seinem Krokodil höflich von dannen, indem er nun bloß nochmals »Sehr niedlich, oh ja, Herr Baron« flüsterte.
Die drastischere Kur war diese: Ein älterer Bakschischite, würdigen Auftretens, nicht sehr schmutzig, Silberbart, dem verstorbenen Hermann Levi ähnlich in dem etwas melancholischen und doch lebendig geistvollen Blick, drängte sich nachts an mich, lächelte und sagte: »Bakschisch.« Ich hatte es eilig und ging schnell an ihm vorüber. Er aber, sich immer dicht an mich drängend, hörte nicht auf, mir die Hand vorzuhalten und »Bakschisch« zu säuseln. Als ich zu rennen begann, setzte auch er sich in Trab. Wenn ich aber schimpfte, so bediente er sich nicht der Technik jenes jüngeren, sondern wiederholte nur: »Bakschisch«. Endlich war ich des Laufens müde, blieb stehen und schrie ihm ins Gesicht: »Nein! « Er, nochmals höchst süß: »Bakschisch?« Ich nochmals, höchst grob: »Nein!« Und da geschah etwas Verblüffendes. Er griff in seinen Busen und drückte mir ein Kupferstück in die Hand, indem er, die Brauen majestätisch hochziehend, die Lippen aber höhnisch nach unten, kurz und gar nicht süß sagte: »Bakschisch!« Drehte sich um und ging würdevoll weg. Erst wollte ich ihm das Kupferstück nachwerfen, aber dann besann ich mich eines Besseren und steckte es ein. Ich habe es mir zum Andenken aufgehoben. Es ist ein lehrreiches Stück Kupfer und mehr als Kupfer wert.
Wir fuhren also nach Heliopolis. Durch einen »Wirbel von Volk«, wie meine Frau treffend sagte. Auch hatte sie recht, wenn sie meinte, daß, gemessen am Lärm Kairos, Neapel eine tote Stadt ist. Ich begriff erst jetzt, warum den Weisen des Orients Ruhe gleichbedeutend mit Glück ist. Dieser Lärm, dieses Gewusel von gehenden, reitenden, fahrenden Menschen, deren keiner, ein paar Vornehme ausgenommen, schweigt, deren jeder in jedem Augenblick irgendeinen höllenheißen Wunsch zu haben scheint, den er frenetisch hinausbrüllt, ist wie eine Vision des Lebenswahnsinns. Auch ich würde die Wüste und eine im übrigen unkomfortable Säule als Standort dem dauernden Aufenthalt in einer belebten Straße vorziehen. Schon dieser erste Blick in das Ameisenhafte einer großen orientalischen Stadt läßt klar werden, warum die Weltflucht im Orient geboren werden mußte. Es war die Flucht aus der Öffentlichkeit. Ein kontemplativer Mensch hat hier die Wahl zwischen Wahnsinn und Eremitentum. Für den Pöbel aber ist es ein Paradies, denn er befindet sich in fortwährender Fühlung mit seinesgleichen, und jeder Augenblick ist eine Sensation. Ich habe in der Tat immer wieder die Empfindung gehabt, daß die Masse im Orient auf ihre Weise glücklich ist. Das Problem des Tages ist die Magenfrage. Aber zu ihrer Lösung bedarf es nicht in dem Maße wie bei uns der Verdingung unter das Joch eintöniger, streng geregelter Arbeit. Unsere Proletarier sind reich im Vergleich mit den Armen des Orients, und ihre Existenz ist überdies durch allerhand Fürsorgegesetze gesichert; so sehr, daß das bourgeoise Ideal des Rentiers den proletarischen Verhältnissen von Staats wegen gleichsam aufgepfropft erscheint. Aber es fehlt ihnen in den Jahren der Kraft an freier Zeit. In dieser Hinsicht führen die Ärmsten der Armen im Osten ein Herrenleben, und ich glaube nicht, daß sie es alle für die Sicherheiten unserer Handarbeiter hergeben würden. Sie sind viel ungebundener, äußerlich wie innerlich, elastischer. Diese östlichen Völker sind zu jeder Art Knechtschaft geeignet, die ihrem Wesen entspricht, das insbesondere äußeren Zeichen der Untertänigkeit leicht Eingang gewährt, aber nicht zur Knechtschaft unter fremde Ideale, die, auch wenn sie Freiheiten ausrufen, doch immer eine andere Freiheit meinen als die, die der Mensch des Ostens braucht und wesentlich hat. Mohammed ist unter den großen Religionsstiftern der ärmste an idealem Gehalt, aber weitaus der reichste an nationalpsychologischer Vernunft. Man darf es Napoleon glauben, daß es ihm nicht schwergefallen wäre, zum Islam überzutreten. Denn dies ist die Religion der realen Macht. Ich glaube nicht, daß diese Macht ausgespielt hat.
Einstweilen jedoch sahen wir den »Wirbel des Volks« und waren froh, aus ihm ins Freie zu gelangen. Schön fand ich diese Seite Kairos nicht. Mir kam sie bloß öde vor, und ich möchte wahrhaftig keine dieser Villen im Sande bewohnen, wenngleich sie in hübschen Gärten liegen. Selbst das Landhaus des Khedive würde mich nicht reizen.
Der Obelisk von Heliopolis ist vor allem deshalb merkwürdig, weil er nicht in London, Berlin oder Paris, sondern noch dort steht, wohin ihn vor nun fast viertausend Jahren König Senwosret [Sesostris] I. als Wächter am Tempel des Sonnengottes Re gestellt hat in der Sonnenstadt Onu, die die Griechen Heliopolis nannten. Von dieser Sonnenstadt ist nichts übrig geblieben als diese dauerhafte Nadel von rotem Granit. Und doch war die Stadt einmal das Ziel der Pilgerschaft aller der Geister, die wir heute noch als Nährväter unserer Kultur verehren. Denn ihre Nahrung war die Weisheit Ägyptens. Dreizehn Jahre soll Plato hier studiert haben. Wo nun die Tempelweisheit der ägyptischen Priester geheimnisvoll tönte, macht irgendein witziger Herr aus Berlin urkomische Anmerkungen zum Kapitel der ägyptischen Götterlehre, und unser Dragoman knofelt eine Vorlesung über den Sonnengott. Und was sagt die Gräfin Ida Hahn-Hahn in ihren »Orientalischen Briefen« über diesen Obelisken? »Solche Stätten machen ungeheuren Eindruck. Man wird dermaßen von der Nichtigkeit des Irdischen durchdrungen, daß das menschliche Leben mit seinem Bemühen, dauernd tuen und schaffen zu wollen, ganz kindlich erscheint.«
So verschieden wirken die gleichen Dinge auf verschiedene Menschen. Es gibt eben sehr verschiedene Menschen. Fatal ist nur, daß die plumpen ihrer Anlage gemäß merkbarer in Erscheinung treten als die feinen.
Unweit von diesem Obelisken, im Dorf Matarija, steht eine alte schöne Sykomore, der die orientalischen Christen eine hübsche Legende angedichtet haben. Die meisten Karawanenmitglieder fanden das Märchen freilich kindisch, und sie waren allem Anschein nach sehr mit ihrer Intelligenz zufrieden, weil sie die Unmöglichkeit der Geschichte sofort durchschaut hatten; ich aber meine, daß die Phantasie, die die Marienlegende um die Sykomore von Matarija gewoben hat, immerhin mehr Spiritus verrät als das bißchen Kritikvermögen, das aus reiner Geistlosigkeit Nebensächliches bemängelt, weil es blind für das Wesentliche einer so poetischen Vorstellung ist. Es wäre törichte Zeitvergeudung, davon Notiz zu nehmen, wenn die pseudokritische, dummnüchterne Sinnesart nicht leider typisch wäre für eine mächtige Mittelschicht unserer deutschen Bildung, die immer noch dem braven Nikolai näher steht als Goethen. Die Legende lautet so: Maria rastete unter diesem Baum. Als sie ihre Verfolger nahen sah, kroch sie in den hohlen Stamm, und eine Spinne wob eilig ein so dichtes Netz vor die Öffnung, daß die heilige Jungfrau ihren Verfolgern unsichtbar blieb. Das ist ganz echte Poesie; rein aus dem Gemüt durch die Anschauung geboren. Nicht alle Legenden der orientalischen Christen sind so rein und darum so schön; denn die meisten haben einen Beigeschmack von Absichtlichkeit, sie sind oft konstruiert und gewaltsam wunderhaft. So, wenn die Heiligkeit einer Kapelle nahe Bethlehem dadurch gestützt werden soll, daß erzählt wird, hier habe Maria ihrem Kind zum erstenmal die Brust gereicht, und es sei ein Tropfen Milch auf den steinernen Boden gefallen, der dadurch Schwammstein geworden sei. Man erkennt ohne weiteres, daß diese Legende nicht aus dem Gemüt gekommen ist, sondern aus dem Gehirn, und zwar aus einem unpoetischen. Denn dieses Wunder der Zersetzung des Steines durch einen Tropfen Milch der Gottesmutter ermangelt jeder Vorstellung, und versucht man sie sich zu machen, so ist die häßlich.
Was mich vor der Sykomore von Matarija mit ihrem Marienmärchen am wunderlichsten berührte, war aber, daß sie so nahe der Sonnentempelnadel von Onu steht, gleichsam als eine lebendige Erinnerung daran, daß Christus als Kind in Ägypten war; und es ist etwas in mir, das glauben will, es hätten die Kinderaugen Jesus diese rote Granitspitze aus der Frühzeit ägyptischer Weisheit gesehen, auf der auch Platos Augen geruht haben. Wenn der kindliche Jesus die Augen gehabt hat, die ihm Raffael auf seiner Sixtina gab, so wird dieser Anblick ihm mehr vermittelt haben als eine Impression von rot und spitz.
Von der Marien-Sykomore zur Straußenzucht. Dort werden achthundert dieser Vögel gehalten, um zum Schmuck unserer Damen bei lebendigem Leib gerupft zu werden. Ihren ausdruckslosen, riesigen Augen nach zu schließen, sind sie wirklich so dumm, wie die Erzählung behauptet, nach der sie glauben, die Gefahr sei vorüber, wenn sie ihren Anblick vermeiden, indem sie ihren Kopf in den Sand stecken. Es kann dies aber auch als Resignation ausgelegt werden, und dann wäre es eher weise. Jedenfalls wird an Menschen die Dummheit nicht so grausam bestraft, sonst würden wir weit mehr glatzköpfige als behaarte Vertreter unserer Gattung sehen. Gourmets scheinen die Strauße nicht zu sein, aber ihr Magensaft muß außerordentliche Qualitäten haben. Vielleicht haben sie den Geschmack sogar im Magen. Im Gaumen oder auf der Zunge haben sie ihn kaum, denn sie schlucken alles unzerkleinert tel quel hinunter: ganze Mandarinen und Orangen. Ein als witzig gelten wollender Karawanse bot ihnen auch ein paar große Nägel an, aber so dumm waren die Strauße auch wieder nicht: Sie würdigten das Gastgeschenk des Europäers keines Blickes.
Das schönste an der Straußenzucht ist der Blick von ihrer hohen Terrasse auf die Wüste Sahara. Es ist schwer zu sagen, warum dieser Anblick so ergreift. Vor allem dann, wenn man sich keiner sentimentalen Nebengeräusche bewußt ist und als »moderner Mensch« nur darauf ausgeht, eine Impression einzufangen, Sensationen zu erhoffen. Die Linse meines Kodak hat, obwohl sie doch eine Görz-Linse ist, eigentlich nichts gesehen, und doch hat mich der Anblick überwältigt. Nicht so, daß ich das Gefühl der Kleinheit, Machtlosigkeit, Vergeblichkeit alles Menschlichen gegenüber dieser ungeheuren Weite, Öde, Dürre gehabt hätte; vielmehr fühlte ich mich frei, gehoben, gleichsam ausgedehnt. Es war wie ein Einatmen der Unendlichkeit. Dieses aber nur so lange, da nichts Menschliches auf dieser gelbbraunen hügeligen Fläche sichtbar war. Als einzelne Reiter durch mein Gesichtsfeld sprengten, kam Romantik in das Bild, obwohl es sicherlich keine Wüstenräuber waren, die dort ritten, sondern hygienische Engländer, die sich und ihren Pferden die nötige Bewegung machten. Doch ritten sie am Rand der Wüste, die Unendlichkeit im Hintergrund, und so war es, als ob sie aus der Leere zu Menschen flöhen, gerettet aus ungeheuren Abenteuern.
Wir fuhren langsam nach Hause, mit Fleiß hinter der Karawane zurückbleibend. In der Halle des Hotels dann wunderbar gekleidete Damen mit leuchtenden Schultern und Busen, behängt mit Perlen und Diamanten, lächelnd, plaudernd, Fächer regend, und die schönsten Fräcke, die ich in meinem Leben je gesehen habe. Ein Mitglied der Dynastie Rothschild unterhält sich mit einem englischen Herzog; Herr Jakob Schiff aus Amerika tritt zu den beiden. Der Direktor des Hotels flüstert mir in die Ohren, wieviel hundert oder tausend, es kommt nicht darauf an, Millionen da beieinander stehen.
»Du hast doch hoffentlich meinen Frack nicht vergessen«, fragte ich ängstlich meine Frau.
»Ich vergesse bekanntlich nie etwas.«
Nur gut; ohne Frack hätte ich in diesem hochherrlichen Hotel Savoy Hungers sterben müssen.
Das Savoy-Hotel von Kairo werde ich nie vergessen, denn hier sah ich zum ersten Mal aus der Nähe das, was man »die große Welt« nennt. Ein bißchen hineingesehen hatte ich wohl früher und anderswo schon, aber erst hier war das Kraut richtig fett. Es war eine lehrreiche Woche, die ich als Frack unter Fräcken verlebt habe. Lehrreich genug, um mir für mein ganzes Leben Stoff und Modelle zu Romanen aus der Welt der grandiosen Langeweile zu geben - falls mir einfallen sollte, was dieses Milieu interessant machen kann: die poetische Fabel. Nur als Fabulierobjekt könnte mich diese Welt reizen; auf die Dauer darin leben könnte ich nur im gehirnweichen Zustand. Damit ist keine Kritik ausgesprochen. Es soll damit nur gesagt werden, daß ich mich zu Tode langweilen würde, müßte ich dieses Leben führen. Ich bin zu genußsüchtig dazu und zu sehr auf starke Reize und Kontraste erpicht. Jetzt begreife ich vollkommen, daß der Reichtum gern pervertiert. Vor allem die Prügelsucht ist mir verständlich geworden, die aktive wie die passive. Und ganz besonders ist mir die schauderhaft grausame Gerechtigkeit der Weltordnung aufgegangen, die das bißchen Glück überall und immer nur als Kontrastwirkung spüren läßt. Ausgenommen sind davon vielleicht die Weisen, die bis zur Verinnerlichung des Glücks gelangt sind. Wobei es ziemlich gleichgültig ist, wie das Gefängnis von außen aussieht, in dem sich einer wohlfühlt.
Da ich sonst nicht zu dieser Art Weltbetrachtung angelegt bin, wird es wohl die Atmosphäre des Orients gewesen sein, die mich dahin gebracht hat. Im Orient fiel zweierlei von mir ab wie die Kruste eines Geschwürs: Neid und Mitleid. Der tollste Reichtum, das greulichste Elend, beides wurde zum Objekt ruhiger Beschaulichkeit. Ich sah Aussätzige auf fußlosen Stümpfen heranhumpeln und mir handlose Stümpfe entgegenstrecken und fotografierte sie, ohne mit dem Apparat auch nur zu wackeln, der mir in Europa aus der Hand gefallen wäre vor Entsetzen. Und ich sah Damen in goldenen Kleidern, die Millionen an sich hängen hatten an Perlen und anderem, und hatte hier eher ein Gefühl des Bedauerns als bei jenen. Im Grunde konstatierte ich das eine wie das andere mit einem Gefühl von Gleichgültigkeit, und mir kam immer die etwas blödsinnige Phrase ins Gedächtnis »Das gibt's«. Sie deckt sich dem Sinn nach etwa mit dem chinesischen Ausdruck ko-ji, für den keine genaue Übersetzung möglich ist.
An einem Abend der Woche, die wir in Kairo zubrachten, war Ball der Elite im Savoy-Hotel. Die eleganten englischen Offiziere in ihren roten Liftboy-Jäckchen über den ausgeschnittenen Hemdbrüsten und Westen mit weißen Stehkragen und schwarzen Bindern - halb Uniform, halb Zivil, einige mit schottisch gemusterten Hosen, alle mit erstaunlich langen Beinen - tanzten mit märchenhaft schön angezogenen Damen. Meine Frau und ich guckten, vom Hoteldirektor dorthin geleitet, von einer Balkonestrade zu, in deren Hintergrund die Stubenmädchen und Diener nach derselben Musik tanzten. So saßen wir zwischen Herrschaft und Gesinde als unbeteiligte Zuschauer, den einen so wenig zugehörig wie den andern; mit dem Gefühl, daß Dienende und Herrschende gleichermaßen ihre Bewegungen zu dem Zweck machten, uns zu zeigen, daß alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist. Es war recht amüsant.
Bierbaum, Otto Julius
Die Yankeedoodle-Fahrt
2. Auflage, München 1910
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Ägypten 2200 v. Chr. – 2000 n. Chr.
Wien 2001