Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1798 - Napoleon Bonaparte - Die Flut ist da!
Kairo

Am 18. August zeigte der Nilmesser bei der Insel Roda eine Wasserhöhe von 14 Ellen an; der Diwan und der Kadi befahlen daher, den Deich des Kanals des Fürsten der Gläubigen zu durchstechen. Diese Feierlichkeit ist der größte Festtag für das Volk von Kairo. Schon vor Sonnenaufgang bedeckten 200.000 Zuschauer beide Nilufer und die Insel Roda. Mehrere tausend Boote aller Art, mit Flaggen und Fähnchen geschmückt, warteten auf den Augenblick, wo sie in den Nil hineinfahren konnten. Ein Teil des französischen Heeres stand in Paradeausrüstung unter Gewehr. Sultan EI Kebir [Napoleon selbst] erschien, umgeben von seinem französischen Generalstab, den vier Muftis, den Ulemas, den großen Scheichs, den Scherifs und den Mitgliedern des Diwans. Zu seiner Rechten ritt EI Bekri, ein Abkömmling des Propheten, zu seiner Linken EI Sadat, ein Abkömmling Hassans. So ritt Napoleon von seinem Palast durch die ganze Stadt bis zu dem Kiosk an der Mündung des Kanals. Er wurde vom Kadi und den Scheichs des Nilwassers empfangen. Das Protokoll, das die Höhe des Nilwassers feststellte, wurde vorgelesen, die Maße wurden herbeigebracht und ihre Richtigkeit vor den Augen der Menge festgestellt. Dann wurde erklärt, der Augenblick des Deichdurchstichs sei gekommen. Nachdem das Schriftstück unterzeichnet und nochmals vorgelesen war, wurde eine Geschützsalve abgefeuert, und es erscholl ein Freudengeschrei von der ganzen unzähligen Zuschauermenge. Der Kadi durchstach den Deich mit allen herkömmlichen Feierlichkeiten. Es bedurfte einer Stunde dazu. Dann stürzte sich der Nil aus einer Höhe von 18 Fuß in den Kanal hinein. Bald darauf fuhr die Barke mit dem Scheich des Nilwassers auf den Strom hinaus, ihr folgten Tausende von Booten, die bald den ganzen Nil bedeckten; sie fuhren den ganzen Tag auf dem Wasser hin und her. Generalzahlmeister Estève warf bedeutende Summen in kleinen Münzen unter das Volk. Das Mahl, das im Kiosk aufgetragen wurde, war prachtvoll. Sultan EI Kebir vollzog mit aufrichtiger Bereitwilligkeit alle Funktionen, die der Brauch dem Herrscher des Landes zuwies.
   Der Nil versprach eine viel stärkere Überschwemmung als in den vorhergehenden Jahren. Die Stadt war illuminiert und befand sich die ganze Nacht und noch acht Nächte darauf in einem Freudentaumel. Bald wurden die öffentlichen Plätze von Kairo zu Seen, manche Straßen zu Kanälen; Gärten und Wiesen waren mit Wasser bedeckt, aus dem die Bäume hervorragten. Im September bot ganz Ägypten, von der Höhe der Pyramiden oder vom Saladinpalast [der Zitadelle] aus gesehen, den Anblick eines Meeres. Dies war ein herrliches Schauspiel. Städte, Dörfer, Bäume, Heiligengräber, Minaretts, Grabkuppeln schwammen auf dieser glatten Wasserfläche, die nach allen Richtungen hin von Tausenden von großen und kleinen weißen Segeln durchfurcht wurde. Dieser Wasserverkehr diente der Beförderung von Waren wie von Personen. Die Soldaten klagten nicht mehr, der Nil habe seinem Ruhm nicht entsprochen; sie sagten nicht mehr, er sei ein Rinnstein mit schlammigem trübem Wasser. In seinen Nebenarmen hatte der Nil 27 bis 28 Fuß Wasser, in den meisten Kanälen 8, 10 und 12 Fuß, über dem Lande 4, 5 und 6 Fuß. Im Dezember trat der Nil wieder in sein Bett und in die Kanäle zurück. Ganz allmählich erschien das Land wieder. Tausende von Ackersleuten bedeckten es, um die Schollen aufzubrechen und um zu säen. Sie säten alle Arten von Korn und Gemüse; einige Wochen darauf fanden schon die ersten Ernten statt. Der Anblick dieser lachenden Ebenen, die mit reichen Ernten bedeckt waren, war zauberhaft. Der Soldat glaubte sich in das schöne Italien zurückversetzt. Welch ein Gegensatz zu dem Anblick, den die dürren, verbrannten Flächen vor kaum einem halben Jahr, in den Monaten Juni und Juli, geboten hatten!

Napoléons Leben, von ihm selbst erzählt
Herausgegeben und übersetzt von Heinrich Conrad
Band 3, Stuttgart 1910

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Ägypten 2200 v. Chr. – 2000 n. Chr.
Wien 2001

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