Um 450 v. Chr. - Herodot
Über den Ursprung des Nils
Der Nil tritt aber, wenn er anschwillt, nicht allein über das Delta aus, sondern auch auf das als lybisch bezeichnete Land [das Westufer] und das arabische [Ostufer], hie und da einen Weg von zwei Tagen auf beiden Seiten oder drüber oder drunter. Doch über die Natur des Stromes konnte ich von weder von den Priestern noch sonst jemandem etwas vernehmen.
Und ich trachtete, von ihnen zu erfahren, was es macht, daß der Nil austritt und von der Sommersonnenwende an hundert Tage lang anschwillt, nachgerade aber, nahe an dieser Zahl von Tagen, zurücktritt und in seinem Strombett abnimmt, so daß er den ganzen Winter niedrig bleibt bis wieder zur Sommersonnenwende. Darüber nun war ich nicht imstande, irgend etwas von den Ägyptern zu vernehmen, als ich mich bei ihnen erkundigte, was für eine Kraft dem Nil diese Natur gibt, die allen anderen Flüssen zuwiderläuft. Eben das Gesagte also wollte ich wissen, und erkundigte mich zugleich, warum dieser Fluß allein keine Lüfte von sich zu wehen pflegt.
Einige Hellenen aber, die sich durch Weisheit auszeichnen wollten, gaben zur Auskunft über dies Wasser dreierlei Wege an, wovon ich zweier nicht zu gedenken erachte, außer daß ich sie bloß anzeigen will. Davon gibt der eine an, die Etesienwinde (Passatwinde) seien Ursache, daß der Fluß anschwelle, indem sie den Nil verhindern, ins Meer auszuströmen. Nun wehten aber die Etesien oft nicht, und der Nil tut doch immer das Nämliche. Dazu, wenn die Etesien die Ursache wären, so müßten auch die andern Flüsse alle, die den Etesien entgegenströmen, im gleichen Fall sein so gut wie der Nil, ja um noch so viel mehr, als sie kleiner sind und eine schwächere Strömung haben. Nun sind viele Flüsse in Syrien und viele in Libyen, bei welchen dies gar nicht so der Fall ist wie beim Nil.
Der andere ist noch unverständlicher als der bezeichnete, und sozusagen wunderbarer, da er angibt, indem er aus dem Okeanus ströme, komme er zu dieser Art, der Okeanus aber ströme um die ganze Erde.
Der dritte Weg der Auskunft, weit der scheinbarste, ist der irrigste. Denn auch hier ist nichts gesagt mit der Behauptung, der Nil laufe an von geschmolzenem Schnee; da er aus Libyen mitten durch die Äthiopier läuft und durch Ägypten ausfließt. Wie mag er denn also vom Schnee anlaufen, da er aus den heißen Gegenden in die kälteren läuft? Da sind Gründe die Menge für jedermann, der nur so etwas zu ermessen imstande ist, daß er wohl nicht von dem Schnee anlaufen kann. Den ersten und stärksten Beweis aber geben die Winde, die warm aus jenen Gegenden wehen; den zweiten, daß dies Land immerdar ohne Regen und Eis ist; auch auf Schneewetter ganz notwendig in fünf Tagen Regen fallen muß, in jenen Lande also, wenn sie Schnee hätten, auch Regen haben würden. Zum dritten, die Schwärze der dortigen Menschen von der Hitze. Auch bleiben Weihen und Schwalben jahrein, jahraus ohne abzuziehen; und die Kraniche, die vor dem Winter flüchten, wenn er im Scythenland einbricht, wandern zur Überwinterung in diese Gegenden. Wenn es demnach auch nur etwas schneite in diesem Lande, durch welches und aus welchem der Nil herströmt, so wäre alles dies nicht, wie es notwendig begründet ist.
Wer aber die Meinung vom Okeanus angab, der führte seine Mär in ein Dunkel zurück, wo er keinen Beweisgrund hat. Denn ich weiß wenigstens nichts von einem Fluß Okeanus, und glaube nur, daß Homer, oder einer der Dichter vor ihm, den Namen erfunden und in der Dichtung eingeführt hat.
Wenn ich nun, nachdem ich mich über die vorliegenden Meinungen aufhielt, selbst eine Meinung über diese dunkle Sache aufstellen muß, so will ich bemerken, wodurch ich glaube, daß der Nil des Sommers anschwillt. Zur Winterszeit wird die Sonne durch die Winterstürme aus ihrer alten Laufbahn vertrieben und kommt ins hinterste Libyen. Um es aufs kürzeste anzuzeigen, so ist alles hiermit gesagt. Das Land nämlich, dem dieser Gott (die Sonne) am nächsten, oder woselbst er gerade ist, muß natürlich am meisten nach Wasser dürsten, und seine Flüsse werden, soweit sie im Lande strömen, eintrocknen.
Um es nun aber mit mehr Worten anzuzeigen, so verhält es sich wie folgt. Während die Sonne durch das hintere Libyen hinausläuft, hat sie folgende Wirkung: Bei dem Heiteren der Luft in diesen Gegenden und bei der Durchwärmung des Landes, da es keine kalten Winde hat, tut sie im Hinauflaufen dieselbe Wirkung, die sie sonst im Sommer zu tun pflegt, wo sie mitten am Himmel läuft; nämlich sie zieht Wasser an sich, und dann stößt sie es ab in die hinteren Gegenden, wo es die Winde auffangen, zerstreunen und auflösen, wie denn natürlicherweise der Süd- und der Tauwind (Südwest), die von diesem Land herwehen, unter allen Winden am meisten Regen bringen. Doch glaube ich, daß die Sonne das jährlich gezogene Nilwasser nicht jedes Mal ganz fahren läßt, sondern auch um sich her etwas zurückbehält. Wenn nun der Winter gelinder wird, so kommt die Sonne wieder mitten an dem Himmel hervor, und von jetzt an zieht sie bereits an allen Flüssen gleich. Bis dahin haben die anderen bei reichlichem Zufluß von Regenwasser, da ihr Land Regen und Gießbäche hat, eine starke Strömung, des Winters aber, wenn die Regengüsse sie verlassen und zugleich die Sonne an ihnen zieht, eine schwache. Dagegen ist der Nil, der, ohne Regenwasser zu haben, von der Sonne angezogen wird, der einzige Fluß, der um diese Zeit natürlicherweise eine weit geringere Strömung hat als im Sommer; denn wird er da mit allen Gewässern gleichmäßig angezogen, so leidet er des Winters allein. Auf diese Art halte ich die Sonne für die Ursache.
Ebendieselbe ist auch, meiner Meinung nach, Ursache, daß die Luft daselbst trocken ist, indem sie ihre Bahn sich ausbrennt. So ist im hinteren Libyen beständig nur Sommer. Und wenn der Stand der Jahreszeiten umwechselte und da am Himmel, wo jetzt Norden und Winter stehen, der Stand des Südens und des Mittags, dagegen da, wo jetzt Süden steht, Norden sein würde; wenn das so wäre, so würde die Sonne, aus der Mitte des Himmels vom Winter und Norden vertrieben, in das hintere Europa laufen, so gut wie sie jetzt nach Libyen kommt. Wenn sie so durch ganz Europa hinausliefe, möchte sie wohl am Ister (Donau) dasselbe wirken, was sie jetzt am Nil tut.
Daß der Nil endlich keine Luft von sich weht, darüber habe ich die Meinung, daß überhaupt aus warmen Gegenden kein Wind zu erwarten ist. Die Luft aus kalten pflegt gern zu wehen.
Das bleibe denn wie es ist und wie es von jeher war. Die Quellen des Nil aber vermaß sich keiner von den Ägyptern, Libyern und Hellenen zu wissen, mit denen ich ins Gespräch kam, außer in Ägypten in der Stadt Sais der Schreiber der heiligen Schätze der Athene. Jedoch schien mir derselbe zu scherzen, indem er sie bestimmt zu wissen behauptete. Er sagte dieses: Es wären zwei Berge mit spitz zulaufenden Gipfeln zwischen der Stadt Syene im thebischen Gebiet und der Stadt Elephantine gelegen, unter dem Namen Krophi der eine, Mophi der andere. Nun flössen also die Quellen des Nil, eigentlich tiefe Schlünde, mitten aus diesen Bergen; und die eine Hälfte des Wassers ströme nach Ägypten hin und gegen den Nordwind, die andere Hälfte nach Äthiopien und nach Süden. Daß aber die Quellen tiefe Schlünde seien, das, behauptete er, habe der König von Ägyten, Psammetich, erprobt. Er habe nämlich ein Seil, viele tausend Klafter lang, geflochten, und daselbst hinabgelassen, ohne auf den Grund zu reichen. Damit führte mich denn der Schreiber darauf, wenn anderes dem so ist, wie er sagte, dort gewaltige Wirbel und einen Strudel zu vermuten, so daß der Stoß des Wassers an den Bergen das herabgelassene Senkblei nicht auf den Grund kommen ließ.
Sonst konnte ich von niemandem etwas erfahren.
Herodot's von Halikarnaß Geschichte, übersetzt von Adolf Schöll; 2. Buch, 19-29
Stuttgart 1828
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Ägypten 2200 v. Chr. – 2000 n. Chr.
Wien 2001