1905 - J. C. Ewald Falls
Die Entdeckung des Menas-Heiligtums
Noch in der Nacht zum 7. Juli brachen wir vom Kom Marghab auf, um neuerdings die Auladaliwüste zu queren, diesmal von Osten nach Westen. Ein äußerst anstrengender Ritt durch die Steppe, halb Wüste, halb Hattje [bewachsene Wüste], führte zunächst dem Ruinenfelde entgegen, dem die Beduinen den Namen Karm Abum gaben.
Das wenige Wasser in den Zemzemien [Feldflaschen] war längst zu Ende und das Naß in den Schläuchen konnte ohne Erbrechen überhaupt nur unter Zumischung starker Gaben von Rotwein genossen werden. Alle halbe Stunde kletterte einer oder der andere von uns vom Kamel, und die unstillbaren Diarrhöen wären noch zu ertragen gewesen, hätte nicht der damit verbundene Blutverlust sehr deprimierend auf die Stimmung, wenn so etwas überhaupt noch vorhanden war, eingewirkt. Schesch Muftah [der Karawanenführer] merkte wohl die Gefahr der Lage und war zuvorkommender als je, was uns aber nur reizte, da keiner seinen Zustand eingestehen wollte aus Furcht vor einem resultatlosen Scheitern der Expedition. Während des Nachtrittes froren wir stark bei 3° Celsius. Gegen Morgen wurde es wärmer, um 6 Uhr 20°, um 8 Uhr bereits 29° Celsius, die Feuchtigkeit sank in derselben Zeit von 85 auf 46 [Prozent]. Heute wundere ich mich über das Orientierungsvermögen Muftahs, der ohne Mühe auch im dichtesten Nebel seinen Weg durch die Hattje fand. Wir glitten nämlich sanft auf den geschmeidiger denn je laufenden Karnelen - sie ahnten die Heimkehr - die wadiartige Depression hinab, die über eine Stunde lang ganz mit Nebel angefüllt war und in welcher wir das Schauspiel eines Nebelbogens mit ziemlich deutlichem Farbenspektrum genossen. War es eine gute Vorbedeutung? Damals wenigstens dachte keiner an diese Möglichkeit, und ich finde in meines Vetters Tagebuch unmittelbar neben dem Passus über diese Erscheinung einige Sätze, die sich auf das Zwischenlager beziehen, welches nach dem Aufhören des Nebels aufgeschlagen wurde, um zu ruhen, etwas zu essen und vor allem sporadisch auftauchende Zelte nach Milch, Eiern oder gar einem Huhn abzusuchen, sowie nach Wasser: »Unsere Girben [Lederschläuche] waren leer bis auf eine, und diese bereits angebrochen, aber schließlich hätten wir dieses Wasser nicht trinken können; es ekelte selbst als deutscher Kaffee gekocht ebensosehr an wie beim Waschen. Schade, daß keine chemische Analyse möglich war! Bis genießbares Wasser da ist, versehen wir uns mit ein wenig Kognak oder Whisky. Letzterer leistete auch gute Dienste, als Eluani gestern abend kopfüber vom hochbeladenen Kamel abstürzte und liegen blieb, so daß alles glaubte, er habe das Genick gebrochen, der Ärmste. Ich rieb ihn ein, und sein erstes Wort war das 'Gespenst', das er und Ewald am Kom Marghab gesehen haben, und das mir sehr bemerkenswert vorkommt, weil der gesehene große Kamelreiter nicht etwa auf einer Wolkenschicht erschien, wie ähnliches sonst vorkommt, sondern über dem Hügel; Deo laudes, qui malum avertit. Eluani ist jetzt mit Abd el-Al fort, um etwas zu holen, das uns Erschöpfte laben könnte. Der Scheich hat am Schaft seiner Araberflinte die deutsche Fahne aufgesteckt, da es an Stäben fehlt. Sie dienten als Brennmaterial. Der Scheich will uns arabischen Kaffee kochen, die Konservenbüchsen kann ich nicht mehr ansehen.«
Die Wasserkalamität, welche Monsignore Kaufmann hier mit wenig Worten in ihrer ganzen Tragweite andeutet, ließ niemand froh werden, selbst dann nicht, als zwei Hühner gebracht wurden und den Hunger nach etwas Besserem stillten. Im Hochsommer sind eben die wenigen Brunnen der Auladaliwüste, soweit sie nicht vertrocknet, nur noch Schlammlöcher, und das Wasser der paar Zisternen schmeckt salzig. Während wir selbst noch immer an Blutabgang leiden, sollen wir Kranke heilen, und der Anblick einiger Gebrechen, eines Kindleins mit eiternder Brust, eines Mannes mit klaffender Beinwunde, deren Ränder mittels eines Zeltnagels durchlocht und von einem dünnen Strick nahtartig zusammengeschnürt sind, läßt das eigene Elend einen Augenblick vergessen. Zum Glück fehlt es nicht an Karbol und Jodoform.
Wenig Hoffnung bewegte die Brust, als die kleine Schar am späten Nachmittag dieses Tages, am 7. Juli, sich dem Gelände näherte, welches die benachbarten Beduinen Karin Abum und Bumna hießen. Scheich Muftah wollte unter keinen Umständen in dieser Gegend lagern, da es dort Räuber und Feinde gäbe. Mein Vetter hätte aber gar nicht mehr anders gekonnt. Er mußte dort zum mindesten einen Ruhetag haben, und es war merkwürdig genug, seine Energie verließ ihn nicht, bis am Karm [Hügel] in der Nähe des Steinmeeres einer alten Stadt gelagert wurde. Als sei nun alles gewonnen, legte er sich, sobald die Beduinen das Zelt errichtet hatten, langwegs in den Klappstuhl und blieb so stundenlang apathisch bei äußerst langsamem Puls. Er bat mich, ihm Kognakaufschläge zu machen, indessen Muftah vergeblich nach Milch suchte, Eluani aber und Abd el-Al nach dem Brunnen Eisele eilten, einer, um schleunigst Wasser zu bringen, der andere, um die Kamele zu tränken. In diesem Zustand lag mein Vetter auch die ganze Nacht hindurch, in der er kein Auge schloß. Die einzige Erleichterung verschafften ihm Kognakkompressen, und es gab einen Moment, wo ich glaubte, mein lieber Freund würde hier sterben müssen. Da er im stillen dieselbe Befürchtung hegte, erlaubte er mir nicht, nach Alexandria vorauszueilen, um einen Arzt zu holen. Eine bedenkliche Verschlimmerung trat ein, als Muftah aus einem Zelte Milch, leider nur Girbenmilch, d. h. im Ziegenschlauch gelagerte, brachte, deren widerlicher, unbeschreiblicher Geschmack Erbrechen verursachte.
Als die Not am größten war, näherte sich in schnellstem Trab vom nördlichen Karm her Eluani mit zwei Girben Wassers. Der Brunnen Eisele, aus dem es kam, ist einer der besten der Mariut, aber zum Unglück hatte vor der Ankunft unserer Leute eine Kamelherde von fast hundert Köpfen dort sich für drei bis vier Tage vollgesogen, und was man uns brachte, war wieder schlammig und dabei etwas alkalisch. Immerhin schmeckte es nicht direkt faul und nach der Girbe, und es fehlte folglich auch der schlechte Geruch, der allein schon zum Erbrechen reizt und den ich seiner Wirkung nach dem Kabinengeruch kleiner, nicht ventilierter Schiffe auf hochgehender See vergleichen möchte, der Empfängliche ohne weiteres Poseidon tributär zu machen pflegt.
Trotz seiner Schwäche war das Interesse des Archäologen und die geringe Hoffnung, die sich an dieses alte Ruinengebiet knüpfte, nicht erloschen, und mein Vetter drängte zu einer Besichtigung. Das Lager war auf einem flachen, gelben Kom errichtet, in ziemlicher Nähe von der Stelle, auf der sich später das Ausgrabungsgebäude erhob. Das oben erwähnte Trümmermeer war von ihm aus nicht zu sehen, und der Leser wird sich meine Überraschung ausmalen können, als ich auf einem ersten Gang über die Kornreihen plötzlich dieses Chaos von Kalkquadern erblickte, wirr und ordnungslos, nirgends ein Stein mehr auf dem andern. Es war eine gefährliche Kletterei, da ich aus Vorsicht vor jenen Harami, die ich lange später als brave, nur damals in einen Zwist mit der Familie unseres Scheichs verwickelte Beduinen kennen lernte, schwer bewaffnet ausgegangen war und namentlich das Gewehr bei jedem Schritt hinderte. So kletterte ich hin und her, um den Rest irgendeines Gebäudes oder vielleicht sonst eine Handhabe aufzufinden, um die Spannung und Neugier zu lösen. Aber es fand sich nichts; hier hatten Menschenhand und Wüste im Verlaufe vieler Jahrhunderte ein vollendetes Werk der Zerstörung »geschaffen«, dessen Anblick grausig und grandios zugleich war. Nun kam die Reihe an die nächstliegenden kahlen Hügel, die Koms, deren Oberfläche mit Scherben bedeckt waren. Wir hatten auf der langen Wüstenreise häufig genug auf Grund solcher einfachen Tonscherben und Gefäßstücke Schlüsse ziehen können auf Alter und Epoche wenigstens der oberen Bodenschichten, und das Auge rasch daran gewöhnt, unter Hunderten von Stückchen diejenigen hervorzufinden, die eine kleine Verzierung oder doch Spuren der Verarbeitung zeigten.
Und nun hatte ich das Glück, auf einem dieser Koms eine Scherbe mit den Resten einer Darstellung zu finden, ja gleich darauf noch andere mit deutlichen Umrissen von Prägungen. Ein Randstückchen mit einem deutlichen Kamelkopf gab den Ausschlag. Ich hatte im Museum von Alexandrien und bei Schieß-Pascha Exemplare der sog. Menasampullen gesehen, wo der Heilige als Patron der Libyschen Wüste zwischen knieenden Kamelen erscheint: kein Zweifel, mein kleiner Fund war das Fragment einer solchen, und ich weiß von meiner damaligen ersten Freude nur noch so viel, daß ich einen regelrechten Indianertanz aufführte, schleunigst aufpackte und Hals über Kopf ohne Furcht vor unterirdischen Kammern oder gar Muftahs Feinden zum Lager lief, um die Botschaft zu überbringen.
»Karl, es ist das Menasheiligtum«, rief ich aus, und ich bin sicher, meine Nachricht trug zur Rettung des Freundes aus Lebensgefahr einiges bei. Jedenfalls raffte er sich nach Kräften auf, und als kurz nach meiner Rückkehr Scheich Schuchan seine zweite Frau mit Hilfe eines seiner Söhne heranschleppte, mehr trug als schleppte, und das arme schwindsüchtige junge Weib vor uns zusammenbrach, da holte er selbst den dritten Klappstuhl aus dem Zelt, um die Kranke zu unterstützen. Schuchan war derselbe, der uns in Ermanglung alles andern jene Girbenmilch übersandt hatte. Sein Zelt lag in der Nähe, er ward später unser Freund. Wir waren uns schnell darüber einig, daß seinem Weibe nicht zu helfen war, gaben einige Erleichterungsmittel und verordneten, da sie seit Wochen in Decken gehüllt lag und ihr Zelt nicht verließ, viel Sonne. Wir gaben Schuchan zu verstehen, die Gefahr sei nahe. »Ich danke euch«, entgegnete der schöne bärtige Mann, »alles steht bei Gott.« Fünf Monate später, da wir wieder bei Scheich Schuchan einkehrten, um die Ausgrabungen zu beginnen, schlummerte sein Weib schon zwei Monde im weichen Bette des gewaltigsten aller Friedhöfe, der Wüste. Schuchans Sohn brachte noch am gleichen Tage eine »Antika«, sein persönliches Geschenk, weil wir seiner Mutter den überflüssigen Liegestuhl, einigen gemahlenen Kaffee und viel Zucker überlassen hatten. Was der Bube da meinem Vetter in den Schoß legte, war aber nichts Geringeres als ein schönes intaktes antikes Pilgerfläschchen mit dem Bilde des heiligen Menas, Kamelen als Symbol der Wüste und einer griechischen Inschrift: »Eulogia tou hagiou Mena« – »Lobandenken des heiligen. Menas«. Das Tonfläschen sah so frisch und sauber aus, daß man hätte meinen sollen, es wäre gerade eben fertiggestellt worden. Es mußte an einer geschützten Stelle unter der Erde gefunden worden sein, und darum erkundigte sich mein Vetter nach dem Fundorte und beglückte den Buben mit einer Handvoll Würfelzucker. »Das ist für meine Mutter«, sagte dieser, der in seiner beduinischen Dürftigkeit die Bedeutung des Hausmittels als Leckerbissen für die Jugend, sehr zu Gunsten seiner schönen Zähne, gar nicht kannte, »und ihr könnt eine ganze Masse davon haben - nämlich dieser altchristlichen Antiquitäten - hier in nächster Nähe.«
Das kleine Altertum wurde Monsignore Kaufmann zum Medikament. Unverzüglich mußten wir zu jener Stelle. Er selbst kam mit, und was bisher Möglichkeit war, wurde fast zur Gewißheit. Nach einigem Graben, das Schuchans Sohn unserer Handschaufel zum Trotz mit den braunen Händen besorgte, öffnete sich ein senkrechtes, oben abgerundetes Loch, aus dem kurz nacheinander Krüglein, Ampullen und einige Lampen, alles aus hellgelber Terrakotta fabriziert, so hübsch erhalten herauskamen, wie wenn der Töpfer sie erst gestern, nicht vor weit über tausend Jahren da zurückgelassen hätte. Der Fund eines kompletten Töpferofens, denn darum handelte es sich dabei, hatte weitere Feststellungen im Gefolge. Mein Vetter wollte, so schwer es ihm fiel, das antike Gelände besehen. Er stellte an zahlreichen Scherbenkoms den altchristlichen Charakter des ganzen Ruinenkomplexes fest und er erkannte im Zentrum des Trümmermeeres, dessen Quaderhäufungen Scheich Muftah für eine uralte Residenz der Kalifen hielt, eine Stelle, wo die Lage der verwitterten Blöcke auf eine gewaltige Apsis schließen lieb. »Hier müßte man nachgraben, das dürfte gewiß die Apsis des Menasheiligtums sein.« Sein divinatorisches Talent täuschte ihn wirklich nicht. Wo andere nur einen Wirrwarr von Kalkquadern sahen, da stießen wir bei der Ausgrabung tatsächlich auf den Abschluß der großen Basilika des Kaisers Arkadius, einen Vergrößerungsanbau des eigentlichen Gruftheiligtums des Patrons der Libyschen Wüste. Das einzige Bedenken, das mein Vetter nun noch hatte, flößte ihm die unerwartete Größe und Ausdehnung des Ruinengebietes ein, das auf eine ganze Stadt schließen ließ.
Falls, J. C. Ewald
Drei Jahre in der Libyschen Wüste: Reisen, Entdeckungen und Ausgrabungen der Frankfurter Menas-Expedition
Freiburg 1911
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Ägypten 2200 v. Chr. – 2000 n. Chr.
Wien 2001