1828 - Jean François Champollion
Ein Mondscheinspaziergang zu den Tempeln von Dendera
Am Abend des 16. [November 1828] erreichten wir schließlich Dendera. Der Mond schien schien klar und hell, und wir waren nur eine Stunde Weges von den Tempeln entfernt: Wie hätten wir da der Versuchung widerstehen können! Abendessen und Aufbruch waren in einem Augenblick erledigt. Allein und ohne Führer, aber bis zu den Zähnen bewaffnet, zogen wir los in der Annahme, daß die Tempel sich gerade vor unserem Schiff befänden. Und so marschierten wir unter Absingen der neuesten Opernmärsche anderthalb Stunden lang, fanden aber nichts. Schließlich entdeckten wir einen Mann; wir riefen ihn an, aber er nahm die Beine in die Hand, weil er dachte, wir seien Beduinen. Wir waren nämlich orientalisch gekleidet mit einem großen weißen Burnus mit Kapuze und sahen für einen Ägypter wie Beduinen aus. Ein Europäer hätte uns ohne nachzudenken für eine wohlbewaffnete Kolonne von Kartäusermönchen gehalten. Man brachte mir den Flüchtling. Wir nahmen ihn in die Mitte, und ich befahl ihm, uns zu den Tempeln zu führen. Der arme Teufel, zunächst noch wenig beruhigt, brachte uns auf den rechten Weg und marschierte dann tapfer mit. Hager, vertrocknet, schwarz und mit alten Lumpen angetan, war er eine wandelnde Mumie. Aber er führte uns gut und so behandelten wir ihn auch gut.
Schließlich sahen wir die Tempel. Ich versuche gar nicht erst, den Eindruck zu beschreiben, den der große Propylon und besonders die Säulenhalle des großen Tempels machten. Man kann ihn wohl vermessen, aber es ist unmöglich, Erscheinung oder Eindruck wiederzugeben. Hier sind Anmut und Majestät in höchster Vollendung vereint.
Wir verbrachten dort zwei Stunden in höchster Verzückung und liefen mit unserer Funzellaterne durch die großen Säle und versuchten auch, die Inschriften an den Außenmauern im Mondlicht zu lesen. Erst um drei Uhr früh kamen wir zurück zum Schiff, um gegen sieben Uhr von neuem loszuziehen. Am 17. verbrachten wir dort den ganzen Tag. Was schon im hellen Mondschein großartig ausgesehen hatte, war es jetzt noch mehr, denn die Sonnenstrahlen ließen uns jede Einzelheit unterscheiden. Seitdem weiß ich, daß ich ein Meisterwerk der Architektur vor Augen hatte, bedeckt mit Skulpturen im allerschlechtesten Stil. Obwohl sie niemandem zu mißfallen scheinen, sind die Basreliefs von Dendera miserabel; das kann auch nicht anders sein, denn sie stammen aus einer Zeit des Verfalls. Die Bildhauerei war schon heruntergekommen, während die Architektur, weniger Veränderungen unterlegen, weil es eine geometrische Kunst ist, sich der Götter Ägyptens und der Bewunderung in allen Jahrhunderten würdig erhalten hat.
Es gibt verschiedenen Stadien der Ausschmückung: Der älteste Teil ist die Außenmauer am äußersten Ende des Tempels, wo in kolossalen Proportionen Kleopatra und ihr Sohn Ptolemäus-Cäsar [auch Cäsarion genannt, dessen Vater Cäsar war] dargestellt sind. Die besseren Basreliefs darüber sind aus der Zeit des Kaisers Augustus, wie auch die seitlichen Außenwände des Naos mit Ausnahmen weniger kleiner Stellen, die aus der Zeit Neros stammen. Der Pronaos ist ganz bedeckt mit kaiserlichen Erzählungen von Tiberius, Caius [Caligula], Claudius und Nero. Aber im ganzen Inneren des Naos, wie auch in den Räumen und Gebäuden unterhalb der Tempelterrasse, gibt es keine ausgearbeitete Kartusche. Alle sind leer, aber nicht ausgetilgt. Aber alle Skulpturen in diesem Gebäudeteil, wie auch im gesamten Inneren des Tempels, sind vom allerschlechtesten Stil, und können nicht aus der Zeit vor Trajan oder Antoninus stammen. Sie ähneln denen vom südwestlichen Propylon, der von letzterem Kaiser [Trajan] stammt, und, der Isis geweiht, sich im Tempel dieser Göttin fortsetzt. Dieser Tempel befindet sich hinter dem großen Tempel, der tatsächlich der Tempel der Hathor (Venus) ist, wie die tausendundeine Widmungen zeigen, mit denen er bedeckt ist, und nicht der Tempel der Isis, wie die Ägyptische Kommission glaubt. Der große Propylon ist bedeckt mit Bildern der Kaiser Domitian und Trajan. Wie das Tymphonium wurde er unter Trajan, Hadrian und Antoninus Pius ausgeschmückt.
Champollion, Jean François
Lettres écrites d'Egpte et de Nubie en 1828 et 1829
Paris 1833
Übersetzung: U: Keller
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Ägypten 2200 v. Chr. – 2000 n. Chr.
Wien 2001