1912 - Ludwig Borchardt
Nofretete wird gefunden
Tell El-Amarna
Als ich am 6. Dezember 1912 bald nach der Mittagspause durch einen Zettel des gerade die Aufsicht führenden Professor Ranke eiligst nach Haus P47,2 gerufen worden war, fand ich in dem Raum 19 östlich der „breiten Halle“ - Raum 14 - dicht hinter der Tür bereits die soeben zum Vorschein gekommenen Bruchstücke einer lebensgroßen Büste Amenophis’ IV. vor. Gleich darauf in nächster Nähe, etwas weiter in Raum 19 hinein, gefundene, äußerst zierliche und leicht verletzbare Stücke ließen es angezeigt erscheinen, sogleich einen der umsichtigsten Arbeiter, unsern ersten Vorarbeiter Mohammed Ahmed es-Senussi, hier allein arbeiten zu lassen und aus nächster Nähe anzuweisen, gleichzeitig aber einen der jüngeren Herren mit der schriftlichen Aufnahme des Fortgangs der Arbeit zu beauftragen. Indem wir uns durch den nur etwa 1,10 m hoch liegenden Schutt allmählich gegen die Ostwand von Raum 19 vorarbeiteten, kamen weitere Stücke von hohem Kunstwert heraus, die hier nicht einzeln erwähnt zu werden brauchen. Dann wurde wenig vor der Ostwand - 0,20 m davon, 0,35 m von der Nordwand - etwa in Kniehöhe vor uns zuerst nur ein fleischfarbener Nacken mit aufgemalten roten Bändern bloß. „Lebensgroße bunte Büste der Königin“ wurde angesagt und niedergeschrieben, die Hacke beiseite gelegt und mit den Händen behutsam weitergearbeitet. Die nächsten Minuten bestätigten das Angesagte, über dem Nacken kam der untere Teil der Büste, unter ihm die Hinterseite der Königinnenperücke zum Vorschein. Bis das neue Stück ganz vom Schutte befreit war, dauerte es allerdings noch einige Zeit, da zuerst ein nördlich dicht anliegender Porträtkopf des Königs vorsichtig geborgen werden mußte. Dann wurde die bunte Büste erst herausgehoben und wir hatten das lebensvollste ägyptische Kunstwerk in Händen. Es war fast vollständig, nur die Ohren waren bestoßen und im linken Auge fehlte die Einlage. Der Schutt, auch der schon hinausgeschaffte, wurde sogleich durchsucht, zum Teil gesiebt. Es fanden sich noch einige Bruchstücke der Ohren, die Augeneinlage nicht. Erst viel später sah ich, daß sie nie vorhanden gewesen ist.
Wie war es möglich, daß diese Büste so fast unversehrt erhalten geblieben ist, während zwei Schritt davon die Büste des Königs in Stücke geschlagen und arg zugerichtet lag? Um diese Frage zu beantworten, muß man etwas weit ausholen und sich den Vorgang des Verfalls der Stadt Amenophis' IV. und des Hauses des „Oberbildhauers Thutmes“ vergegenwärtigen. In dessen Modellkammer wurde nämlich die Büste gefunden. Sein Grundstück lag westlich an der „Oberpriesterstraße“ an der Südecke einer nach Osten abzweigenden Seitenstraße. In dem auf ihm errichteten Haupthause - es befand sich noch ein zweites kleineres Wohnhaus auf diesem Grundstück - lag östlich neben der „breiten Halle“, dem Wohn- und Empfangszimmer, eine schmale Kammer (Raum 19) von 2,0 x 5,5m Grundfläche, von der „breiten Halle" aus durch eine einflügelige Tür zugänglich. In dieser Kammer standen einst auf einem Wandbord an der Längswand der Tür gegenüber neben andern dort verwahrten Modellen die beiden bunten Büsten des Königs und der Königin. Nach dem Tode des Königs oder bei einer gewaltsamen gegen ihn gerichteten Umwälzung wurde die Büste des Königs herabgerissen und in der Tür der Modellkammer zertrümmert. Die Büste der Königin blieb unbeachtet stehen - vielleicht schlug man ihr nur die Königsschlange an der Perücke ab - und stand so noch, als bei dem alsbald eintretenden Verzug der begüterten Bewohner der Stadt auch das Haus des Oberbildhauers Thutmes verlassen wurde. Sie fiel erst zu Boden, als das Wandbord, auf dem sie bis dahin gestanden hatte, vermorscht oder von weißen Ameisen angegriffen, zusammenbrach. Dabei überschlug sie sich einmal und fiel mit der oberen glatten Fläche der Perücke verhältnismäßig weich auf Nilschlammschutt, der, von Decke und Wänden herabgefallen, bereits den Boden inmitten der Kammer bedeckt haben muß. Sehr heftig kann der Aufschlag nicht gewesen sein, sonst wäre wohl der dünne Hals gebrochen. Die kleinen Verletzungen, die die Büste beim Fall davon trug, sind unbedeutend.
Als ich nach Mitternacht nach dem ersten Arbeitstage in der Modellkammer im Tagebuch, das doch stets eine Beschreibung der Funde geben soll, an die bunte Büste der Königin kam, schrieb ich, gewiß nicht, um ein paar Minuten früher schließen zu können, nur: „Beschreiben nützt nichts, ansehen!“
Borchardt, Ludwig
Porträts der Königin Nofret-ete aus den Grabungen 1912/13 in Tell El Amarna
Neudruck der Ausgabe 1923
Osnabrück 1968