1218 - Oliverus
Im Lager des 5. Kreuzfahrerheeres
Damiette, Nildelta
In der Nacht vor dem Tag des Apostels Andreas [29.11.1218] schwollen und wuchsen die Fluten des Meeres und strömten schrecklich bis ins Lager der Christen; von der anderen Seite traf uns unvorbereitet der steigende Fluß. Es schwammen die Zelte, die Lebensmittel verdarben, Fische des Meeres und des Flusses drängten in unsere Unterkünfte, als ob sie keine Furcht hätten; mit den Händen fingen wir sie; dennoch hätten wir gern auf diese Leckerbissen verzichtet. Und wenn wir nicht mit dem Beistand des Heiligen Geistes Vorsorge getroffen und schon vorher einen Graben angelegt hätten, der zu einem anderen Zweck gedacht war, hätten die vereinten Wasser von Meer und Strom Menschen und Tiere und die Schiffe mit den Waffen und Lebensmitteln zum Feind fortgetragen.
Aber dieser Gefahr entging ein Bollwerk aus vier miteinander verbundenen Schiffen nicht, das gebaut worden waren, um die Stadt einzunehmen; durch die Gewalt des Sturmes wurde es zusammen mit einem fünften Schiff ans gegenüberliegende Ufer getrieben und vor unseren Augen mit griechischem Feuer verbrannt.
Aber Gott der Herr verschonte die Konstruktion der Friesen und Teutonen, mit denen der Turm eingenommen worden war. [Zwei miteinander verbundene Schiffe mit zusätzlichen Aufbauten wie zum Beispiel Fallbrücken.] Die Lastschiffe, die im Hafen am Meer lagen, rissen sich plötzlich von den Seilen los und gingen zugrunde.
Dieser Sturm dauerte drei Tage lang. Um ihn zu beenden, befahl Gott der Herr – der sein Volk tröstet in aller Bedrängnis – dem Wind und dem Meer, von ihrem Wüten abzulassen.
Es überwältigte außerdem viele aus dem Kriegsheer eine Seuche, gegen die die Kunstfertigkeit der Ärzte kein Gegenmittel finden konnte.
Unvermutet traf der Schmerz Füße und Beine, und zugleich hinderten verdorbenes Zahnfleisch und wackelige Zähne am Kauen; die Unterschenkel bekamen eine schreckliche schwarze Farbe, die sich weit ausdehnte; viele Schmerzgeplagte gingen in großer Geduld ein zum Herrn. [Das sind die typischen Anzeichen für Skorbut, der nur durch frische Nahrungsmittel mit Vitamin C zum Verschwinden gebracht werden kann.] Einige, die bis zum Frühling aushielten, kamen von der Krankheit frei, weil die Wärme ihnen gut tat.
Hermann Hogeweg (Hg.)
Die Schriften des Kölner Domscholastikers, späteren Bischofs von Paderborn und Kardinalbischofs von S. Sabina, Oliverus (in lateinischer Sprache)
Tübingen 1894
Übersetzung: U. Keller
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende In Ägypten 2200 v. Chr. – 2000 n. Chr.
Wien 2001