Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1907 - Adolf Miethe
Mit dem Boot durch die Tempel von Philae
und Besuch der Baustelle des alten Assuan-Damms

Langsam nähern wir uns den Ruinen, die sich mehr und mehr von einander trennen und mit ihren Einzelheiten hervortreten. Zuerst umfahren wir den wundervollen, kleinen, unvollendet gebliebenen Tempelbau aus der Zeit Trajans, der bis zu den schlanken Säulen im Wasser steht. Frisch und hell heben sich die reichen Papyruskapitelle vom blauen Himmel ab; wo sie nicht vorsätzlich zertrümmert sind, so unverletzt und scharf mit ihrer bunten Ornamentik, als wären sie eben aus der Hand des Steinmetzen hervorgegangen. Sie tragen die schweren, mit weit ausladender Hohlkehle gekrönten Architrave; die Seitenwände der Schranken sind nur roh behauen und noch nicht geglättet; daneben einige Palmenwipfel aus dem stillen Wasser ragend, ein herrliches Bild, von dessen schwermütigem Zauber die Abbildungen, die jeder schon gesehen, keine irgendwie befriedigende Vorstellung geben. Dicht dabei die kräftigen, nach oben sich verjüngenden Pylonen des großen Isistempels, die tiefer gelegen bis weit über die Hälfte im Wasser stecken mögen. Zwischen zwei Säulenreihen, deren Kapitelle nur eben der Flut entragen, gleitet die Barke auf dieses schwerfällige Bauwerk zu. Riesige Relieffiguren schmücken seine glattgefügten Wandflächen. Der Pharao, einen Haufen Feinde, die er an den Schöpfen zusammenfaßt, herablassend mit der Keule erschlagend, Isis und Hathor, deren Gesichter der mohammedanischen Keuschheit zum Opfer gefallen und mit rohen Meißelschlägen getilgt sind. Die erhaltenen göttlichen Leiber stellen für einen Europäer nicht gerade Schönheitsideale dar. Wir umfahren den Pylon an der Westmauer des Tempelbaues längs der bildergeschmückten Wand, vorbei an den Trümmern des Hadriantores, dessen Quadermauern ganz mit Figuren und Hieroglyphen bedeckt sind, und landen an dem schmalen niedrigen Eingangstor zur Vorhalle des Isistempels. Das Wasser flutet über einen Teil des Steinfußbodens des ersten Stockwerks, in dessen Höhe unser Fahrzeug anlegt. Heller Sonnenglanz fällt durch die schadhafte Decke und die Türöffnungen in die dämmrige Halle mit warmgelbem Schein. Der Reflex beleuchtet phantastisch die bemalten blaugrünen Palmwedelkapitelle und schafft in dem dämmrigen Raum eine Farbensymphonie von traumhafter Schönheit.
   Auch für denjenigen, der nicht wie wir die Trümmer altägyptischer Herrlichkeit in diesem Tempel zum ersten Mal erblickt, wird das Bild von unauslöschlichem Eindruck sein. Während uns in allen übrigen ägyptischen Tempeln starre Ruhe entgegen tritt, bildet das bewegliche Element des Wassers an dieser einzigen Stelle einen unaussprechlichen Reiz und schafft eine Farbenfreudigkeit, wie sie sich an diesen ernsten Stätten sonst nirgends wiederfindet. Durch das offene Tor der Halle blicken wir hinaus auf den Tempelhof; die von Säulenhallen eingeschlossene Fläche ist von blauem glitzernden Wasser erfüllt, auf dessen Flut eine Barke schaukelt. Darüber hinaus blinkt die weite Fläche des Stausees, umgeben von den violetten Granitbergen.
   Eine Treppe führt im Innern des zweiten Pylons hinauf auf dessen Plattform, von deren Höhe aus das Auge über die weite Umgebung und die Ruinenreste im Vordergrund schweift. Besonders der Kiosk, an dem wir vorbeigefahren sind, nimmt sich von hier prächtig aus, während der Horizont im Hitzedunst des Tages mit dem blauen Himmel zusammenfließt.
   Weiter geht es dann über die Fläche des Stausees an mit Inschriften bedeckten Granitwänden, Steilstürzen und Felspartien entlang, die sich in das Wasser vorschieben. Vor uns erscheint die weiße gerade ununterbrochene Linie des Staudamms, die den Horizont im Norden begrenzt. Durch einen Palmenwald, dessen ragende Kronen wir umfahren, während die Wedel unser Boot streifen, nähern wir uns dieser schimmernden Linie und landen schließlich dicht an ihrem östlichen Ende.
   Der Staudamm, der in mehrere Kilometer langer Erstreckung das arabische Granitufer mit den goldgelben Sandwehen der libyschen Seite verbindet, ist ein großartiges, in seiner zweckmäßigen Form schönes und eindrucksvolles Werk. Auf seiner Krone, die den Spiegel des Stausees im Süden noch um einige Meter überragt, während die schön geschwungene Wallböschung nach Norden zu wohl dreißig Meter tief in das Bett des Stromes abfällt, führt zwischen hohen Granitmauern ein Schienenweg, der eine bequeme Zufahrtsstraße zur libyschen Seite bildet. Selten sind mir zwei Kilometer Weg so lang geworden wie an diesem Tage, als wir in der Sonnenglut auf dem Staudamm entlang wanderten. Brausend und donnernd entstürzen den geöffneten Schleusentoren die Wasserfluten und ergießen sich schaumbedeckt in breiten Stromschnellen zwischen die Felsen des unteren Flußbettes, weithin die Luft mit ihrem Tosen erfüllend.
   Drüben an der libyschen Seite, an der ein Schleusenwerk in den Staudamm eingebaut ist, befinden wir uns plötzlich in der geräuschvollen Umgebung arbeitender Krane, rauchender Maschinen und rasselnder Zahnräder. Hunderte von Menschen sind unten tief auf der Nordseite des Dammes mit den Vorarbeiten zu seiner Erhöhung beschäftigt. Weit ausladende Gitterkrane befördern die kubisch zugehauenen Steinblöcke von der Höhe des Dammes in die jähe Tiefe, während auf kleinen Schienenwagen weitere Blöcke und Werkstücke zugeführt werden. Von einer benachbarten Höhe aus übersieht man das ganze wunderbare Panorama mit einem Blick. Zu Füßen die weiße, schnurgerade Krone des Staudamms mit ihrer breiten von Menschen wimmelnden Fläche, daneben in der Tiefe das Flußbett von Felsen und Stromschnellen erfüllt, südlich die blauviolette Fläche des Stausees, auf der Barken, Lastkähne und flache Fahrzeuge aller Art unbeweglich in der Windstille liegen oder am Schleusentor auf ihre Durchbeförderung warten. In der Ferne am jenseitigen Ufer die flachen Granitberge der arabischen Seite, an deren Fuß sich terrassenartig ein Komplex von Gärten und wohlbewässerten grünen Rasenflächen mit einzelstehenden, niedrigen, weißgestrichenen, villenartigen Häusern schmiegt, den Wohnstätten der Ingenieure und Betriebsleiter. Ein merkwürdiges Bild in dieser menschenfeindlichen Wüste.
   Längst ist die Mittagsstunde gekommen, die Glut der Sonne hat die Luft in einem Grade erhitzt, daß die Temperatur unerträglich wäre, wenn nicht ein frischer, trockner Nordwind über die Erde dahinstriche, der Kühlung fächelt. Wir überqueren wieder den Staudamm, diesmal auf einem der kleinen Arbeitswagen, die von kräftigen Eingeborenen geschoben rasch und ruhig über den Schienenstrang gleiten. Drüben stehen unsere Esel zum Rückritt bereit, der durch das einsame sandige Wüstental nach Assuan führt. Trupps von Reitern und Kamelen wirbeln den Sand in niedrigen Staubwolken uns entgegen und nach einstündigem raschen Ritt, umweht von der kräftigen Brise, erreichen wir wieder Assuan.
   Philae und der Staudamm, zwei merkwürdige Gegensätze dicht beieinander, wie sonst wohl selten auf der Welt. Die Tempelbauten auf der Insel, Denkmäler einer großen Zeit, in der mächtige Herrscher jene Riesenbauten aufführten, um sich, ihrer Macht und ihren Göttern ein unvergängliches Denkmal zu setzen; der Staudamm ein Werkzeug in der Hand der modernen Gesittung, ebenso unvergänglich in seiner Zweckmäßigkeit, das echte Wahrzeichen unserer Zeit, ein Monument der unvergleichlichen Kraft und zielbewußten Arbeit im Dienste der Menschheit und ihres Wohlbefindens.

Miethe, Adolf
Unter der Sonne Oberägyptens
Berlin 1909

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!