Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

30. August 1905 - Max Wilhelm Meyer
Totale Sonnenfinsternis in Assuan

Außer der Station der Amerikaner hatten sich noch im Garten des Savoy-Hotels zwei weitere Expeditionen eingerichtet, die des Professors Turner von Oxford und russische Astronomen, jede mit besonders gearteten Instrumenten. Auf beiden Ufern des Nils befanden sich noch weitere Stationen. Ein ganzer internationaler Kongreß von Astronomen war hier im innersten Ägypten zusammengekommen. Es wurde immer lebhafter im Hotel. Das ganze diplomatische Corps von Kairo versammelte sich hier, um dem seltenen Ereignis beizuwohnen. Auch ein spezieller Gesandter des Khedive war erschienen. Alle Sprachen schwirrten durcheinander. Wohl hundert Personen waren am Tage der Finsternis im Hotel abgestiegen.
   Man hatte indes Sorge getragen, dass während der kritischen Zeit kein profaner Mensch, mochte er auch noch so sehr von Ordenssternen glänzen, im Gebiet der Stationen bleiben durfte. Namentlich hatte man durch einen Kordon von farbigen Polizisten das ganz in der Nähe befindliche Eingeborenendorf von uns abgeschlossen. Man konnte nicht wissen, was diese Leute in ihrer Angst im entscheidenden Augenblick abzustellen vermochten. Jedenfalls hätten sie einen Höllenlärm gemacht. Nach ihrer Ansicht frißt doch bei solcher Gelegenheit ein unsichtbarer Drache die Sonne stückweise auf, und nur durch den furchtbaren Lärm wird dann selbst dem Ungetüm so schlecht, daß es die Sonne wieder, mit Erlaubnis zu sagen, von sich gibt. Uns waren nun die Eingeborenen sehr freundlich gesinnt, denn wir hatten ihnen zu verstehen gegeben, daß wir mir unseren großen Kanonen nur deswegen gekommen seien, um das das Untier vom Himmel herunterzuschießen und jedenfalls zu vertreiben, ohne daß es der Sonne ernstlich etwas tun könne, was uns ja auch vollkommen gelungen ist. Vor fünftausend Jahren wären wir sofort deswegen zu Oberpriestern des Osiris ernannt worden.
   Schon am Tage vorher und dann wiederholt am Morgen des großen Tages wurden Generalproben an den Instrumenten gemacht. Es wurde die Finsternis markiert. Alle Mann mußten an die Gewehre. Ein Herr zählte laut die Sekunden. Professor Hussey kroch mit seiner Frau, die ihn als ein sehr geschickter und gelehrter Assistent begleitet hatte, unten ganz und gar in sein großes Fernrohr hinein, vier Herren manipulierten mit den Kassetten des vierfachen Instruments auf das Kommando Professor Wests, der von Beirut herübergekommen war, ein anderer wieder hatte den Verschluß des Instruments zu besorgen. Herr Eck wechselte die Kassetten an unserem Fernrohr. Ich exponierte: die erste Aufnahme sollte nur eine halbe Sekunde, dann die folgenden zwei, fünf, zehn, fünf, zwei und wieder eine halbe Sekunde dauern. Sieben Aufnahmen waren möglich, wenn alles klappte und man im entscheidenden Augenblick die Ruhe bewahrte wie jetzt, wo die Sonne in ungeschwächter Kraft auf uns niederbrannte.
   Der erste Kontakt des Mondes mit der Sonne, der noch nichts Besonderes für die Beobachtung darbietet, und den man ja auch überall sonst über eine weites Gebiet der Erde hin sehen konnte, sollte bei uns am Nachmittag um drei Uhr 26,6 Minuten Ortszeit erfolgen. Wir konnten also vorher ganz bequem lunchen. Aber es war besonders still diesmal, in Erwartung der großen Dinge. Obgleich wir wohl jetzt etwa zwanzig Astronomen beieinander waren, hatte doch, so viel ich erfahren konnte, noch keiner von uns vorher eine totale Finsternis gesehen. Man konnte es wohl begreifen, daß die äußere Ruhe, die man immer bewahren muß, wenn etwas Entscheidendes in unseren Händen liegt, jetzt vorher doch mehr einer inneren Beklemmung zuzuschreiben war. Wir fühlten uns vor der Entscheidungsschlacht. Das Wetter war herrlich, die Instrumente in Ordnung; der Erfolg hing nun wirklich nur noch von uns ab.
   Gegen den Anfang der partiellen Finsternis, die mehr als eine Stunde vor dem der Totalität lag, versammelten sich die Würdenträger und sonstigen Honoratioren in unserer Station, denn man hatte das jetzt noch gestattet. Alle drängen sich um mein kleines Instrument, das einzige, durch welches man in dem kleinen Suchfernrohr die Sonne direkt ansehen konnte. Zwei große Sonnenflecke waren deutlich zu erkennen, er eine ziemlich in der Mitte der Scheibe, der andere, größere, war erst am Tage zuvor am Rande durch die Sonnenrotation aufgetaucht. Er sollte noch von besonderer Wichtigkeit werden. Ich konnte so in meinem Instrument den ersten Eintritt des Mondes beobachten. Er erfolgte pünktlich auf den Bruchteil der Minute, welche diese Beobachtungsweise festzulegen gestattete. Der Mond tat also auch seine Schuldigkeit. Es war alles am Platze.
   Langsam schob sich die dunkle Schiebe weiter in die Sonne hinein. Es war wie ein Schicksal, das man langsam, aber mit unerschütterlicher Konsequenz, herannahen sah. Als die Sonne nur noch etwa wie der drei Tage alte Mond aussah, und noch eine Viertelstunde vor dem großen Augenblick lag, wurden die profanen Herrschaften gebeten, das Feld zu räumen. Wir waren unter uns mit unseren Instrumenten und der abnehmenden Sonne. Eine feierliche Stille entstand; feierlich und still auch zog der Nil vor uns hin. Eine seltsame Erscheinung zeigte sich. Die Lichtflecke, welche die Zweige der Palmen zwischen sich durchließen, nahmen jetzt alle Sichelgestalt an, der ganze Erdboden in der Umgebung unserer Instrumente wurde davon eigentümlich gezeichnet. Etwa zehn Minuten vor der Totalität bemerkte man doch schon eine deutliche Abnahme der Lichtintensität in der Landschaft. Ich hatte meinen gewöhnlichen photographischen Apparat neben dem Fernrohr aufgestellt und machte jetzt eine Aufnahme von der Landschaft, indem ich Öffnung und Geschwindigkeit ganz so ließ wie für eine volle Sonnenbeleuchtung.
   Professor West, unser Generalkommandeur, rief: »Noch fünf Minuten, meine Herren!«
   Wir gingen auf unsere Posten. Das Licht nahm schneller und schneller ab. Auf dem Nil perlten nur noch einige Reflexe der ganz schmalen Sonnensichel beinahe wie bei Mondschein. Und doch nicht. Es war eine Beleuchtungsart, die man nie vorher gesehen hatte, und ich suchte vergebens nach Vergleichen, um zu beschreiben, was ich schon hundertmal vorher hatte beschreiben müssen, ohne es wirklich gesehen zu haben. Man könnte sagen, es sei wie ein herannahendes Gewitter gewesen, aber es war kein so gelbliches Licht, es war vielmehr graublau, und dann war auch der noch vorhandene Sonnenschein nur ganz schwach, während er bei herannahenden Gewittern gerade sehr scharfe Kontraste hervorzubringen pflegt. Es war wirklich, als ob über die ganze Natur eine Ohnmacht käme, oder, vielleicht noch besser, als ob uns im Laufe dieser Minuten das Augenlicht zu schwinden begänne. Denn es änderte sich ja nichts sonst am Himmel und auf der Erde als nur die Beleuchtung.
   »Noch eine Minute; are your ready, gentlemen?«Nur noch das Zählen der Sekundenschläge unterbrach rhythmisch die unheimliche Stille.
   In den letzten zehn Sekunden nahm die Dunkelheit mit erschreckender Schnelligkeit zu. Als aber erst die letzten, über den mit Bergen besetzten Mondrand hinperlenden Sonnenstrahlen verschwunden waren, vollzog sich in der letzten Sekunde ein so vollkommener Wandel der Szenerie, dass man trotz aller Vorbereitungen völlig davon überrascht war, und es mir durch und durch ging. Es war wie ein Riß durch die Natur. War es vorher dunkel, so wurde es jetzt im ersten Augenblick plötzlich ganz finster, wie in schwarzer Nacht, bis sich das Auge einigermaßen akkommodiert hatte. Ebenso plötzlich, als ob im Laufe der letzten Sekunde durch das transparente Himmelsgewölbe der geheimnisvolle Schein von einem Jenseits herüberglimmte, trat der silberne Strahlenkranz der Korona hervor; es war, als ob dieses Licht jetzt eben erst von der Stelle, wo die Sonne nun gänzlich verschwunden war, ausginge und mit Schnelligkeit in den dunklen Raum hinausgeschleudert würde. Weil der Ort, wo vordem die Sonne stand, jetzt dieselbe Dunkelheit und Färbung wie der übrige Himmel besaß, sogar durch Kontrastwirkung mit der Korona noch etwas dunkler erschien, so hatte man den verwirrenden Eindruck, als ob das Tagesgestirn wirklich aus der Welt gekommen wäre, in nichts zerfloß, diesen gespenstischen Schein rings um die entstandene Leere zurücklassend, und als ob die ganze Natur nur noch eine Schattenexistenz besäße. Am Horizont lagerte ein düster orangegelber Schein, von den Teilen unserer Atmosphäre herrührend, die nicht mehr vom Kernschatten des Mondes getroffen werden. Dieses gelbe Licht teilte sich den Gesichtern mit, so daß auch die Menschen nur noch wie fahle Schatten aussahen.
   Die Pulse der irdischen Natur stockten, sie selbst schien auf ihrem Weg einzuhalten. Man kann sicher sein, daß jeder, auch der Stumpfsinnigste, seine Schritte anhielt, als der Mondschatten über ihn hinwegsauste. Charakteristisch war es in dieser Hinsicht, daß der Maschinenführer eines Zuges, der sich noch einige Kilometer vor dem Bahnhof von Assuan auf der Fahrt befand, den Zug unter dem verwirrenden Eindruck der einbrechenden Dunkelheit anhalten ließ, wie vor einem gefahrdrohenden Hindernis. Unser schwarzer Diener, dem man erlaubt hatte, im Heiligtum unserer Station zu bleiben, und der bis dahin mit gekreuzten Armen dagestanden hatte, duckte sich plötzlich, als ob er meinte, es fiele etwas vom Himmel auf ihn herab, dann wollte er fortlaufen, gewann aber doch angesichts der Ruhe, die wir bewahrten, seine Grandezza wieder und hielt die Sache weiter bis zum Schluss mit gekreuzten Armen aus.
   Nur wenige Augenblicke lang durfte ich den Eindruck des großen Schauspiels in mich aufnehmen, der eine Summe der seltensten Empfindungen weckte. Jetzt hieß es arbeiten. Die erste Exposition von einer halben Sekunde wurde gemacht. Nun hatte Herr Eck die Kassette zu wechseln. Ja, aber man konnte die Hand nicht vor Augen sehen. Alle Vorübungen verhinderten nicht, daß einige Sekunden mehr als erwartet verloren gingen, ehe die zweite Platte zur Aufnahme bereit war. Aber alle anderen Aufnahmen gingen glatt von statten. Die Augen hatten sich gewöhnt, die anfangs doch tief ergriffenen Sinne sich beruhigt. zur Zeit der Mitte machte ich programmgemäß zwei Aufnahmen zugleich: mit der einen Hand öffnete ich den Verschluß des Fernrohrs, mit der anderen den des gewöhnlichen photographischen Apparates, beides mit zehn Sekunden Belichtung. Ich spielte gewissermaßen zweihändig auf meinen Instrumenten. Daß man bei allen diesen Dingen nicht mehr zu einem Genuß des seltenen Schauspiels kam, läßt sich denken. Aber zwei rote Flammen, Protuberanzen, die über den Mondrand hervorglühten, konnte ich mit bloßem Auge deutlich sehen und einige Strahlenbüschel der Korona in ihrer eigentümlichen Form bis etwa anderthalb Sonnendurchmesser am Himmel verfolgen. Einige Sterne glänzen am Himmel, namentlich Venus.
   Aber ehe an sich versah, viel schneller, als man sonst den Eindruck einer Zeitspanne von zweieinhalb Minuten hat, blitzte der erste Sonnenstrahl über den Mondrand hinweg, die Korona zog sich wieder in sich selbst zusammen; schneller, als verschwunden war, schien die alltägliche Beleuchtung wiederzukommen.
   Wir atmeten alle tief auf. Unsere Arbeit war getan. Alles war nach Vorschrift verlaufen. Wir sicherten das köstliche Gut unserer lichtverschlossenen Kassetten im Dunkelzimmer.

Meyer, Max Wilhelm
Ägyptische Finsternis
Stuttgart 1905

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