1930-31 - Ernst Sorge
Mit Alfred Wegener auf Grönland: Überwinterung in »Eismitte«
Grönland
Vom 13. September 1930 an waren wir zwei Mann in Eismitte, Georgi als Stationsleiter und Meteorologe, ich als sein Kamerad und Glaziologe. Wir wohnten zuerst im Zelt und hatten mit den Wetterbeobachtungen, Ballonaufstiegen und dem Bau von unterirdischen Gängen und Räumen für die Überwinterung genug zu tun.
Am 4. Oktober bekamen wir unerwarteten Besuch. Auf unseren Proviantkisten kletterte ein Polarfuchs herum und knabberte an leeren Säcken, in denen Reste von Walfleisch waren. Welch ein wundervolles Tier, schneeweiß, anmutig und überaus zierlich! Wie flink läuft und springt es! Aus zehn Meter Abstand können wir ihn fotografieren und sogar filmen. Welch eine Leistung von dem kleinen Tier, 400 Kilometer weit zu kommen! Er ist sicherlich der Schlittenspur gefolgt und hat sich von dem Abfall der Menschen und Hunde genährt.
Am nächsten Morgen hatten wir im Zelt -37 °C und beschlossen nun, unter die Schneeoberfläche zu ziehen, um vor der erbarmungslosen Kälte Schutz zu suchen. Wir hatten damit großes Glück.
Das grönländische Inlandeis besteht in den oberen Schichten aus Firn. Er hat etwa dieselbe körnige Beschaffenheit wie nasse Reiskörner, die in der Kälte zusammenfrieren. Dieser Firn erwies sich als ein vorzüglicher, leicht zu bearbeitender, sehr fester Baustoff und zugleich als ausgezeichneter Kälteschutz. Wir hatten in den letzten Wochen mit Messer, Fuchsschwanzsäge und Spaten unterirdische Gänge und Räume aus dem Firn herausgeschnitten. Am 5. Oktober zogen wir um, das heißt, wir brachten unsere Ausrüstung in die Firnhöhle und schliefen von nun an nicht mehr im Zelt, sondern unten. Die Firndecke von 1,6 Meter Stärke hielt jede Kälte ab. Schlafkojen aus Firn waren beim Ausschachten gleich stehen gelassen worden. Der Zugang zur Firnhöhle wurde durch drei Vorhänge aus Säcken, Gummi und Rentierfellen abgeschlossen.
Unser erster und stärkster Eindruck war der, als ob wir in einer Krypta aufgebahrt lägen. Alles weiß wie Marmor, unsere Lager rechtwinklig wie Marmorsockel von Sarkophagen. Zauberhaft blau schimmerte von oben der letzte Rest des Tageslichtes durch die Firndecke. Dazu das matte Licht einer kleinen Lampe, die das Gewölbe geisterhaft unwirklich erhellte, sodass man den Raum erst nach und nach auftauchen sah. Alles machte auf uns einen geheimnisvollen, etwas unheimlichen Eindruck. Aber wir fühlten uns in dem von keinem Wind beunruhigten Raum bald geborgen. Die kleine, von Georgi aus einer Konservenbüchse und fotografischen Glasplatten angefertigte Petroleumlampe bewährte sich vorzüglich.
Niemand ist so mit dem Firn vertraut wie wir. Braucht man Firn zum Wasserkochen, so schneidet man sich ein Stück aus der Wand heraus. Durch Wiederholung dieses Verfahrens entstehen zugleich nützliche Wandschränke. Will man Abwaschwasser oder sonstige Flüssigkeiten fortgießen, so sticht man mit dem Skistock ein Loch in den Boden und gießt das Zeug hinein. Es verschwindet spurlos. Ist das Lager zu hoch oder zu schräg, so nimmt man Schlafsack, Strohsack und Rentierfelle fort und schneidet es sich passend zurecht. Steht eine Kiste auf dem Boden wacklig, so dreht man sie einige Male hin und her, dann steht sie tadellos fest. Will man etwas an der Wand aufhängen, so braucht man nur einen Draht oder einen Holzpflock in die Wand zu stechen und hat sogleich die besten Wandhaken für Töpfe, Kleidung und Instrumente.
Am 7. Oktober wollte das Petroleum nicht brennen. Es hatte sich wahrscheinlich durch die Kälte entmischt. Unser Wohnraum war voll Ruß und Qualm und stank scheußlich. Die Flamme wurde schnell kleiner. Da stießen wir durch die Decke mit dem Skistock ein Loch und konnten wieder aufatmen. Auch die Lampe strahlte hell vor Freude über die frische Luft. Überhaupt war die Lampe äußerst empfindlich für Kohlensäure und zeigte schlechte Luft lange an, bevor wir etwas merkten. Das war natürlich beruhigend. Bei Schneesturm verschlossen wir das Luftloch oben durch einen Holzdeckel. Außerdem ließ sich der Luftzug durch eine drehbare Blechscheibe im Luftloch regeln.
Am 10. Oktober fiel die Temperatur auf -52 Grad. Bei diesen Kältegraden bildete sich aus dem Schornstein unseres Luftlochs kilometerweit eine Nebelfahne. Sie begann erst etwa hundert Meter entfernt und zog dann in unabsehbarer Weite am Boden dahin. Beim Ausatmen knisterte unser Atemhauch so ähnlich wie das Geräusch eines Ruderbootes beim Hineinfahren in Schilf oder Binsen. Der Wasserdampf der Atemluft gefror sofort zu Eiskristallen; daher das Knistern.
Abends gingen wir noch mehrmals hinaus, um die tiefe Temperatur zu »genießen«. Wir hatten nämlich zum ersten Mal unter -50 Grad, dazu Mondschein und einen wunderbaren Sternenhimmel. Wir begriffen allmählich Nansens Begeisterung für die Polarnacht.
Unser Polarfuchs kam täglich aus seiner Höhle und holte sich ein Stückchen Walfleisch, das wir ihm hinlegten. Er war gar nicht mehr scheu und lief bis auf zwei Meter heran. Leider sahen wir ihn am 22. Oktober zum letzten Mal. Er blieb spurlos verschwunden und wird wohl wieder zur Küste zurückgelaufen sein.
Wir warteten und warteten auf die vierte Schlittenreise, die uns Winterhaus, Petroleum und Instrumente bringen sollte. Aber niemand kam. Nach unserem Brief vom 13. September an Wegener sollten wir am 20. Oktober zur Küste abmarschieren. Nun gaben wir eine Woche Wartezeit zu. Aber auch bis zum 27. kam niemand. Und da fassten wir nach gründlicher Überlegung den Entschluss, entgegen unserer Mitteilung den Winter über in Eismitte zu bleiben. Uns war bekannt, dass die Station ein Hauptpunkt in Wegeners Programm war. Und da wir nunmehr in unserer Firnhöhle eine Lebensmöglichkeit während des Winters sahen, blieben wir hier. Am meisten bedauerten wir das Fehlen von Radio. Es gab keine Möglichkeit, die Kameraden von unserer Lage zu benachrichtigen. Wir hofften nur, dass keine Schlittenreise unterwegs war. Sie dürfte ohne Erfrierungen kaum abgehen.
Bald merkten wir, dass unser kleiner Ofen mehr Petroleum verbrauchte, als wir uns leisten konnten. Anfangs ließen wir ihn täglich zehn bis zwölf Stunden brennen, Ende Oktober nur noch wenige Stunden nachmittags. Um Körperwärme zu sparen, krochen wir auch am Tage zwischen den Arbeiten oft in die Schlafsäcke. So war es auch am 30. Oktober vormittags. Da hörten wir plötzlich über uns einen Hundeschlitten rauschen, unverkennbar. Hurra! Sie kommen! Wir springen hinaus und laufen die Treppe hinauf ins Freie. Der Grönländer Villumsen ist da. Wir führen ihn ins Haus und ziehen ihm seine vereisten Pelze aus. In wenigen Minuten sind auch Wegener und Loewe da. Riesengroße Freude, aber keine reine, denn Loewe hat sich die Zehen, Hacken und Finger blau gefroren. Er wird gleich ausgezogen, auf eine Koje in einen warmen, trockenen Schlafsack gelegt und von Georgi und mir abwechselnd massiert. Dabei wird unendlich viel erzählt.
Georgi und ich staunen immer wieder über die kaum glaubliche Leistung, bei Temperaturen von unter -50 Grad gegen den Wind mit Hundeschlitten zu reisen. Und dass Loewe das sogar die letzten vier Tage noch mit erfrorenen Zehen durchgehalten hatte! Es machte auf uns fast einen übernatürlichen Eindruck, dass Wegener so frisch, froh und gesund aussah wie nach einem Spaziergang. Der Gegensatz zwischen der Temperatur von -5 °C in unserem Zimmer und der Kälte draußen war so groß, unser Raum war so wohnlich eingerichtet im Vergleich mit dem Reisezelt, dass Wegener ein über das andere Mal ausrief: »Ist das hier gemütlich! Ist das hier gemütlich!« Wegeners Energie war durch vierzigtägige harte Schlittenreise nicht erschöpft, im Gegenteil: Sie war erst richtig angefacht worden. Er hielt jetzt sozusagen nichts mehr für unmöglich. Er freute sich, dass wir uns entschlossen hatten, in Eismitte zu überwintern. Den Ausfall dieser Station im Expeditionsplan hätte er nie verschmerzt. Er war so fest entschlossen, Eismitte aufrechtzuerhalten, dass er sogar vorschlug, notfalls mit Loewe zusammen zu überwintern, wenn wir es für zu gewagt hielten. Stundenlang machte er Eintragungen in sein Tagebuch; wir mussten ihm von unseren bisherigen wissenschaftlichen Messungen berichten, und er notierte sich die Wetterbeobachtungen genauso wie die Messungen der Firnschichten. Zwischendurch wurde fast ununterbrochen gegessen und Kaffee getrunken. Ausführlich wurden die Expeditionspläne fürs nächste Jahr besprochen. Während im Expeditionsprogramm nur von einer einzigen Durchquerung Grönlands nach Scoresby-Sund zur Oststation die Rede war, schlug Wegener nun sogar zwei Durchquerungen vor, nach Scoresby-Sund und nach Angmagsalik. Wir mussten die Ausrüstung für diese Durchquerungen aufschreiben, und Wegener steckte die Zettel ins Tagebuch, um uns im nächsten Frühjahr das Gewünschte zu schicken.
Wegener hielt es für das Richtigste, wenn Loewe bei uns in Eismitte blieb. Hier konnte er in Ruhe gepflegt werden, so wenig Hilfsmittel wir auch hatten, während die Rückreise für ihn wahrscheinlich den Tod bedeuten würde. Der Proviant von Eismitte langte bei sparsamem Verbrauch für drei Mann. Ja, Wegener und Rasmus konnten für die Rückreise noch 135 Kilogramm Lebensmittel und eine Kanne Petroleum mitbekommen. Zwei Nächte schliefen wir zu fünf Mann etwas eng, aber warm in der Firnhöhle. Am 1. November feierten wir alle zusammen Wegeners 50. Geburtstag. Und dann reisten er und Rasmus mit zwei Schlitten und 17 Hunden nach Westen zurück. Es war wärmer geworden, -39 °C, halb bedeckt und leichter Südostwind, also glänzendes Reisewetter; die Hunde waren durch die Kälte ziemlich schlapp geworden, aber die Schlitten waren leicht zu ziehen, und nun ging's mit dem Wind und mit Zuversicht zur Küste zurück. Als wir den beiden Männern nachsahen, ahnten wir nicht, dass wie sie zum letzten Mal lebend sahen.
Nun waren wir für ein halbes Jahr von der Welt abgeschnitten, angewiesen auf uns selbst und auf unsere Ausrüstung, die im Umkreis von 20 Metern lag. Da wir von nun an drei Mann waren, wurde an der Schmalseite des Wohnraumes aus der Wand eine neue Schlafkoje herausgeschnitten. Georgi baute eine neue große Petroleumlampe. Sie bekam sogar eine Vorrichtung zum Höher- und Tieferschrauben des Dochtes, und zwar dienten dazu eine gezähnte Stange und der Schlüssel einer Ölsardinenbüchse. Diese große Lampe beleuchtete den Tisch, an dem Georgi und ich arbeiteten: Loewe bekam die kleine als Leselampe. Darüber wurde an einem Draht eine Blechbüchse voll Schnee aufgehängt. Auf diese Weise wurde das Tropfen des Firns von der Decke verhindert und außerdem Loewes Durst durch stets frisches Schmelzwasser gestillt.
In wenigen Tagen entschied das Schicksal über Loewes Zehen. Sie waren nicht mehr zu retten. Am 9. November sahen sie ganz entstellt und eingefallen aus. Die Sehnen ragten schon als Rippen über das zersetzte Fleisch empor. Georgi schliff sein Taschenmesser so scharf und dünn wie eine Rasierklinge – schweren Herzens; denn der Liebesdienst, den er Loewe morgen erweisen sollte, kostete wahrhaftig Überwindung. Bange Erwartung ließ uns in der Nacht nicht zum Schlafen kommen. Ausnahmsweise wurde am 10. November der Ofen geheizt und neben Loewes Koje gesetzt; denn Loewe konnte bei der Operation unmöglich sein nacktes Bein längere Zeit in den kalten Raum (-8 °C) hinausstrecken. Auf dem Petroleumkocher wurde Firn geschmolzen, um warmes Wasser zum Auswaschen und Reinigen der Wunden zu bekommen. Wir versuchten zuerst, die Zehen durch Schnee von -6 °C örtlich zu betäuben, aber anscheinend ohne Erfolg. Der Schnee war wohl nicht kalt genug. Aber ein neues künstliches Frierenlassen der Gliedmaßen erschien uns zu gewagt. Daher schnitt Georgi schließlich mit seinem scharfen Messer das Fleisch rings um die Zehenwurzeln ab, kniff den fünften bis zweiten Zehenknochen mit einer Blechschere durch und trennte die sehr empfindliche große Zehe an der weichsten Stelle durch. Ich hatte die Aufgabe, mit der Taschenlampe zu leuchten und mit meinem Körpergewicht Loewes Bein festzuhalten. Georgis Geschicklichkeit bei dieser schwierigen Operation war ebenso bewundernswert wie Loewes tapferes Aushalten. Wir hatten ja keine Betäubungsmittel! Danach wurden die frisch und lebhaft blutenden Wunden mit einer Chinosollösung ausgewaschen und mit Watte und Mullbinden verbunden. Loewe war nach der Operation sehr aufgeräumt und gesprächig. Die Spannung und die Qual hatten nachgelassen.
Fünf Tage später mussten auch Loewes Zehen des linken Fußes dran glauben. Wieder vollzog Georgi die Operation mit einer Feinfühligkeit, um die ihn wohl mancher Berufsarzt beneiden könnte. Von nun an wurde der Ofen nur noch kurze Zeit angesteckt, wenn die Wunden ausgewaschen und verbunden wurden. Im Ganzen konnten wir nur 1,3 Liter Petroleum täglich verbrauchen. Das reichte gerade für das Kochen und die Beleuchtung. Wegener hatte die vier- bis fünffache Menge für Eismitte vorgesehen, doch hatten wir sie nicht mehr erhalten können.
Je besser wir die verschiedenen Schwierigkeiten und die Mittel zu ihrer Bekämpfung kennenlernten, desto heimischer fühlten wir uns in Eismitte. Unsere Lebensweise wurde außerordentlich regelmäßig. Jeder Gegenstand hatte seinen bestimmten Platz, jede Tätigkeit war geregelt. Morgens um 7.20 Uhr nach mittlerer grönländischer Zeit schnarrte der Wecker, der an einem Holzpflock an der Decke über Georgis Koje hing. Georgi, der meist nackt im Rentierschlafsack schlief, zündete Loewes Petroleumlampe an, sprang heraus, fuhr in seine Pelzstiefel und ging zu seiner Sitzkiste am Tisch, die mit einem Stapel eiskalter Kleidung belegt war: Hemd, Unterhose, Tuchhose, Seehundhose, Windjacke und Hundepelz. Während des Anziehens heizte er den Petroleumkocher mit einem Stückchen Hartspiritus an. Wenn der Primus brannte, war das Schlimmste überstanden. Nun konnte er sich die Hände wärmen. Er putzte die Glasscheiben der beiden Lampen mit Papier, holte aus einer Wandnische einen Topf voll Firn und setzte ihn auf den Kocher. Genau um 7.35 Uhr zündete er die Kerze einer kleinen Glaslaterne an, stülpte sich die Kapuze über den Kopf, hing sich eine in Wollstrümpfe eingepackte elektrische Taschenlampe mit einem Pinsel zum Abwischen der Instrumente um, zog Pelzhandschuhe an, nahm das Wetterbuch mit dem daran befestigten Bleistift und eilte ins Dunkel der Nacht hinaus, um die Morgenbeobachtung des Wetters zu machen. Nach einer Viertelstunde kam er wieder zurück, manchmal mit dem zufriedenen Ruf: »Neuer Kälterekord, -61 °C, wenig Wind», manchmal über und über mit Schnee bedeckt und schimpfend: »So ein Sauwetter, nur -25 °C und dazu 15 m Wind. Wer bloß dieses Märchen von dem schönen Wetter in Grönland aufgebracht hat! Der ganze Eingang voller Schnee! Da kann man wieder einen halben Tag nichts als Schnee schaufeln!« Dabei bürstete er den Schnee aus dem Anzug und notierte noch einiges in das Tagebuch. Eine Wetterbeobachtung bei Schneesturm war tatsächlich jedes Mal eine kleine Expedition. Im Dunkel der Nacht und bei Schneegestöber stolperte man fortwährend über die unsichtbaren Schneewehen, konnte sich leicht verirren und den Rückweg verlieren.
Inzwischen war der Firn im Topf geschmolzen, das Wasser begann zu kochen, und Georgi bereitete eine seiner berühmten Hafergrützen, die sich niemals wiederholten – und sich vielleicht auch niemals wiederholen werden. Im Lauf der Zeit gab es Hafergrütze mit Aprikosen, mit Backpflaumen, mit Dropsbonbons, mit kristallisierter Zitronensäure, mit Schokolade, mit Kaffee, mit Bouillonwürfeln, mit Brotresten, mit Schweinesülze, mit zerlassener Butter und Zucker, mit brauner Butter, mit kondensierter Milch oder nur mit Salz und Wasser, mit Dörrgemüse, mit Zwiebeln, mit Bananen, mit Mirabellensaft, mit Apfelsinenschalen. Jeder Grad von Verdünnung und Verdickung und jede Mischung wurde erprobt. Die Hafergrütze war gewissermaßen ewig neu. Gleichmäßig blieb allein ein unfreiwilliger Zusatz von Rentierhaaren, ohne die es nun mal nicht ging, da wir dauernd in inniger Berührung mit unseren Rentierschlafsäcken und -fellen lebten. Am besten aß sich daher die Hafergrütze mit Löffel und Pinzette. Bevor die Hafergrütze verteilt wurde, röstete Georgi für jeden einige Stücke Knäckebrot. Ebenso laut wie auf den Bahnhöfen die Verkäufer warme Würstchen und Zeitungen anpreisen, rief Georgi jeden Morgen in paar Mal: »Es gibt jetzt Knäckebrot!« Und dann wurden wir, noch in den Schafsäcken, gefüttert. Man brauchte dabei keinen Finger zu rühren, nicht einmal die Augen zu öffnen. Es genügte, auf Georgis Signal den Mund aufzuklappen, und alsbald schob sich ein duftendes Stück Knäckebrot mit einem Klumpen Butter durch die Zähne. Das wiederholte sich etwa fünfmal, und dann kam der Litertopf voll Hafergrütze. Gewöhnlich setzte ich den heißen Topf auf meine vereisten Handschuhe und trocknete sie damit jeden Morgen beim Frühstück.
Vormittags arbeitete Georgi je nach dem Wetter draußen oder drinnen. Seine Aufgabe war es zum Beispiel, die Schneemauer, die unseren Eingang gegen Schneeverwehung schützte, instand zu halten und immer höher zu bauen. Eine Unsumme von Arbeit steckte darin, wenn man bedenkt, dass durch die Schneestürme rings um die Schneemauer eine stets höher wachsende Schneewehe zusammengeweht wurde, sodass die Schneemauer damit um die Wette immer höher gebaut werden musste. Und trotz der gewaltigen Schneemauer wehte noch immer so viel Schnee auf unsere Treppe, dass nach jedem Schneesturm etwa 20 Kisten voll Schnee ins Freie getragen werden mussten. Die Gewalt der Schneestürme war so groß, dass die Mauer wie von einem Sandstrahlgebläse zerfressen, ja stellenweise sogar eingedrückt wurde.
Stunden um Stunden verbrachte Georgi damit, Instrumente in Ordnung zu bringen. Zum Beispiel blieb das Schalenkreuzanemometer, das durch seine Umdrehungen die Windgeschwindigkeit angibt, oft stehen, wenn die Achsen und Lager bereift waren. Dann ging Georgi hinaus, nahm es von der Stange an und brachte es in den Wohnraum. Durch den großen Temperaturunterschied beschlug es natürlich sofort. Er nahm es auseinander, reinigte vorsichtig alle Teile, setzte sie wieder zusammen, wärmte das Ganze über dem Petroleumkocher an und brachte es wieder ins Freie. Eine viertel Stunde später ging er nochmal hinaus, um nachzusehen, ob es sich drehte. Häufig stand es schon wieder still. Geduldig wiederholte er seine ganze Arbeit nicht nur einmal, sondern drei-, vier- und fünfmal mit solcher Beharrlichkeit, bis es zuletzt lief. Solche Arbeiten machen unter gewöhnlichen Verhältnissen keine Mühe, verlangten aber bei unseren Temperaturen die ganze Kraft eines sehr energischen Menschen. Man muss sich dabei vorstellen, dass es am Boden unseres Wohnraumes -15 und auf dem Tisch -10 bis 5 °C kalt war, dass alle Metallteile, die von draußen kamen, wesentlich kälter waren und beim Auseinandernehmen und Zusammensetzen mit bloßen Fingern angefasst werden mussten. Durch diese Arbeiten wurden Georgis Füße und Hände so kalt, dass er sich hinterher gleich in den Schlafsack legen und aufwärmen musste.
Einen glänzenden Erfolg erzielte Georgi beim Betrieb des Thermographen, also des Apparats zum Aufzeichnen der Lufttemperaturen. Auf allen früheren Polarexpeditionen hatten die Uhrwerke bei tiefen Temperaturen Schwierigkeiten gemacht und unterhalb -45 °C überhaupt versagt. Es glückte Georgi durch Einbau einer zweiten Feder, das Uhrwerk dauernd in Betrieb zu halten, sodass wir nurmehr lückenlose Registrierungen bis zu den größten Kältegraden, -65 °C, besitzen.
Der Montagvormittag brachte Georgi jedes Mal eine besondere Arbeit. Da mussten nämlich die Registrierstreifen auf den Trommeln der Instrumente gewechselt werden. Auch diese Arbeit, die unter gewöhnlichen Verhältnissen dem Meteorologen schnell von der Hand geht, war bei unseren Temperaturen langwierig und umständlich, da jeder Griff an den Metallteilen mit bloßen Fingern gemacht werden musste. Der Vormittag verging im Fluge bei solcher Tätigkeit.
Ein schwieriges und schmerzliches Kapitel war das Entwickeln fotografischer Platten. Jedes bisschen Wasser zum Entwickeln, Fixieren und Wässern musste aus Schnee gewonnen werden. Das dauerte allein schon einen halben Tag und verursachte bei unserem geringen Brennstoffvorrat erstmal Gewissensbisse. Und bei unseren Zimmertemperaturen konnten die Platten nur in einem von Georgi besonders angefertigten Trockenofen getrocknet werden. Froren die nassen Platten, so zerstörten die Eiskristalle die Filmschicht, wurden die Platten zu warm, so löste sich die Filmschicht ab. Manche unersetzliche Aufnahme ist dabei verlorengegangen. Platten trocknen bedeutete Stunden der Angst. Aber Georgi bekam es fertig!
Die Nachmittage waren durch die beiden Wetterbeobachtungen um 13.40 und 20.40 Uhr begrenzt. Die Mahlzeiten folgten genau diesen Beobachtungen. Da meine Schlafkoje unmittelbar am Tisch lag, konnte ich mich durch eine einfache Drehung im Schlafsack an den Tisch setzen und lesen, schreiben und zeichnen. Das war überhaupt die einzige Art, am Tisch zu sitzen, ohne kalte Füße zu bekommen. Freilich musste man alle paar Minuten die Hände in den Schlafsack stecken, um sie wieder anzuwärmen. Mit Tinte zu schreiben war unmöglich, da sie sofort in dicken Klumpen am Federhalter festfror.
Von meinem Sitzplatz aus konnte ich alle Küchengegenstände und Nahrungsmittel erreichen und so sehr bequem das Mittagessen kochen. Es bestand gewöhnlich aus Fleisch- und Gemüsekonserven, zum Beispiel Gulasch, Labskaus, Rollfleisch, Corned Beef oder Pemmikan. Die Lebensmittel in den Büchsen waren natürlich steinhart gefroren und mussten erst über dem Kocher aufgetaut werden, um sie aus den Büchsen herauszubekommen. Die Kälte hatte andererseits auch wieder Vorteile. Wenn zum Beispiel vom Essen etwas übriggeblieben war (Erbswurst wurde stets gleich für zwei Mahlzeiten gekocht), ließen wir es im Topf einfach frieren, hielten es dann einen Augenblick übers Feuer und konnten es wie einen Kuchen stürzen. Solche gefrorenen Mahlzeiten in Tortenform wurden in unserer Küchenkiste aufbewahrt und bei Bedarf wieder verwendet.
An Festtagen gab es frisches Fleisch. Wir hatten 20 Kilogramm Walfleisch mitgebracht, das sich in gefrorenem Zustand tadellos hielt. Davon wurde an Geburtstagen, zu Weihnachten und Ostern jedes Mal ein Stück abgesägt und mit viel Butter und wenig Wasser im Topf geschmort. Es ähnelt etwa Hirschfleisch und schmeckt delikat.
Sonntags bekam jeder einen Apfel oder eine Apfelsine. Unsere beiden Obstkisten standen im »Frachtraum« dauernd bei -30 °C. Die Früchte waren daher stets hart gefroren und klangen beim Aneinanderschlagen wie Billardbälle. Sie wurden bei Bedarf in warmem Wasser aufgetaut und schmeckten ganz frisch. Wir schätzten dieses frische Obst überhaupt am höchsten von allen unseren Nahrungsmitteln.
Nachmittags saß Georgi gewöhnlich im Schlafsack am Tisch und arbeitete, trocknete und flickte Handschuhe, Pelzstrümpfe oder den Schlafsack, schrieb Tagebuch, berechnete und zeichnete Wetterkurven, eifrig dabei unterstützt von Loewe, der alles auswendig berechnete. Oder Georgi legte sich auf seine Koje in den Schlafsack, um sich von der Vormittagsarbeit auszuruhen und anzuwärmen. Es war unmöglich, bei unseren Temperaturen den ganzen Tag auf zu sein.
Nach dem Mittagessen zog ich mich an und stieg zu meiner Hauptarbeitsstätte hinab, in den Schacht. Unsere Arbeiten waren genau durch die Schneeoberfläche abgegrenzt. Alles, was darüber lag, wurde von Georgi untersucht, alles was darunter lag, gehörte zu meinem Arbeitsfeld. Meine Aufgabe bestand darin, die physikalischen Eigenschaften des Firns zu untersuchen. Zu diesem Zweck baute ich im Lauf des Winters einen 15 Meter tiefen Schacht. Diese Arbeit wurde durch verschiedene Umstände erschwert. Sie musste von mir allein ausgeführt werden, denn Georgi war selbst voll beschäftigt. Wir hatten kein Seil zum Heraufziehen des losgeschlagenen Firns, wir hatten auch keine Strickleiter zum Herauf- und Hinabsteigen. Schließlich hatten wir auch keine Beleuchtung. Unter diesen Umständen war ein Unglücksfall durch Absturz sehr wahrscheinlich. Daher wurde der Schacht nicht senkrecht, sondern als Treppe mit einer Neigung von 40 bis 60 Grad elf Meter tief hinabgeführt, und nur die untersten vier Meter waren senkrecht. Er bildete die Verlängerung des unterirdischen Hauptganges und wurde von ihm durch eine hölzerne Klapptür abgeschlossen. Der Einbau dieser Tür dauerte mehrere Tage. Mit Hilfe von Firnblöcken und einem Brei aus Schnee und Wasser, der als Mörtel diente, wurde der Gang an einer Stelle verengt und durch eine halbmeterhohe Schwelle unterbrochen. Mit Wasser eingeeiste Bretter bildeten den Türrahmen. Die Tür selbst wurde aus Kistenbrettern genagelt und mit zwei Holzpflöcken an der Firndecke angehängt. Durch das Gewicht einer Corned-Beef-Büchse wurde sie gegen den Rahmen und die Schwelle gepresst. Säcke dichteten die Ritzen ab, sodass ein Luftaustausch zwischen Schacht und Gang verhindert wurde. Die Temperatur im Schacht durfte nämlich möglichst wenig gestört werden.
Als Beleuchtung während des Arbeitens im Schacht diente mir eine kleine, selbst gefertigte Petroleumlampe, die stets unter einer Büchse mit Schnee hing, um die Wärme der Flamme unschädlich zu machen. Die Lampe war auf einem zugespitzten Brett befestigt, das an verschiedenen Stellen in die Schachtwand gestoßen werden konnte. Bis in acht Meter Tiefe konnte ich mit der Säge Blöcke herausschneiden, die Treppe hinaufwerfen und durch den Gang ins Freie tragen. In größeren Tiefen ließ sich der Firn nur noch mit dem Beil in Stücke schlagen. Diese wurden mit einem Pionierspaten in einen Zeltsack geschaufelt und hinausgetragen. In fünfstündiger Arbeit schaffte ich durchschnittlich acht Säcke mit 100 Kilogramm Firn nach oben. Die dünne Luft in 3.000 Meter Meereshöhe zwang dabei oft zu Atempausen. Nach fünf Monaten war der Schacht 15 Meter tief, senkrecht von der Oberfläche gemessen. Seine wirkliche Länge betrug 19 Meter, mit dem unterirdischen Zugang 24 Meter.
In diesem Schacht wurden von Meter zu Meter Tiefe mit einem behelfsmäßigen Stoßbohrer einen Meter lange Löcher in die Seitenwand gebohrt. Da unser Bohrgerät nicht nach Eismitte gebracht werden konnte, war dieser Bohrer nichts weiter als ein Skistock, auf dessen Spitze ein zugeschärftes und gezähntes Messingrohr - ursprünglich ein Stativfuß von einem Registrierapparat - befestigt wurde. Glücklicherweise hatten wir drei solche Stativfüße. Zwei zersplitterten im Laufe des Winters beim Bohren in dem harten Firn und waren verbraucht. Die Löcher im Schacht dienten zur Aufnahme von Thermometern und wurden durch Pfropfen aus Sackleinen und Konservenbüchsen stets sorgfältig verschlossen gehalten. Nachmittags las ich jeden zweiten Tag die Thermometer ab und konnte dabei im Laufe des Winters das Eindringen der Wärme vom Sommer 1930 in den Firn beobachten. Wie schlecht der Firn die Wärme weiterleitet, kann man daraus sehen, dass die Sommerwärme im Januar 1931 bis sechs Meter und im Juli 1931 bis 13 Meter Tiefe eingedrungen war. In jedem Monat rückte also die Wärme rund einen Meter abwärts. Ihre Wirkung schwächte sich dabei mit der Tiefe schnell ab. Im tiefsten Bohrloch, 16,6 Meter unter der Oberfläche, herrschte stets die Temperatur von 28,5 °C. Die Einwirkung der Jahreszeiten war in dieser Tiefe nicht mehr zu bemerken.
Oft schnitt ich mir aus dem Schacht genau quaderförmige Firnblöcke heraus, stellte sie auf den Tisch und in unserer Höhle, maß Länge, Breite, Höhe und wog sie mit einer Laufwaage. So konnte ich die Firndichte in allen Tiefen lückenlos messen. Sie wurde natürlich nach unten immer größer. Auffallenderweise treten dabei aber ganz regelmäßige Schwankungen auf, von denen mit Sicherheit nachgewiesen werden konnte, dass sie auf dem Wechsel von Sommer- und Winterschichten beruhten. Die Schichtgrenzen waren im Allgemeinen unsichtbar, also ganz anders als in den Alpen. Das Gesamtergebnis war Folgendes: Jährlich legt sich über das Innere Grönlands eine einen Meter hohe Schneedecke. Das entspricht einer Wasserhöhe von 31,4 Zentimetern, also gerade halb soviel wie die Niederschlagshöhe im mittleren Norddeutschland. Der Schneezuwachs der letzten 21 Jahre konnte im Schacht festgestellt werden und diente als Grundlage für die Berechnung.
Diese Arbeiten und Messungen fanden regelmäßig jeden Nachmittag statt. Nebenbei hatte ich noch die Aufgabe, den Proviant und Brennstoff zu verwalten. Jeden zweiten Sonnabend brachte ich von oben eine Proviantkiste in die Firnhöhle und packte die Lebensmittel in unsere Küchenkiste. Mit 40 Kilogramm Lebensmitteln mussten wir drei stets genau 14 Tage reichen. Ein Kilo je Mann und Tag war bei unseren Temperaturen nicht sehr reichlich, genügte aber doch, um uns bei Kräften zu halten. Jeden Monat holte ich eine Petroleumkanne mit 40 Liter Inhalt herunter. Sie musste mindestens für einen Monat reichen und wurde zunächst im Firngang bei -30 °C aufgestellt, damit sich das Petroleum etwas aufwärmte. Oben bei -60 Grad war es nämlich so dickflüssig, dass man es nicht gießen konnte.
Abends wurden Loewes Wunden nachgesehen und verbunden, später nur noch jeden zweiten oder dritten Tag. Watte und Mullbinden waren knapp und mussten daher sparsam und wiederholt gebraucht werden. Die Luft war anscheinend keimfrei, sodass die Wunden nicht schlimmer wurden. Aber in der Kälte heilten sie sehr langsam. Wir waren übrigens niemals erkältet, so sehr wir auch gefroren haben.
Am 24. November entdeckte Loewe, dass wir Haustiere hatten, und zwar Läuse, die von den Grönländern der letzten Hundeschlittenreise stammten. In einer einzigen Nacht sammelte er 370 krabbelnde Tiere! Nun war es bei uns ganz ähnlich wie im Weltkrieg in einem Unterstand draußen an der Front. Wir wohnten ebenso, waren ebenso dreckig und speckig, hatten Läuse und lebten in Unsicherheit, ob wir wohl lebend wieder herauskamen. Glücklicherweise war unsere Zimmertemperatur für die Läuse unerträglich kalt, sodass sie nicht von einem Schlafsack zum anderen kriechen konnten. Man brauchte sie nur auf den Boden zu werfen, dann erfroren sie sehr schnell. Daher blieben Georgi und ich fast gänzlich verschont. Es gab ein sehr wirksames Mittel gegen eine zu starke Vermehrung dieser lieblichen Tiere. Wir brachten Loewes Schlafsack öfter nach draußen, während Loewe sich solange in warme Decken hüllte. Bei -30 bis -60 °C erfroren alle Läuse augenblicklich, wurden dadurch sehr gut sichtbar und konnten herausgebürstet werden. Freilich blieben viele Eier zurück, die dann eine neue Generation lieferten. Auch dagegen fand Georgi ein Mittel: Er bügelte die Eier mit dem heißen Skibügeleisen und sorgte so dafür, dass ihre Zahl immer klein blieb. Loewe nahm diese Läusequal mit Energie und Humor auf. Stundenlang war er mit einer Pinzette auf der Jagd und machte sich sozusagen ein Gesellschaftsspiel für sich allein daraus.
Überhaupt staunten wir beiden Gesunden über Loewes gute Stimmung, die immer wieder den Sieg über Zeiten der Niedergeschlagenheit davontrug. Es musste einem so lebhaften, vielseitigen Wissenschaftler wie Loewe doch ungeheuer schwer werden, auf eigene wissenschaftliche Beobachtungen zu verzichten und sich die Zeit durch Berechnungen, Bücherlesen, Unterhaltungen, Zeugflicken, Essen, Schlafen und so weiter zu vertreiben, dabei mit dem niederdrückenden Gefühl, dass der Verlust der Zehen ihn später vielleicht für das ganze Leben schädigen könnte. Das war für Loewe gewiss eine sehr schwere Zeit, schwerer als für Georgi und für mich; wir waren ja gesund, fanden Ablenkung in unserer wissenschaftlichen Tätigkeit und hatten durch immer neue Arbeiten nicht viel Zeit, auf traurige Gedanken zu kommen.
Schneller, als wir dachten, war jeden Tag der Abend da und mit ihm das 9-Uhr-Abendessen. Es bestand aus zurechtgemachten Butterbroten und einem heißen Getränk (Milch, Obstsaft oder Fleischbrühe). Wir tranken abends fast niemals Kaffee oder Tee, weil wir danach nicht gut schlafen konnten. Heißer Aprikosensaft war unser Lieblingsgetränk. Dann wurde noch gewettet, wie viel Grad Kälte am nächsten Morgen sein würden, Georgi füllte die Lampen und den Kocher mit Petroleum, zog den Wecker auf, schloss die Klappe im Luftloch; dann legten wir uns zum Schlafen nieder. Der letzte abendliche Gruß des Inlandeises war gewöhnlich eine Handvoll Reif, der von der Decke oder Wand in unseren Schlafsack fiel. Wer kalte Füße hatte, bekam eine Wärmflasche mit in den Schlafsack. Georgi hatte sie aus einer Brotbüchse gebaut. Mit heißem Wasser gefüllt und in einen Keksbeutel gesteckt, leistete sie uns unschätzbare Dienste.
Die Sonntage verliefen anders als die Werktage. Damit Georgi wenigstens einmal wöchentlich länger liegenbleiben konnte, beobachtete ich morgens statt seiner das Wetter. Statt Hafergrütze gab es zum Frühstück Kaffee mit Butterbrot, Honig und Marmelade. Vormittags wurden gewöhnlich Diskussionen geführt über Erziehung, Kinder und Frauen. Das war für uns außer der Wissenschaft vielleicht das Wichtigste – oder das Schwierigste. Ferner sprachen wir über Schopenhauer, über Optimismus und Pessimismus, über Religion, über den Bau des menschlichen Bewusstseins, über Krieg und Frieden zwischen den Völkern, über die mutmaßlichen Veränderungen, die während unserer Überwinterung draußen in der Welt vor sich gingen. Sonntag Nachmittag gab es ausnahmsweise Schokolade zu trinken. Dabei wurde meist gelesen. Wir hatten eine gute kleine Bücherei von wissenschaftlichen, literarischen und kunstgeschichtlichen Werken. Unvergesslich werden uns die Sonntagabende sein, wo Loewe die winzigen Gedichtausgaben von Goethe und Schiller vornahm und mit wahrhaft künstlerischer Kraft und tiefer Empfindung die unsterblichen Werke der beiden Dichter vortrug. Oftmals dachten wir wehmütig an all die herrlichen Musikwerke, die wir bei unserem gänzlichen Mangel an Instrumenten nicht spielen oder hören konnten. Durch Singen und Pfeifen suchten wir diesem Mangel abzuhelfen. Und wenn es vielleicht auch nicht besonders schön klang: inniger und andächtiger hat wohl niemand die Melodien von Sinfonien, Kammermusikwerken, Opern und Liedern gesungen wie wir dort. Die Empfänglichkeit für Malerei, Dichtung und Musik scheint mit der Entfernung von unserer übersättigten europäischen Kultur ungeheuer zuzunehmen.
Sobald die Wintersonnenwende vorbei war, glaubten wir das Schlimmste überstanden zu haben. Nun konnte es nur noch heller werden. Vom 21. November 1930 bis 21. Januar 1931 war die Sonne verschwunden. In dieser »Dunkelzeit« hellte sich der Himmel mittags ein wenig auf, sodass nur noch die hellsten Sterne sichtbar blieben. Die Pracht der Polarlichter lässt sich nicht beschreiben. Über den Mond waren unserer Ansichten geteilt. Während ich damit zufrieden war, dass er überhaupt manchmal in der Polarnacht schien, verlangte Georgi von ihm, dass er stets schienen sollte, entsprechend der Mitternachtssonne. Da nun der gute Mond das beim besten Willen nicht konnte, erregte er immer wieder Georgis Unwillen. Und es sah doch so schön aus, wenn er die unendliche bläuliche Schneefläche silbern überglänzte. Es gibt nirgends eine reinere Naturstimmung als die Polarnacht auf dem Inlandeis.
Weihnachten wurde einfach und andächtig gefeiert. Eine Kiste wurde als Weihnachtstisch neben Loewes Koje aufgebaut. Drei Kerzen bildeten die Weihnachtsbeleuchtung. Künstliche Blumen und zwei Farbdrucke, Schachteln mit Konfekt, Backwerk und Obst brachten Farbe und Freude hinein. Wir öffneten die Weihnachtsbriefe unserer Angehörigen, beschenkten uns gegenseitig mit kleinen Büchern und lasen vor. Am Abend wurde ein Pappdeckel an die Firnwand über der Bücherkiste angeheftet. Darauf stand ein Spruch, den mir ein lieber Mensch hierher in die Einsamkeit geschickt hatte: »Hart ist das Leben, hart ist die Natur. Aber beide lassen Mut und Fröhlichkeit als Gegengewicht erstehen, sonst würde wohl niemand hier ausharren können. Mut und Fröhlichkeit! Es ist, als wären sie des Lebens erste Pflichten.« Es war gut für uns, diesen Spruch täglich vor Augen zu haben.
Mit der wiederkehrenden Sonne wurde es durchaus noch nicht wärmer. Im Gegenteil! Die größte Kälte kam noch. Im Januar, Februar und März fiel die Temperatur unter -64 °C. Der kälteste Tag unserer Überwinterung war der 21. März, Frühlingsanfang, mit -65 °C! Aber von da an strahlte die Sonne von Tag zu Tag machtvoller. Nun blieben wir längere Zeit draußen, machten Längen- und Breitenbestimmungen durch Beobachtung der Sonnenhöhe, liefen Ski und konnten sogar unsere nassen vereisten Pelzsachen im Sonnenschein trocknen. Loewe machte seine ersten Gehversuche unten in der Firnhöhle, zunächst noch mit sehr geringem Erfolg; er war durch das lange Krankenlager sehr geschwächt und konnte kaum auf den Beinen stehen. Dafür beteiligte er sich aber von seiner Koje aus an Strahlungsmessungen, die Georgi oben anstellte. Georgi hatte das Instrument durch eine elektrische Leitung mit Loewes Koje verbunden, sodass Loewe an einem Galvanometer die Ausschläge ablesen konnte.
Am 6. Mai, einem ruhigen sonnigen Tage, war Loewe zum ersten Mal längere Zeit draußen. Auf Skistöcke gestützt konnte er ganz selbstständig rings um unsere Firnburg Eismitte gehen und sich sogar an einer Messung der Sonnenhöhe beteiligen.
Eine letzte Gefahr war noch zu überstehen. Wiederholt wurden während der Überwinterung von einer sehr eigenartigen Erscheinung heimgesucht, die uns jedes Mal neu erschreckte. Das war der »Firnstoß«. Er beginnt mit einem leisen Sausen, das immer mächtiger anschwillt. Plötzlich dröhnt ein Donnerschlag, begleitet von einem mehr oder weniger heftigen Stoß wie bei einem Erdbeben; dann lässt das Sausen wieder nach und verliert sich in der Ferne.
Ein besonders heftiger Firnstoß drückte unseren Barometerkeller so stark ein, dass das Quecksilberbarometer (das einzige aller Polarexpeditionen, das unversehrt so weit ins Innere eines Landes gelangt ist!) zwischen Decke und Boden festgeklemmt wurde, während es vorher zwei Zentimeter Spielraum gehabt hatte. Außerdem schrieben sämtliche Registrierapparate den Firnstoß durch besonders große Zeigerausschläge auf.
Die Firnstößer erfüllten uns mit dauernder Besorgnis. Die Decke unseres Wohnraumes war nämlich durch den winterlichen Schneezuwachs 20.000 Kilogramm schwerer geworden, 1.600 Kilogramm je Quadratmeter, so schwer, dass sie sich im Frühjahr monatlich sechs bis sieben Zentimeter senkte. Es erschien uns nicht ausgeschlossen, dass sie bei einem heftigen Firnstoß auf uns stürzte und uns begrub. Um sie zu stützen, baute Georgi in der Mitte des Wohnraumes einen mächtigen Eispfeiler, dessen steter Anblick uns beruhigte. Die Ursache für die Firnstöße ist wohl darin zu suchen, dass lockere Firnschichten den immer mehr anwachsenden Druck der darüberliegenden Schichten nicht mehr tragen können und plötzlich einbrechen. Solche Lockerschichten wurden im Schacht bis in sieben Meter Tiefe beobachtet. Tiefer unten war der ganze Firn steinhart. Das Sausen beim Firnstoß kommt wahrscheinlich vom Ausströmen der Luft beim Zusammenpressen der Lockerschichten.
So ging die Überwinterung in Eismitte vorbei. Es ist ja eigentlich unmöglich, unsere wahren Gefühle zu schildern. Mit den Worten der Menschen ausgedrückt, war es bald Hoffnung, bald Verzweiflung, bald Trotz und bald Gleichgültigkeit, bald Sehnsucht und bald Verlassenheit. Was wir nie vergessen werden, ist jenes letzte Zusammentreffen mit Wegener, der ständige Kampf gegen die gewaltige Natur, die täglich sich erneuernde Unsicherheit, die Leidenschaft, mit der wir auf unsere wissenschaftlichen Untersuchungen versessen waren, und die wundervolle Kameradschaft, die uns in Wahrheit immer wieder den festen Glauben an das Gelingen der Überwinterung gab.
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hrg.)
Reisende im Nordmeer seit dem Jahr 530
Wien 2009