1829 – Friedrich Parrot, Wissenschaftler
Die erste Ersteigung des Ararat
Die Erfahrung des vorigen Versuches hatte mich gelehrt, daß alles darauf ankommt, die erste Nacht so nahe als möglich an der Schneegrenze zuzubringen, um in einem Tage von da aus den Gipfel zu erreichen und wieder zu jener zurückkehren zu können; daß aber zu dem Ende das Gepäck der Tiere sowohl als der Menschen nur auf das Allernotwendigste beschränkt werden müsse. Ich ließ daher nur drei Ochsen mit einigen warmen Kleidungsstücken, der erforderlichen Nahrung für uns und einem kleinen Holzvorrat beladen, nahm auch ein Kreuz, aber nur aus Stöcken von etwa zwei Zoll Durchmesser, jedoch von Eichenholz geschnitzt, mit hinauf und richtete es so ein, daß der längere Teil dem Träger desselben als fester Wanderstab dienen konnte. Wir richteten unseren Weg nach der nämlichen Seite als das vorige Mal; und um unsere Kräfte möglichst zu schonen, ritten wir diesmal, Abowian [aus einem nahe gelegenen Kloster] und ich, soviel als es die felsige Beschaffenheit des Bodens gestattete, bis in die Nähe der Grasebene Kip-Göl. Wir ließen aber unsere Pferde nicht dort, wie [der lokale Dorfälteste] Stepan es gemacht hatte, sondern schickten sie durch einen deshalb mitgenommenen Kosaken zurück; auch Herr Hehn [Student aus Dorpat] begab sich von hier aus auf den Rückweg. Es war noch nicht ganz 12 Uhr, als wir diesen Punkt erreichten, und nach eingenommenem Frühstück und etwa anderthalbstündiger Ruhe schritten wir mit etwas abweichender Richtung gegen die unseres früheren Versuches weiter aufwärts; die Lasttiere konnten uns aber nicht so rasch folgen; eins derselben besonders schien schwächer als die übrigen und drohte unser Fortkommen wesentlich zu verzögern, wollten wir noch ferner von ihm abhängig bleiben; vor einer Anhöhe von steil aufgetürmten Felstrümmern, über welche hinwegzukommen diesen Tieren nicht wohl möglich gewesen wäre, machten wir halt, befreiten sie von ihrer Bürde, teilten diese redlich unter sämtliche Personen, so daß jeder seinen Teil an Kleidungsstücken und an Holz erhielt, und ließen die Ochsen mit ihrem Hüter zurück. Um halb sechs Uhr abends waren wir nicht mehr weit von der Schneegrenze und bedeutend höher als bei unserem vorigen Nachtlager angelangt; die Erhebung des Punktes über dem Meere beträgt 13.036 Pariser Fuß [4632 m]. Die vorhandenen größeren Felsmassen bestimmten mich, hier unser Nachtquartier zu nehmen. Alsbald wurde ein Feuer angemacht und etwas Warmes für den Magen zubereitet; es bestand für mich in der Zwiebelsuppe, deren Gebrauch ich Bergreisenden für ähnliche Fälle als sehr erwärmend und kräftigend empfehlen kann, und mehr als Fleischbrühen und Fleischspeisen, weil diese zur Verdauung mehr Kraft erfordern, die sie dem Körper freilich wiedergeben, aber nicht so schnell, daß man innerhalb so kurzer Zeit den Nutzen davon vermerken könnte. Leider konnte Abowian an dieser vortrefflichen Mahlzeit keinen Anteil nehmen, weil ein Kirchenfeiertag ihm das Fasten auferlegte. Also noch fasten bei solchen Anstrengungen und Sorgen! Jawohl, und überdies ohne Überwindung und Umstände und ohne es mir vorher gesagt zu haben, sonst hätte ich ihm eine passendere Fastenspeise besorgt als einen Aufguß oder Tee aus zerstoßenem Pfeffer, durch welchen er ohne Verletzung des Kirchengebotes seine Kräfte zu stärken versuchte. Auch die anderen Armenier hielten streng an der Vorschrift des Fastens und begnügten sich daher mit dem mitgebrachten Brote und dem ihnen und den Soldaten in bestimmter Portion von mir selbst dargereichten Branntwein; denn der Gebrauch dieses Stärkungsmittels muß besonders da, wo die Kräfte unter solchen Umständen in Anspruch genommen werden, wie die des Bergsteigens sind, mit äußerster Vorsicht geschehen, weil sonst gar zu leicht das Gegenteil von dem erfolgt, was man erwartet, nämlich ein Gefühl von Ermüdung und Hang zum Schlafe.
Es war ein herrlicher Abend, den ich hier vollbrachte, die Blicke bald auf die wohlgelaunten Gefährten, bald auf den schönen Himmel mit dem wundervoll darauf projizierten Gipfel und dann wieder gegen die graue Nacht gerichtet, die sich in weiter Ferne und Tiefe unter mir lagerte, umfing mich wieder dieses einzige Gefühl von Ruhe, Wehmut, Liebe, Dank, Ergebung, dieses stille Hervorrufen der Vergangenheit, dieses sanfte Blicken in die Zukunft, kurz - dieses unbeschreiblich behagliche Empfinden, das den Reisenden auf großen Höhen, bei angenehmen äußeren Verhältnissen zu ergreifen nie verfehlt, und so legte ich mich denn, von einer für meinen Standpunkt nicht unbeträchtlichen Wärme der Luft von 4 ½° begünstigt, unter einem etwas überhängenden Lavafelsen zur Ruhe nieder, während meine Gefährten noch eine Zeitlang in traulichen Gesprächen um das Feuer herum saßen.
Als der Morgen dämmerte, rafften wir uns auf und begannen um halb sechs Uhr unsere Wanderung fortzusetzen. Die letzten Trümmerabhänge waren in Zeit von einer halben Stunde überschritten, und wir betraten wieder die Grenze des ewigen Schnees ungefähr an der nämlichen Stelle als das vorige Mal, nachdem wir noch einen Teil entbehrlicher Gegenstände an den letzten Steinmassen zurückgelegt hatten. Die Schneeregion hatte aber eine für uns nicht günstige Veränderung erfahren; durch die eingetretene größere Wärme war der frischgefallene Schnee, dessen Gegenwart uns bei dem früheren Versuche zustatten gekommen war, angeschmolzen und vergletschert, so daß schon gleich von unten auf trotz der noch geringen Neigung des Abhanges das Aushauen von Stufen beginnen mußte. Dies erschwerte das Fortkommen und nahm unsere Kräfte gleich anfangs in vollem Maße in Anspruch. Einen der Bauern hatten wir schon beim Nachtlager zurücklassen müssen, weil er sich unwohl fühlte; zwei andere wurden nacheinander beim Ersteigen des Gletscherabhanges marode, blieben anfangs liegen, zogen sich aber später auch zum Nachtlager hinab. Ohne uns dadurch im geringsten aufhalten zu lassen, verfolgten wir übrigen, durch die überwundenen Schwierigkeiten mehr ermutigt als niedergeschlagen, rastlos unser Ziel. Bald kamen wir auch wieder an den großen Spalt, welcher den oberen Rand des großen Gletscherabhanges bezeichnet, auf dem wir hinangestiegen waren, und um 10 Uhr befanden wir uns schon wieder da, wo wir das vorige Mal um die Mittagsstunde gewesen waren, nämlich auf der großen Schneefläche, welche die erste mächtige Stufe auf dem Eishaupte des Ararat bezeichnet. Wir sahen aus der Entfernung von etwa einer Werst [gut 1 km] das am 19. September errichtete Kreuz, aber es erschien mir, vielleicht eben seiner schwarzen Farbe wegen, so ungewöhnlich klein, daß ich wohl daran verzweifeln mußte, es aus der Ebene des Araxes mit einem gewöhnlichen Fernrohr wiederzufinden und zu erkennen.
In der Richtung zum Gipfel hatten wir einen kürzeren, aber steileren Abhang vor uns als den zurückgelegten, und zwischen ihm und der äußeren Kuppe schien nur noch ein kleiner Anberg zu liegen. Nach einer kurzen Ruhe überschritten wir stets mit Hilfe ausgehauener Stufen den ersten Abhang, den steilsten von allen, und nach ihm auch noch die nächste Erhöhung; statt aber nun das allendliche Ziel unserer Mühen unmittelbar vor uns zu sehen, hatte sich noch eine ganze Reihe von Hügeln entwickelt und uns sogar den Blick auf den Gipfel verdeckt. Dies schlug unseren Mut ein wenig nieder, der keinen Augenblick geschwankt hatte, solange wir die zu überwindenden Schwierigkeiten zu überblicken glaubten, und unsere Kräfte, von der harten Arbeit an den Stufen mitgenommen, schienen der Erreichung des unsichtbar gewordenen Zieles kaum mehr gewachsen. Doch ein Überschlag des Getanen und dessen, was zu tun noch übrig sein konnte, die Nähe der hintereinander hervortretenden Erhöhungen, ein Blick auf meine rüstigen Gefährten verscheuchten die Sorgen, und mutig vorwärts! klang es in meiner Brust. Wir überschritten ohne Aufenthalt noch ein paar Hügel; da wehte Gipfelluft; ich trat hinter einen der Schneebuckel des Abhanges hervor und – der äußerste Kegel, die höchste Kuppe des Ararat lag unverkennbar vor meinen freudetrunkenen Blicken. Noch ein letztes Aufgebot unserer Kräfte war nötig, nur noch eine Eisfläche mittels Stufen zu ersteigen, und wir standen auf dem Gipfel des Ararat um ein Viertel nach 3 Uhr des 27. Septembers 1829!
Mein erstes Streben und Genießen war Ruhe; ich breitete meinen Mantel unter mir aus und setzte mich nieder. Ich befand mich auf einer schwach gewölbten, fast kreisförmigen Fläche von ungefähr 200 Schritt im Umkreise, die am Rande nach allen Seiten hin ziemlich steil abfiel, besonders aber gegen Süd- und Nordost; es war das starre, von ewigem Eise gebildete, durch keinen Felsen, keinen Stein unterbrochene Silberhaupt des alten Ararat. In der Richtung gegen Osten lief dieser Gipfel sanfter aus als nach irgendeiner anderen und stand hier mittels einer flachen, jedoch gleichfalls von ewigem Eise bedeckten Einsenkung mit einem zweiten, um etwas niedrigeren Gipfel in Verbindung, dessen Entfernung von demjenigen, auf welchem ich mich befand, fast eine Werst zu betragen schien, nach Herrn Fedorows [Student aus Dorpat] trigonometrischer Messung aber nur 187 Toisen oder etwas über eine Drittel Werst ausmacht [ca. 350 m].
Wenn irgendein Punkt des Gipfels dafür angenommen werden soll, derjenige zu sein, auf welchem Noahs Arche sich niedergelassen hat, dann diese Vertiefung; denn an Raum würde es daselbst nicht gefehlt haben, da die Arche, wenn sie auch nach Genesis 6, 15 dreihundert Ellen lang und fünfzig Ellen breit gewesen ist, noch nicht den zehnten Teil ihrer Oberfläche eingenommen hätte. Fragt man nun nach der Möglichkeit von Überresten der Arche auf dem Ararat, so kann die Physik eine solche Möglichkeit nicht verwerfen, falls wir nur annehmen, daß der Gipfel des Ararat bald nach der Sündflut wieder angefangen habe, sich mit unvergänglichem Eis und Schnee zu bedecken, was zu bezweifeln kein triftiger Grund vorhanden ist, besonders wenn man erwägt, daß Eis- und Schneedecken von hundert und mehr Fuß Tiefe in großen Gebirgen gar nichts Ungewöhnliches sind, also wohl auch in der Vertiefung auf dem Gipfel des Ararat leicht so viel Eis liegen mag, als nötig ist, die 30 Ellen hohe Arche zu bedecken.
Von dem Gipfel aus hatte ich einen weit ausgedehnten Gesichtskreis, in welchem aber, der ungeheuren Distanzen wegen, nur größere Massen deutlicher unterschieden werden konnten. Das ganze Tal des Araxes deckte ein grauer Nebelduft, durch welchen hindurch Eriwan und Sardarabad nur als dunkle handgroße Flächen erschienen; deutlicher zeigten sich im Süden die Hügel, hinter denen Bayazid liegen sollte. In Nordnordwest prangte das zackige Haupt des Alagöz, in seinen Vertiefungen mit bedeutenden Schneemassen bedeckt - eine wahrscheinlich unerreichbare Felsenkrone. Zunächst um den Ararat, besonders in Südost und weit entfernt auch gegen West eine Menge kleiner Berge, meist von kegelförmiger Zuspitzung und mit Vertiefungen in der Mitte, ehemaligen kleinen Vulkanen nicht unähnlich; dann in Ostsüdost der Kleine Ararat, dessen Haupt sich hier nicht mehr als die einfache Spitze eines Kegels zeigte, wie es von der Ebene aus erscheint, sondern wie die Fläche einer abgestutzten viereckigen Pyramide, auf den Ecken und in der Mitte mit größeren und kleineren Felsenerhöhungen versehen. Was mich aber zu sehen überraschte, war ein großes Stück des Goktschai, der als schöne dunkelblau schimmernde Fläche in Nordost hinter der hohen Bergkette sehr deutlich hervortrat, die den See von Süden her unmittelbar einschließt, und so hoch ist, daß ich nimmer geglaubt hätte, vom Gipfel des Ararat über sie hinweg in den von ihr verdeckten Wasserspiegel blicken zu können.
Parrot, Friedrich
Reise zum Ararat
Berlin 1834; Neudruck Leipzig 1983