Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1899 - Anton von Oppenheim, Archäologe
Die erste Grabung: Die verschleierte Göttin
Tell Halaf, Syrien

So kam ich am 13. November nach Ras el Ain, einem Quellkopfe des Chaburflusses, dem alten Ressaina der Römer. Hier befinden sich mehrere Niederlassungen von tscherkessischen Flüchtlingen (Muhadjir) aus dem Kaukasus. Seit Wochen war ich auf den Besuch des Ortes gespannt. Immer wieder war mir erzählt worden, daß die Tscherkessen, die in der Nähe, auf einem Hügel am Chabur, einen Toten begraben wollten, auf Steine mit Tierkörpern und menschlichen Köpfen und dergleichen gestoßen seien. Voll abergläubischer Scheu hätte der Sohn seinem Vater ein anderes Grab beschaffen wollten, aber erst, nachdem abermals solche Steine mit fremdartigen Darstellungen gekommen seien, habe der Tote schließlich an einer entfernteren Stelle des Hügels seine Ruhestätte gefunden.
   Die Kenntnis dieser Geschichte ermöglichte mir meine Grabung. Die Tscherkessen, deren Gastfreundschaft ich angerufen hatte, wollten von dem Funde nichts wissen, bis ich schließlich den Geist des verstorbenen Schechs über die Stammesglieder herabrief, welche einem Gaste derartig die Unwahrheit sagten und ihm eine Bitte abschlügen. Darauf versprach man, mir die geheimnisvolle Stätte zu zeigen.
   Zufällig waren wegen der Erntezeit eine größere Anzahl halb seßhafter Beduinen der Nachbarschaft anwesend, welche für die Tscherkessen die Felder bestellten. Diese machten sich am nächsten Morgen frühmorgens unter der Aufsicht meiner Gastfreunde an die Arbeit. In wenigen Stunden förderten sie die Grundzüge einer Torfassade zutage, und nach zweitägiger Arbeit war so viel aufgedeckt, daß ein einigermaßen klares Bild über das Wesen der Funde und der alten Lokalität gewonnen werden konnte.
   Die Fundstelle lag auf einem ohne Frage künstlichen Ruinenhügel auf der rechten Seite des Djudjub, der von Norden kommend hier einen Knick nach Osten macht und nach Aufnahme der Wässer von Ras el Ain den Namen Chabur führt. Der Hügel wird Tell Halaf genannt. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Flusses, liegt in einigen Minuten Entfernung die älteste Niederlasssung der Tscherkessen in dieser Gegend, mit einer Moschee, festungsartig im Viereck mit Mauern und einer Torburg angelegt. Hier wurden vor mehreren Jahrzehnten die flüchtigen Kaukasier von der türkischen Regierung angesiedelt. Sie hatten im Kampfe mit dem starken Beduinenstamme der Schammar und mit Ibrahim Pascha viel zu leiden; aber die Tscherkessen waren scharfe Schützen und gute Reiter, und es wurde schließlich ein modus vivendi auf Grund gegenseitigen Respekts gefunden. Heue ist die erste Niederlassung fast ganz aufgegeben; die Tscherkessen haben sich an einem etwa eine Stunde entfernten, mehr nordwestlich, höher und gesunder gelegenen Platze, Ras el Ma (Kopf des Wassers), neue Häuser gebaut. Zwischen den beiden Tscherkessen-Orten liegt das alte Ressaina, heute noch Ras el Ain genannt. In der Nähe ist eine schwefelhaltige Quelle.
   Von den Festungswerken der alten Römerstadt sind noch Mauerreste erhalten. Eine Anzahl von Säulenteilen, behauenen Quadern und dergleichen liegt herum. Im Norden der Ruine fand ich einen alten muhammedanischen Friedhof, und auf diesem einen Inschriftenstein aus dem Jahre 717 H = 1317 n, Chr., ein Beweis, daß hier damals noch eine große mohammedanische Niederlassung bestanden hat.
   Eine Reihe alter Kanalisationswerke auf beiden Seiten des Chabur, die zum großen Teile noch gut erhalten sind, legt Zeugnis von der früheren intensiven Bewirtschaftung des Bezirkes ab. In der Umgegend sind zahlreiche kleine konische Erdhügel, sogenannte Tells, sichtbar.
   Die Entstehung dieser Tells ist derart zu denken, daß auf einer vielleicht im Anfange schon künstlich angelegten Erhöhung, die man vielfach an den Seiten mit Steinplatten bedeckte, ein Tempel oder eine Zitadelle erbaut wurde als Mittelpunkt einer Niederlassung oder Stadt. Im Laufe der Zeiten verfielen dann die Bauten. Ihr unterer Teil hatte wohl aus starken Steinquadern bestanden, der obere jedoch sicher meist aus Lehm oder Luftziegeln. Nach dem Zusammenbruch des Gebäudes lösten sich letztere dann infolge der Zeit und des Regens auf und bedeckten die Steine, wodurch das Ganze mehr und mehr das Aussehen einer natürlichen Erhebung annahm. Dann wurde vielleicht eine zweite Burg auf dem so entstandenen Hügel errichtet und so fort. Wir kennen Tells, z. B: in Palästina, welche die Ruinen von sieben verschiedenen Zeitperioden in sich bergen. Die Häuser der gewöhnlichen Sterblichen dürften damals wie heute in der Ebene meist aus Lehm hergestellt worden sein und dem umliegenden Terrain in der Folge das gegenwärtige wellige Aussehen gegeben haben. So sieht auch die Umgegend des Tell Halaf aus. Kleinere Tells in seiner Nachbarschaft dürften die Reste anderer großer Gebäude der Antike bedecken.
   Unser Hügel zeigte verschiedene gesonderte Erhebungen. Langgezogen erstreckt er sich von Westen nach Osten, im Westen und Süden sanft ansteigend. Seine relative Höhe über der Talebene des Chabur ist nicht bedeutend. Auf dem nordöstlichen Teile des Hügels stehen einige Tscherkessenhäuser. Mehr nach Westen hin, durch eine Einsenkung getrennt, befinden sich die höchsten Stellen es Hügels. Hier am südwestlichen Teil wurde von uns die Grabung vorgenommen, da, wo einige Jahre früher der Tscherkessen-Schech beigesetzt werden sollte.
   Im Ganzen haben wir, abgesehen von einigen vergeblichen Versuchen, vier erfolgreiche Schürfungen angesetzt (A, B, C, D) angesetzt, den Angaben der Tscherkessen folgend, die seinerzeit bei dem Begräbnis zugegen waren und wohl auch später nach Schätzen gesucht haben mögen. – Nach mit sind auch noch mehrere Europäer in Ras el Ain gewesen. Keinem von diesen wurden die denkwürdigen Steinbilder des Tell Halaf gezeigt. […]
   Am letzten Schürfloch D machten wir den merkwürdigsten unserer Funde. Es war der Torso einer menschlichen Gestalt, von der ich auf den ersten Blick den Eindruck gewann, daß der Künstler damit ein verschleiertes Frauenbild, eine Göttin, darstellen wollte. Der Kopf wuchs unmittelbar aus einem viereckigen Steinstück hervor, das nur wenig breiter war als der Hals. Schultern und Arme fehlten. Von der Brustgegend an abwärts war der Stein nach innen zu abgeflacht, derart, daß nur an den Rändern zwei breite, erhabene eckige Streifen senkrecht verliefen. Auf dem linken Steifen waren zwei Zeilen Keilschrift eingemeißelt, über denen oben eine kleine Querschrift angebracht war. Unten war die Steinsäule schräg abgebrochen, was leider auch eine Verstümmelung der Inschrift zur Folge hatte. An der Seite des Steines waren schuppenartige Motive vorhanden, die vielleicht Ansätze von Flügeln sein sollten.
   Die Behandlung des Gesichts hatte im Gegensatz zu den groben männlichen Zügen auf den anderen Orthostaten [senkrechte, behauene Steinplatten] etwas weichliches und verschwommenes. Das Antlitz war ganz flach dargestellt, die Backenknochen und das Oval der Wangen nur angedeutet. Die Lippen waren sehr fein behandelt, eine Eigentümlichkeit, welche übrigens dieses Bild mit den anderen des Tell Halaf teilte. Nur die Nase, von der nur ein Teil erhalten war, ragte kräftig hervor. Das Kinn war bartlos und glatt, die Konturen kaum erkennbar. Das Gesicht trat in nur sehr geringem Maße aus dem Halse hervor, der eine kaum merkliche Verengung darstellte. Die Augenhöhlen waren sehr groß. Der oberen Teil des Kopfes war geborsten, und beim Graben fielen die beiden Teile auseinander. Der Riß ging gerade über die Augen. Das eine Auge war unversehrt vorhanden: ein schwarzer blank polierter eiförmiger Kern aus Basalt, 5 cm lange, 3 cm breit und 3 cm hoch, umgeben von einer weißen gipsartigen Masse. Dies steinerne Auge fiel zu Boden und wurde von mir nach Hause gebracht. Die andere Augenhöhle war leer.
   Auf dem Haupte befand sich eine käppchenartige, der Kopfform sich anschmiegende Bedeckung, welche über der Stirn in einem breiten Bande abschloß. Das Käppchen hatte flache ringelartige Verzierungen. (Vielleicht wollte der Künstler auch nur ein Stirnband auf dem Kopfe und die Haare in ringelartiger flach aufliegender Form darstellen.) Von dem Stirnbande fielen vor den Ohren bis zu den Schultern zwei kräftige Bänder herab, deren Ende nach außen und aufwärts schneckenförmig geringelt waren. Zwischen diesen, unterhalb des Kinnes, fand der eigenartige Kopfputz in einer waagerechten Linie seinen Abschluß, von der wiederum kleinere Bändchen bis zur Brustgegend herabfielen. Auch diese endigten meist (von dreien immer je zwei) in nach außen aufgedrehten Kringeln. Abwechselnd war immer ein längeres und ein kürzeres geringeltes und dann noch ein kürzeres ungeringeltes Bändchen gruppiert. Hinter den Ohren konnte ich vier größere und ebensoviele zwischen ihnen liegende kleinere Bänder, die von den Käppchen oder dem Stirnbande herabhingen, zählen; doch dieses Muster schien, nach der Analogie mit einem weitern Funde zu schließen, um den ganzen Kopf gelaufen zu sein. Diese Bändchen für Haare oder Locken zu halten, erachte ich als ausgeschlossen, weil die Haare auf den übrigen Steinbildern des Tell Halaf ganz anders dargestellt sind, und weil unmöglich vorn am Halse Locken gezeichnet werden konnten. Von Haaren war auf dem Bilde nichts zu sehen – wenn man die Darstellung eines Käppchens annimmt – es sei denn, daß die kleinen, unmittelbar unter dem Käppchen oder dem Stirnbande liegenden Ornamentierungen, vorn auf der Stirn, als Locken aufzufassen sind.
   Die ganze Art dieses Kopfputzes wowie das Mystische in dem Gesichtsausdruck läßt den Gedanken unabweisbar erscheinen, daß wir es mit einem Frauenkopf zu tun haben, und daß der Bildhauer das Gesicht zwischen den beiden von den Schläfen bedeckt darstellen wollte, von dessen unterem Teile die kleinen Bändchen am Halse herabfielen. Ganz ähnliche Schleier werden werden heute noch von den arabischen Frauen des persischen Golfs und von den Frauen ägyptischer Beduinen in der Nähe des Suezkanals getragen. Der gewöhnliche von den Arabern übernommene ägyptische Frauenschleier wird genau wie bei dem Frauenbildnis des Tell Halaf an einem breiten, flachen, um die Stirn gewundenen Bande getragen und durch zwei seitliche, an den Schläfen herabhängenden Bändchen gehalten. Bei den Ägypterinnen hält der Schleier zudem ein in der Nasenverlängerung zwischen den freiliegenden Augen verlaufendes drittes, vom Stirnbande herabfallendes Bändchen.
   Haben wir es bei der verschleierten Göttin des Tell Halaf mit einer hermenartigen Büste zu tun, oder ist das von mir freigelegte säulenartige Steinstück nur der Teil einer gewaltigen Steinplatte gewesen, eines Orthostaten mit dem Leibe einer Sphinx? Für die erstere Auffassung spricht namentlich die gerade Haltung des Kopfes und die Behandlung der Brustgegend. Dagegen legt der Verlauf des Hinterhauptes und des Nackenansatzes auf dem Steinfragment 15 [Analogon zur hier beschriebenen Figur, aus dem Fluß geborgen] die Vermutung näher, daß der Kopf auch unserer Göttin unmittelbar in den Rücken einer vierfüßigen Tiergestalt überging. Auch die Steinsteifen vorn könnten zu einer Figur ähnlich wie auf Stein 1 gehören. Spätere Ausgrabungen werden dieses Problem lösen.
   
Oppenheim, Alfred
Tell Halaf und die verschleierte Göttin
Leipzig 1908

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