1888 - Fridtjof Nansen
Die erste Expedition auf dem Inlandeis von Grönland: Über den Berg
Um die Mitte des September hofften wir mit jedem Tage, der verging, an die Abschrägung zu kommen, die wir an der Westküste zu finden glaubten. Nach dem Besteck mußten wir näher und näher kommen. Ich hegte jedoch den geheimen Verdacht, daß unser Besteck beträchtlich vorging im Verhältniß zu unseren Observationen, mit Absicht unterließ ich es aber, diese auszurechnen, da es mehreren der Gefährten eine schlimme Täuschung bereiten würde, wenn es sich herausstellte, daß wir nicht so weit gekommen waren, wie wir annahmen. Es fiel freilich jedem auf, daß wir noch immer keine Abschrägung erblicken konnten. Am 11. war die Senkung jedoch bemerkbar, und infolge einer Aufmessung mit dem Theodolith stellte es sich heraus, daß sie 22 Minuten betrug.
Am 12. September verzeichnete ich in meinem Tagebuch: „Wir sind Alle in ganz vorzüglicher Laune, voll Hoffnung auf eine baldige Veränderung zum Bessern. Dietrichson und Balto behaupten steif und fest, daß wir noch heute bloßes Land in Sicht bekommen; sie müssen sich wohl in Geduld fassen, wir befinden uns noch 2800 m (in Wirklichkeit waren es 2570 m) hoch; lange kann es jedoch nicht mehr währen. Wir rechneten heute Morgen aus, daß wir uns nach dem Besteck 17 Meilen vom Lande befänden, und heute begünstigt uns die Senkung sowie der ebene Weg sehr.“ (Wir befanden uns zu der Zeit etwa 26 geogr. Meilen vom eisfreien Lande entfernt.) [1 geogr. Meile = 7,42 km]
In den folgenden Tagen nahm die Senkung nach Westen ganz merklich zu, sie war jedoch nicht mehr eben – die Oberfläche des Schnees zog sich in langen Wellen hin, genau so, wie wir es beim Aufsteigen an der Ostküste getroffen hatten.
Am 14. sollten wir nach unserem Besteck nur noch 8 Meilen zurückzulegen haben (es waren in Wirklichkeit etwa 20 Meilen) aber noch immer erblickten wir kein Land, und dies wurde den Lappen verdächtig. Ravna setzte ein immer saueres Gesicht auf, und eines Abends sagte er: „Ich alter Berglappe, ich Dummkopf, ich glaube, wir erreichen die Westküste niemals!“. Hierauf antwortete ich ihm: „Ja, Ravna, du hast vollkommen Recht, wenn du sagst, daß du ein Dummkopf bist!“ Er fühlte sich augenscheinlich sehr getröstet durch das zweifelhafte Kompliment. Mit ähnlichen trostlosen Aussprüchen kam Ravna übrigens häufiger.
Ein ander Mal rief Balto plötzlich aus: „Ach, verdammt und verflucht! Wie weit es von einer Küste bis zur andern ist, das kann Niemand wissen, denn hier ist noch niemals ein Mensch vor uns gegangen!“ es war natürlich schwer, ihm begreiflich zu machen, daß man trotzdem die Entfernung berechnen könne, aber, aufgeweckt, wie er war, schien ihm doch eines Tages, als ich es ihm auf der Karte zeigte, eine Ahnung darüber zu dämmern. Ebenso wie bei Ravna schien es auch bei Balto das beste Trostmittel zu sein, daß wir uns über ihre Feigheit lustig machten.
Als wir am 16. mehrere starke Senkungen nach Westen hatten, faßten Alle frischen Muth, und als wir am Abend nur noch -17,8 ° hatten, kam uns die Luft förmlich warm vor, es war, als seien wir wieder zum Sommer zurückgekehrt. Nach dem Besteck sollten wir jetzt nur noch 2 Meilen haben, bis wir an bloßes Land gelangten.
Am 17. September waren gerade zwei Monate verflossen, seit wir den „Jason“ [in Umivik an der Ostküste] verließen. Es traf sich zufällig so, daß an jenem Morgen Butterrationen vertheilt werden sollten, was selbstverständlich zu den angenehmsten Ereignissen während unseres Inlandlebens gehörte; und als der Thee mit Zucker rings umher an den Betten serviert wurde, war die Stimmung sehr animirt, es schien eine allgemeine Zufriedenheit zu herrschen. Zum ersten Mal seit langer Zeit, hatte sich in dieser Nacht keine dicke Reifgarnitur an der Innenseite des Zeltes gebildet.
Während wir unser Frühstück verzehrten, glaubten wir zu unserer größten Überraschung plötzlich Vogelgezwitscher zu vernehmen. Bald verstummte es jedoch, und wir waren nicht sicher, ob wir uns nicht getäuscht hatten. Als wir aber gegen 1 Uhr des Nachmittags weiterzogen, vernahmen wir abermals Vogelgezwitscher in der Luft. Wir machten Halt und erblickten einen Schneesperling, der hinter uns hergeflogen kam. Er umkreiste uns mehrmals und nahm verschiedentlich einen Anlauf, sich auf unsere Schlitten zu setzen, dann aber schien er es nicht so recht zu wagen und ließ sich im Schnee ganz in unserer Nähe nieder, flog jedoch bald wieder auf und setzte seinen Weg munter zwitschernd fort.
Wie herzlich willkommen war und dieser kleine Sperling! Brachte er uns doch einen Gruß vom Lande, dessen Nähe wir verspürten. Wenn man an gute Engel glaubt, so muß man diese beiden Schneesperlinge – den, der uns an der Ostküste ein Lebewohl zuzwitscherte, und diesen, der uns hier so freundlich willkommen hieß, für solche halten. Getrost zogen wir weiter, obwohl wir an jenem Tage keine bemerkenswerthe Senkung hatten. Am 18. September war es in dieser Beziehung ganz bedeutend besser, es wurde auch viel milder und das Leben schien uns von neuem zuzulächeln.
Nansen, Fridtjof
Auf Schneeschuhen durch Grönland
2. Band, Hamburg 1891