1900 - Pierre Loti
In Yezdi-Khast
Iran
Bei Sonnenuntergang erreichen wir auf unseren einsamen Hochebenen den Rand eines gewaltigen Spaltes, und dort unten erwartet uns die Überraschung eines fruchtbaren Gefildes, durch das sich ein Fluß dahinschlängelt, Karawanen, Maultiere, zahllose Kamele ziehen ihres Weges, in der Luft auf einem Felsen, wie man ihn sonst nirgends sieht, schwebt eine phantastische Stadt. Dieses Tal unter uns ist nur eine halbe Meile breit, aber es erscheint endlos lang zwischen den senkrechten Felswänden, die es von beiden Seiten einschließen und verbergen.
Während wir auf den gefährlichen Windungen hinabsteigen, ist man überwältigt von dieser hochgelegenen Stadt, dies ist eine Stadt, die keiner Mauern bedarf; aber wie können ihre Einwohner zu ihr gelangen? ...
Ein großer, alleinstehender, sechzig Meter hoher Felsen dient ihr als Fuß, er zeigt die genaue Form eines Helmstutzes, ist nach unten zu ganz ausgehöhlt, voller Grotten und Löcher, wird aber nach oben hin beängstigend breit, und darauf haben die Menschen einen unglaublichen Bau aus getrocknetem Lehm errichtet, der dem Gesetz des Gleichgewichtes, dem gesunden Menschenverstand Hohn zu sprechen scheint: Hier schweben die Häuser eins über dem anderen, alle werden sie, wie der Felsen selbst, nach oben zu breiter, entfalten sich über dem Abgrunde in vorspringenden Balkons und Terrassen. Dieser Ort nennt sich Yezdi-Khast, man könnte sagen, es sei eine jener unwahrscheinlichen Ansiedelungen von Wasservögeln, wie sie an den steilen Felswänden über dem Meere schweben. Es ist alles so verwegen und außerdem so ausgetrocknet, so alt, daß der Zusammenbruch nicht auf sich warten lassen kann.
Mittlerweile aber stehen auf jedem Balkon, an jedem Fenster Menschen: Kinder, Frauen, die sich hinabbeugen und ruhig dem Leben und Treiben dort unten zuschauen.
Am Fuße dieser phantastischen Stadt, die bald in Trümmer zerfallen wird, sehen wir Höhlen, unterirdische Gänge, tiefe und klaffende Löcher, aus denen man einst die viele Erde geholt hat, um sie dort oben in so unvorsichtiger Weise aufzuhäufen. Hier gibt es auch eine Moschee, eine große Karawanserei mit schön verzierten Mauern aus blauer Fayence; auch einen Fluß mit einer starkgewölbten Brücke, auch die frischen Ufer eines Baches, Kornfelder, junge Bäume; hier herrscht auch das Leben der Karawanen, das muntere Treiben der Kamel- und Maultierhüter, auf dem Grase liegen die Warenballen aufgestapelt, alles verrät einen großen Durchgangsort. Auf einem Felde hat man sogar einige hundert Zuckerhüte niedergelegt, heute abend werden sie von neuem auf die Rücken der Kamele geladen, um in den Dörfern der entfernter gelegenen Oasen zu stranden, es sind dies ganz gewöhnliche, in blauem Papier verpackte Zuckerhüte, so wie man sie bei uns kennt, die Perser verzehren eine beträchtliche Menge von diesem Zucker zu ihrem ungemein süßen Tee, den sie sich gegenseitig abends und morgens in winzig kleinen Tassen anbieten. (Und diese Zuckerhüte, die bis vor einigen Jahren aus Frankreich geliefert wurden, kommen jetzt alle aus Deutschland oder Rußland: dies erzählen mir die Tcharvadare [Karawanenführer], und sie verhehlen mir nicht ihr ein wenig verächtliches Mitleid mit dem Zurückgang unseres Handels.) Große Scharen von Kamelen umgeben unsere Karawanserei, und dies ist der Augenblick, wo sie ihre lauten Wut- oder Leidensschreie ausstoßen, die durch Wasser hindurchzudringen scheinen, die an die gurgelnden Laute eines Ertrinkenden erinnern. In diesem Lärm, gleichsam inmitten einer Menagerie, nehmen wir unser Abendessen ein.
Aber das Schweigen kehrt zur Stunde des Mondes, des Vollmondes zurück; wie immer, so folgen ihm auch heute Blendwerk und trügerische Beleuchtung, seltsam verschönert er die alte Stadt, die so lächerlich hoch dort oben in unserem Himmel schwebt, er hüllt sie in ein rosenrotes Licht, aber das Licht ist hart, ist eisig zugleich.
Um aus der großen, außerhalb der Wüste gelegenen Oase hinauszugelangen, suchen wir uns frühmorgens mitten durch die Höhlen und Löcher am Fuße, ja fast unterhalb der hängenden, hohen Stadt einen Weg; der vorspringende Felsen, der sie stützt, hüllt uns noch immer in seinen kalten Schatten ein, während die schöne, aufgehende Sonne sonst alles erwärmt. Über unseren Köpfen, in ihrem Adlerhorst, stehen viele Leute, am Rande der schwindelerregenden Terrassen, oder sie neigen sich aus den vorspringenden Fenstern heraus und sehen senkrecht auf uns herab.
Loti, Pierre
Reise durch Persien
Berlin 1925