Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1914 - Else Grüttel
Im Luftschiff über Berlin und Potsdam
   
Der Potsdamer Luftschiffhafen ist landschaftlich der schönste, den wir in DeutschIand haben. Im Kranz schlanker, duftender Kiefern steht die große, rote Doppelhalle hart an den Ufern der Havel, und wenn sich die riesigen Hallentore auseinanderschieben, flutet das Licht in breiten Strömen ungehindert herein.
   Die Passagiere, im stolzen Besitzergefühl ihres Fahrscheins, warten auf den Augenblick des Aufstiegs. Jetzt kommt Leben in die Mannschaft. Die Sandsäcke, die als Ballast dienen, werden abgenommen. Das ist das Zeichen zum Fahrtbeginn. Das Schiff ist klar. An die Kabinentür hat man eine hölzerne Treppe gerückt, nun darf eingestiegen werden. Die ersten Fahrgäste betreten den behaglichen Raum der fast ganz aus Aluminium hergestellten Kabine, drei, vier andere folgen, und für das Gewicht eines jeden wird Wasserballast aus den verschiedenen Wassersäcken abgelassen. Nachdem auch die Besatzung Platz genommen hat, wird das Schiff endgültig ausbalanciert. Wir fühlen ganz deutlich, daß es sich hebt, daß es schwebt und sich selbst trägt. Dieser bedeutsame Augenblick gibt zum erstenmal einen leisen Anklang an das, was wir schwerfälligen Erdenmenschen heute 'Fliegen' nennen und erfüllt uns mit lebhafter Spannung. Wie mag es auf uns wirken, das Neue, Wundersame? Werden wir entzückt, enttäuscht sein?
   Der Aufstieg ist das Allerschönste, sagen viele - aber das was sich nun in rascher Wechselfolge den überraschten Blicken auftut, ist wohl auch schön und einzigartig. Wir sind auf einmal hoch, mindestens 175 Meter, über dem Wald- und Seengebiet, das rund um Potsdam seinen malerischen Gürtel schlingt. Bei jeder Luftbewegung verschiebt sich die Landschaft einigermaßen zu neuen Bildern, die alle den Stempel der eigenartigen Potsdamer Umgebung tragen. Wir nähern uns nun langsam Berlin. Wie unermeßlich groß das alles aussieht! Es ist einfach unmöglich, die Stadt sogleich zu übersehen, denn Berlin ist riesig, schier unendlich und vielseitig gegliedert in Vorstädte, grüne Anlagen und Zentrum.
   Die Lebendigkeit seiner Straßen, das Geschwindtempo seiner Benzin- und Pferdewagen, das Hasten und Durcheinanderdrängen der Millionen von Menschen erregen und verwirren den, der diese laute und lebhafte Stadt durcheilt. Doch wunderlicherweise nicht auch ebensosehr den, der sie überfliegt. Nach oben wirkt die Berliner Etole nicht, weil wir einmal zu weit von ihr entfernt und außerdem häufig selbst noch weit schneller sind als sie. Das Luftschiff fährt bei halber Kraft mit 65, bei voller Kraft mit etwa 80 Kilometern Geschwindigkeit über Berlin. Und noch ein Drittes kommt hinzu, eine Ursache, die deshalb so sonderbar erscheint, weil man sie beim vielbeschäftigten Spree-Athener keineswegs voraussetzen durfte: er steht still. Wenn durch seine dunstige Atmosphäre ein Luftkreuzer daherschifft, hält er tatsächlich in seiner Beschäftigung inne, steht, schaut und freut sich.
   Da unten im Gewimmel der Häuser pusten, rollen und rattern die Auto-Postwagen, Pferdefuhrwerke, Omnibusse, Straßenbahnen . Ganz deutlich erkennt man die Geleise von Nord- und Südring, von der Stadt- und Hochbahn. Aber ihr Klingeln und Fauchen, ihr Rattern und Stampfen, die ganze Nervosität der Riesenmetropole, dringt nicht herauf zur Höhe, in der der Propeller sein Lied summt, in der das silbrige Fahrzeug schifft.
   Rings dehnt sich das gewaltige Häusermeer. Der praktische Berliner, der selber weiß, daß er dem Luftreisenden wenig Wasser, wenig freie Plätze und wenig Grünanlagen in seinem steinernen Zentrum zu bieten hat, verfiel auf einen guten Gedanken: er besäte seine Dächer mit Gras. Das sieht ganz wunderbar und gartenähnlich aus und überzieht die platte Einförmigkeit der Hausbekrönungen mit poetischem, grünem Schimmer. Auch Blumen, Gurken und Kürbisse werden da oben über dem Straßenstaub kultiviert. Ob die Dächer immer so flach und grün und eintönig bleiben werden? Ob der Architekt sich nicht bald darauf besinnen wird, daß er nicht nur Rücksichten nach unten, sondern auch nach oben nehmen muß? Heute ist es doch im allgemeinen noch so, daß das, was von unten schön aussieht, nach oben wenig Wirkung bietet, weil früher niemand daran dachte, nach allen Seiten schön zu bauen. Mit Freude ruht des Luftseniffers Blick auf gut ausgebildeten Dächern, auf formenschönen Kuppeln und künstlerischer Gartenarchitektur.
   Hier oben schreibt auch wohl der und jener die unvermeidliche Ansichtskarte, die später im Luftpostbüro mit dem Höhenstempel versehen wird, und verewigt sich gleichzeitig im Bordbuch. Man macht immer wieder die Wahrnehmung, daß ein Passagier, so sehr ihn auch das Erlebnis des ersten Fluges innerlich erregen mag, die Vorwärtsbewegung des Schiffes an sich und sein Manövrieren sehr bald als etwas völlig Selbstverständliches empfindet. Das ist keine Blasiertheit und hat nichts gemeinsam mit dem Überlegenheitsgefühl des »Alles=schon=Dagewesenen«, sondern das ist ganz einfach die Folge der absoluten Sicherheit, mit der die Zeppelinkreuzer sich in ihrem Element bewegen. »Ich habe Angst«, »Ich fürchte mich vor Schwindel«, »Ich könnte seekrank werden« - alle diese Einwendungen, die immer noch im großen Publikum gemacht werden, wenn von einer Luftreise die Rede ist, empfindet der Passagier selbst als lächerliche Überflüssigkeiten, sofern er in der Höhe überhaupt noch daran denkt. Umschwirrt von den Tauben und Doppeldeckern des Johannisthaler Flugplatzes, kommt ihm wohl nur das Wunderbare dieses Erlebnisse voll zum Bewußtsein, und lange noch, nachdem sich das Schiff aus dem Schwarm der technischen Riesenvögel losgelöst und ihn schon über die hohen Schornsteine des südlichen Industriegebietes dem Wald- und Seengebiet Potsdams und damit dem Abschluß dieser bunten Fahrt entgegengeführt hat, zittert in ihm die leise Erinnerung nach an das Erlebnis, das mehr bedeutet als ein bloßes sportliches Schauspiel.
   
   
Grüttel, Else
Im Luftschiff über Berlin und Potsdam
Stuttgart 1914

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