1913 - Johann Peter Koch
Das Inlandseis durchquert
[Nach der ersten Überwinterung einer Expedition auf dem Inlandeis waren Koch, Wegener, Larsen und Vigfus am 20. April zur Westküste aufgebrochen.]
17. Juli. Pröven (heute: Kangersuatsiaq)
Jetzt ist die große Spannung der Reise endlich vorbei, und das Gehirn hat Zeit gehabt, den Gedanken zu fassen, daß wir wieder unter andern Menschen sind. Ich will versuchen, die bunten, starken Eindrücke der letzten Tage zu sammeln und zu ordnen, so daß sie erhalten bleiben können.
13. Juli. Am 15. Juli erreichten wir die große Senkung, die sich über den äußeren Teil der Kangeks-Halbinsel erstreckt. Dort aßen wir unsern letzten Pemmikan und machten uns dann ans letzte Stück des Weges über das Gebirge, um den Punkt der Küste zu erreichen, der Pröven direkt gegenüberliegt. Von dort aus konnten wir uns leicht durch Schüsse, Rauchsignale oder dergleichen mit der Kolonie in Verbindung setzen.
Es hatte angefangen zu regnen. Der Aufstieg auf das Gebirge war beschwerlich, und noch ehe wir oben waren, fühlten wir uns matt und ziemlich mitgenommen. Eine Stunde nachdem wir die Höhe erreicht hatten, entdeckten wir unter uns einen Fjordarm. Das war eine freudige Überraschung; wir waren also schon weiter, ab wir glaubten. Nach der Karte mußten wir uns bald gegenüber von Pröven befinden.
Mit einiger Mühe stiegen wir zum Fjord hinab und gingen an seinem Westufer entlang. Es war hier nicht gerade bequem vorwärtszukommen. An vielen Stellen fielen die Felsen steil ins Wasser. Sie waren glatt und schlüpfrig oder mit einem dicken Moosteppich bewachsen, der von dem anhaltenden Regen schwammig und naß war. Aber was machte das! In ein bis zwei Stunden mußten wir am Ende unseres Marsches sein, und wenn dann das Wetter nur klar werden würde, sollte es uns schon gelingen, uns mit den Leuten drüben in Pröven in Verbindung zu setzen. Es war freilich recht auffallend, wie wenig die geradlinige, trichterförmige Bucht, die auf der Karte angedeutet war, dem ganz schmalen, gewundenen Fjord ähnelte, an dem wir entlang gingen; aber es ist ja selbstverständlich, daß eine Karte von diesen abgelegenen Gegenden nicht vollkommen sein kann, und daß man es mit den Einzelheiten darauf nicht zu genau nehmen darf.
Wenn wir nur bald die Fjordmündung erreichten! Von dort aus mußten wir die kleine Inselgruppe sehen können, auf der Pröven liegt. Endlich kamen wir heraus; aber es war nicht Pröven, was wir diesmal zu sehen bekamen. Dagegen erblickten wir die schwarzen Basaltklippen des Nordteils von Kekertarsuak ganz dicht östlich vor uns. Also so hing die Sache zusammen!
Der Fjord, der uns verleitet hatte, vom Gebirge herabzusteigen, war überhaupt gar nicht auf der Karte vorhanden. Das war allerdings bei näherer Betrachtung nicht so merkwürdig. Denn praktisch war er von außen durch ein paar Inseln in seiner Mündung so gut wie verborgen und erinnerte eigentlich mehr an einen langgestreckten See als an einen Fjord.
Der Irrtum war uns ein schlimmer Strich durch die Rechnung, doppelt bösartig, weil wir an der Küste nach Westen nicht weiter kommen konnten. Die nackten Felsen fielen hier steil ins Wasser, so daß uns keine Wahl blieb. - Wir mußten wieder aufs Gebirge hinauf.
Jetzt wurde der Marsch anstrengender, als gut war.
Es hatte aufgehört zu regnen, aber gleichwohl waren unsere Kräfte erschöpft, als wir etwa 300 m hoch gestiegen waren. Wir hatten noch eine Büchse mit kondensierter Milch und vier Stück Hartbrot; das war unser ganzer Vorrat an Lebensmitteln. Wir bereiteten die Milch zu, um etwas Warmes in den Magen zu bekommen. Wegener war jetzt derjenige von uns, der am wenigsten mitgenommen war, der einzige, der noch einen kleinen Rest von Energie übrig hatte. Er war es, der die hier und da unter den Felsblöcken stehenden trockenen Heidebüschel sammelte und die Milch für uns kochte. Wir andern saßen stumpf da und sahen zu.
Die Milch und das Hartbrot halfen aber doch, und wir kamen wieder weiter.
Aber nun setzte der Regen wieder ein, und bald ging er in Schneegestöber über. Wir suchten Schutz unter einem mächtigen Felsblock. Aber es zog hier so unbarmherzig, daß wir bald wieder fort mußten. Das Schneegestöber verbarg jetzt alles um uns. Wir konnten uns in den wilden Felsen nicht mehr zurechtfinden. Selbst die ortskundigen Eingeborenen hätten es hier aufgeben müssen. Nach einigem Suchen fanden wir eine überhängende Felswand, unter der es möglich war, etwas Schutz vor dem Wetter zu finden. Hier bauten wir uns nach Eskimoart eine Schutzmauer aus Stein und Moos und krochen dann alle vier dicht zusammen hinter dem kleinen Steinwall. Es war gerade Platz genug für uns. Wir lagen so dicht zusammengepackt, daß wir uns alle auf einmal umdrehen mußten, wenn wir es in der unbequemen Stellung nicht mehr aushalten konnten. Hier lagen wir einunddreißig Stunden lang in einem ohnmachtähnlichen Halbschlaf!
Man liest oder hört nicht so selten unrichtige Beschreibungen des Hungers. Ausdrücke wie „der Hunger wühlt in den Eingeweiden" werden viel gebraucht und deuten auf einen rein physischen Schmerz hin; ein solcher tritt aber gar nicht auf.
Das erste Stadium des Hungers kennt jeder Polarforscher. Charakteristisch dafür ist, daß sich die Gedanken immer mit Essen beschäftigen. Das Essen ist der wichtigste Unterhaltungsstoff im Zelt. Man erkundigt sich sehr interessiert, was die Kameraden zu Hause gewöhnt sind. Man tauscht die Meinungen aus über den Wohlgeschmack jedes einzelnen Gerichts. Man streitet in vollem Ernst über die Vorteile und Mängel der Küchen der verschiedenen Länder. Und auf dem Marsch, wo man sich selbst überlassen ist, phantasiert man vom Essen ich meinerseits stets von Pfannkuchen.
Ich sehe mich selbst bei der warmen Bratpfanne stehen , die von Fett glänzt. Daneben, auf dem Tisch, steht eine braune Schale, halb gefüllt mit dem gelben, süßlichen Teig. Ich tue Butter in die Pfanne. Sie schmilzt, zischt und breitet sich auf dem Boden der Pfanne aus. Ich nehme die grobe Holzkelle, gieße den Teig vorsichtig über die schmelzende Butter, ergreife die Pfanne mit der Hand und neige sie vorsichtig hin und her, damit der Teig gleichmäßig nach allen Seiten fließen kann. Ich sehe, wie der Teig am Rande braun und steif wird, während sich in der Mitte große Blasen bilden, die zerplatzen, so daß der Dampf daraus aufsteigt. Ich rieche den starken, lieblichen Duft des frischgebackenen Teiges. Ich nehme das Messer, löse den Pfannkuchen vorsichtig vom Boden, probiere mit ein paar kleinen, kurzen Rucken, ob er jetzt auch ganz los ist, und gebe dann der Bratpfanne einen plötzlichen Schwung, so daß der Pfannkuchen in die Luft fliegt und gerade mitten auf der Pfanne, die gebackene Seite nach oben gekehrt, wieder ankommt.
Diesmal ging das bekannte Kunststückchen nicht ganz gut. Der Rand des Pfannkuchens schob sich zusammen. Vorsichtig glätte ich die Falte mit dem Messer.
Jetzt ist der Pfannkuchen fertig. Ich lege ihn auf einen warmen Porzellanteller, der neben mir steht, und soll nun mit dem nächsten beginnen.
Aber ich bin gar zu hungrig. Ich kann nicht länger warten. Ich rolle den Pfannkuchen zu einer Wurst zusammen, ergreife ihn ohne kleinliche Ziererei mit den Fingern und führe das warme Gebäck zum Munde - Ach Gott, wer doch solchen herrlichen, frischgebackenen Pfannkuchen hätte am liebsten mit Puderzucker drauf!
Zweieinhalb Monate lang haben wir auf diese Weise gehungert, ohne daß es uns nennenswert geschadet hätte. Körper und Geist waren abgehärtet, die Muskeln waren in Übung, und die Arbeit hatte im großen und ganzen keine größeren Anforderungen gestellt, als unseren Kräften entsprach. Erst in den letzten Tagen auf dem Inlandeise geschah es häufig, daß wir gezwungen waren, bis zur Überanstrengung zu arbeiten, einmal sogar bis zur völligen Ermattung.
Dann aber folgte der schwere Marsch über Land. Wir hatten weniger zu essen als vorher, die Kräfte wurden jeden Tag ganz aufgebraucht, und die Ruhe, die dann folgte, wenn man sich ins Heidekraut warf, wie man ging und stand, war auch nur mangelhaft. Die Arbeit hatte zugenommen, Ernährung und Ruhe abgenommen. Es herrschte kein Gleichgewicht mehr zwischen Ausgabe und Einnahme.
Ohne es zu merken, glitten wir in das zweite Stadium des Hungers hinüber, das der geistigen und körperlichen Erschlaffung. Wir waren müde, noch ehe wir den Tagemarsch angetreten hatten, und wären am liebsten da liegen geblieben, wo war gerade lagen. Die schmerzenden, geschwollenen Füße, die ständig naß waren, schleppten sich nur noch träge und schwer vorwärts. Aber wenn allmählich die Muskeln durchgearbeitet waren und der Körper warm wurde, fühlten wir doch, namentlich bei Sonnenschein, immer noch ein gewisses Wohlbehagen.
Das Essen, das vorher unser ein und alles gewesen war, wurde uns jetzt ganz gleichgültig. Wir sprachen nicht mehr davon wir sprachen überhaupt so wenig wie möglich, und die törichten Phantasien darüber machten einer großen Leere Platz. Ich versuchte, meine Gedanken mit meinem Heim, meiner Familie z u beschäftigen, mit dem, was mir das Leben wert macht; aber es wollte nicht recht gelingen. Die Gedanken liefen mir weg in die große Leere hinaus.
Die Zeit wurde uns im Grunde nicht lang. Es war eher, als ob die Zeit gar nicht existierte.
Wir stiegen die Berge hinauf und wieder hinunter; wir wateten durch kleine Bäche, arbeiteten uns durchs Heidekraut, krochen an Steilabfällen entlang und warfen uns hin, wenn wir nicht mehr konnten. Wir kochten Essen, aßen, tranken, schliefen ein paar Stunden, bis wir vor Kälte wieder erwachten, und schleppten uns dann weiter. Wir mußten ja versuchen, ans Ziel zu gelangen.
Vom Hunger spürten wir nichts höchstens in den ersten Augenblicken, nachdem wir gegessen hatten, überhungert waren wir trotzdem das steht fest, wir fühlten es nur nicht.
Dann kam der Tag, an dem wir unsern letzten Pemmikan aßen, ein Tag, der am Vormittag vor der Mahlzeit mit einem langen, anstrengenden Marsch begann und mit einer acht Stunden währenden, schwierigen Bergbesteigung in Regen und Tauschnee abschloß.
Als Wegener am Abend Heidekraut sammelte, um unsere letzte Portion Milch zu kochen, wurde ihm schwarz vor den Augen. Er mußte Kampfertropfen nehmen, um nicht in Ohnmacht zu fallen, und wir andern - ja, im Grunde waren wir schlimmer gestellt als er.
Als wir dann alle vier in unserm kleinen eskimoischen Lager zusammenkrochen, waren wir so naß und verkommen und so vollständig entkräftet, wie man es notwendigerweise sein muß, wenn man sich überhaupt darein finden kann, in unbequemer Stellung einunddreißig Stunden lang vor Kälte zitternd auf der nackten Erde zu liegen. Unser Hund lag auf uns - das wärmte doch immerhin etwas.
Eine solche Untätigkeit - Ruhe kann man es kaum nennen - erfrischt vielleicht etwas die verbrauchten Muskeln; aber gleichzeitig bricht sie die Willenskraft.
Ich hatte keine Vorstellung mehr von der Zeit. Als wir uns einmal umdrehten, fiel mir meine Uhr ein, und ich benutzte die Gelegenheit, um sie aufzuziehen. Ich sah, daß es zwischen vier und fünf war; aber ob Morgen oder Nachmittag, ahnte ich nicht.
Ich versuchte, meine Gedanken zu sammeln. Es mußte doch wohl Morgen sein. Dann standen sie also jetzt zu Hause auf; oder sie saßen vielleicht schon bei der Hafergrütze oder beim Tee. Die Fenster standen natürlich offen, und draußen war Sonnenschein und Sommer. Und hier lag ich, zerlumpt und schmutzig, die Füße in nasses Heidekraut verpackt. Das Wasser tropfte von der Felswand hinter mir; unaufhörlich fielen die Schneeflocken in der schweren, nebligen Luft. Ich fand den Gegensatz beinahe spaßig; aber das Bild fesselte mich nicht. Es war matt und blaß, fast, als ob das Ganze mich nichts anginge.
Ich legte mich nieder und verfiel wieder in einen Halbschlaf. - Irgend jemand rief mich und sagte, es hätte aufgehört zu schneien.
Unter uns war es klar; wir konnten den Fjord überblicken und den Fuß der dunklen Felsen von Kekertarsuak durchschimmern sehen. Aber im Gebirge über uns war alles in Nebel gehüllt. Der Schnee lag hier oben fußtief und bedeckte die losen Steine und die kleinen Unebenheiten des Bodens. Das Gehen würde schwer und der Weg kaum zu finden sein. Aber wir durften nicht länger zögern. Es waren jetzt fünfunddreißig Stunden vergangen, seit wir unsere letzte Milch getrunken hatten; und beinahe zwei Tage war es her, daß wir unsere letzte ordentliche Mahlzeil gehabt hatten. Wir mußten uns darauf gefaßt machen, daß unsere Kräfte versagen würden.
Unser bißchen Gepäck war schnell zusammengepackt, und wir kamen in Gang.
Himmel, war das eine Arbeit, die Beine vorwärts zu bringen! Es ging ziemlich steil bergauf, und die Füße glitten im nassen Schnee zurück.
Ich war schwindlig; und dann hatte ich ein Gefühl, als ob mir ein Zehnpfundgewicht an jedem Fuß hing. Na, wenn ich nur erst etwas Wärme in den Körper kriegte, dann würde es wohl besser gehen.
Ich ging rasch zu und überholte die Kameraden. Fünf Minuten später war ich so außer Atem, daß ich mich auf einen Stein setzen mußte. Ich sah mich nach den andern tun . Sie waren ganz dicht hinter mir, und doch konnte ich sie nur gerade noch erkennen wie in einem dichten, dunklen Nebel.
Dann verschwanden sie ganz im Dunkel, und ich sah nichts mehr- nicht einmal den Stein, auf dem ich saß.
Ich fand, das war eine sonderbare Sache. Ich fühlte mich ganz wohl und war doch im Begriff, ohnmächtig zu werden. Mein Bewußtsein schwand ganz langsam fort, so langsam, daß die Kameraden noch Zeit fanden, mir Kampfertropfen einzugeben, ehe ich ganz weg war.
Es scheint, als ob solche Sachen anstecken. Auch Vigfus und Larsen mußtenzu den Tropfen Zuflucht nehmen; aber Wegener hielt stand.
Der Ohnmachtsanfall war ein Memento mori. Wir waren im Begriff, in das dritte und gefährliche Stadium des Hungers hinüberzugleiten, den Zustand geistiger und körperlicher Erschöpfung.
Noch hatten wir unsere acht Patronen, also einige Schneehühner konnten wir wohl immer noch beschaffen. Aber im Augenblick konnte keiner von uns daran denken, auf Jagd zu gehen. Zuerst mußten wir versuchen, wieder etwas zu Kräften zu kommen, und dafür gab es nur ein Mittel: wir mußten unsern guten Freund, unsern braven, kleinen Hund schlachten.
Der Entschluß war schwer, aber wir führten ihn ohne Bedenken aus. Unsere Lage fing an kritisch zu werden.
Die Suppe war nur schwer zum Kochen zu bringen an diesem feuchten Morgen oben auf Kangeks-Halbinsel. Das Heidekraut war zu naß und gab nur Rauch, und wir hatten nicht die Kraft, umherzugehen und die trockenen Büschel unter den Felsblöcken zu sammeln.
Gegen 11 Uhr morgens setzten wir fest, daß jetzt das Essen fertig wäre, und füllten die Suppe und das halbrohe Fleisch in unsere Becher, um die Mahlzeit zu beginnen.
Im selben Augenblick entdeckte Wegener ein Segelboot draußen auf dem Fjord.
Der Abstand bis zum Boot schien uns viel zu groß, aber gleichwohl versuchten wir einen vierstimmigen Schrei oder Geheul - einen unartikulierten Laut unbestimmbarer Art - mit aller Kraft, die unsere Lungen leisten konnten. Dann schoß ich eine Kugel so dicht am Boot vorbei, wie ich nur wagen durfte.
Ich hoffte, die Kugel würde über das Wasser tanzen, so daß die Leute im Boot darauf aufmerksam würden.
Einen Augenblick darauf sahen wir zu unserer größten Freude das Boot wenden und auf das Land zusteuern. Man hatte draußen unsern Ruf und Schuß gehört, konnte uns aber am Abhang nicht sehen und steuerte nun nach dem Gehör aufs Land zu.
Wir riefen immer weiter. Kurz darauf hörten wir Antwortrufe und wußten nun, daß die Drehung des Bootes kein zufälliges Manöver war, sondern daß man draußen versuchte, mit uns in Verbindung zu kommen.
Ich ergriff meinen Becher mit dem Hundefleisch und stieg - oder besser rutschte -, so schnell ich konnte, den Abhang hinab, gefolgt von Wegener. Ich nahm mir knapp Zeit, Larsen und Vigfus zu bitten, unsere Sachen zusammenzusuchen und dann nachzukommen.
Während des Bergabrutschens aß ich bei jedem kleinen Halt von dem halbrohen Hundefleisch. Ich war plötzlich entsetzlich hungrig geworden, und das Hundefleisch schmeckte mir so gut wie das schönste Gericht.
Das Boot hatte am Ufer unter uns angelegt und wartete. Das war eine ungeheure Stimulanz. Und ich, der ich vor drei Stunden im Begriff war, vor Erschöpfung ohnmächtig zu werden, sprang jetzt ganz leicht und behende den steilen, schlüpfrigen Felshang hinab. Wegener hatte seinen Löffel verloren und blieb etwas - zurück; aber ich wollte nicht auf ihn warten.
Ich setzte meinen Abstieg fort und traf bald darauf die Eskimos, die den Abhang heraufgeklettert kamen, um uns zu helfen. Ich nahm meine wenigen eskimoischen Brocken zusammen, reichte ihnen die Hand, sagte guten Tag und machte ihnen verständlich, daß noch drei Mann oben waren, auf die wir warten, und denen wir herunterhelfen müßten. Man verstand mich, sagte „Ab", und so stieg ich weiter den Abhang hinab, wo ich gleich darauf im reinsten Dänisch angesprochen wurde.
Es war Pastor Chemnitz von Upernivik, der sich auf dem Wege von Pröven nach Sönder-Upernivik befand, wo er konfirmieren sollte.
Das war eine Erleichterung!
Mit einem Male war es, als ob mir eine mächtige bleischwere Last, deren Riemen mir den Brustkasten zusammengeschnürt hatten, von der Schulter genommen wurde - und doch zitterten mir dabei die Kniee, so daß ich kaum stehen konnte. Ich sammelte mich, nahm mich zusammen und erzählte Pastor Chemnitz ruhig von der Lage, aus der er jetzt die Expedition befreit hatte.
Unterdes waren meine Kameraden und die Grönländer dazu gekommen, und in gemächlichem Tempo gingen wir nun weiter zur Küste hinab, wo Pastor Chemnitz uns durch die Grönländer ein herrliches Mahl aus gekochten Alkeneiern, Butterbrot und Kaffee bereiten ließ.
Pastor Chemnitz wollte nichts davon hören, die Reise nach Sönder-Upernivik fortzusetzen. Habe er das Glück gehabt, der Expedition in einer kritischen Lage helfen zu können, sagte er, so wolle er jetzt auch das Vergnügen haben, uns nach Pröven zu fahren, wo unser Depot und unser Motorboot und namentlich unsere Post auf uns wartete.
Nach einer Rudertour von drei bis vier Stunden erreichten wir Pröven, Bevor wir in den kleinen, anheimelnden Hafen hineinkamen, hatte ich die seidene Fahne der Expedition im Boot gehißt, und die Grönländer in der kleinen Kolonie, welche schon längst auf uns warteten, konnten jetzt nicht mehr im Zweifel sein, wer da in Pastor Chemnitz' Boot ankam.
Wie durch Zauberei flogen überall in dem kleinen Wohnort die Flaggen empor, und unten an der Landungsbrücke stand Kolonievorstand Lembcke-Otto und Frau mit etwa hundert Grönländern, um uns willkommen zu heißen. Die Salutschüsse der kleinen Batterie dröhnten über uns.
Koch, Johann Peter
Durch die weiße Wüste: die dänische Forschungsreise quer durch Nordgrönland 1912-13
Berlin 1919