1912/13 - Johann Peter Koch
Die erste Überwinterung auf dem Grönlandeis: Borg
Während der Überwinterung gestaltete sich unser Leben außerordentlich regelmäßig. Alle täglich wiederkehrenden Arbeiten, wie die Bestellung des Hauses, die Stallreinigung, das Füttern und die wissenschaftlichen Beobachtungen, gingen teils die Reihe herum, teils waren sie bestimmten Personen übertragen, so daß jeder ganz genau wußte, was er selbst und auch was die andern täglich zu tun hatten. Jedes Befehlen war dabei überflüssig. Auch nicht für die mehr zufälligen oder gelegentlichen Arbeiten, wie Umnähen der Schlafsäcke, Schlittenreparaturen, Eisbohrungen, Schneeschaufeln, Bewegen der Pferde im Freien usw., wurden Befehle im gewöhnlichen Sinne des Worts gegeben. Wir besprachen die Sache zusammen und beschlossen, daß morgen oder nächste Woche oder nächsten Monat dieses oder jenes gemacht werden sollte, und dann wurde es stets ohne weiteren Bescheid oder Befehl ausgeführt.
Um ½ 6 Uhr morgens standen drei von uns auf; einer kehrte die zugereiften Abzugsrohre, reinigte den Stall und fütterte; ein anderer fegte die Stube und besorgte die Lampen und den Petroleumofen; der dritte endlich kochte Hafergrütze und Kaffee. Der vierte konnte bis ungefähr 6 Uhr liegen bleiben; dann war die Hafergrütze fertig, und wir frühstückten. Um ½ 12 aßen wie ein zweites Frühstück, das aus kalten Gerichten - Hartbrot, Keks, Butter und Aufschnitt - und Kaffee bestand, und um 6 Uhr aßen wir zu Mittag, immer nur ein Gericht. Dazu gehörte eine Zigarre und eine Tasse Tee.
Um ½ 10 Uhr gingen wir schlafen.
Wir hielten keine bestimmte Arbeitszeit ein; dazu war auch keine Veranlassung. Jeder arbeitete, wann er Lust hatte oder fühlte, daß er es tun müßte. Man konnte oft, selbst mitten am Vormittag, drei von uns arbeiten sehen, während der vierte in einem Roman las.
Diese Freiheit in der Arbeitseinteilung ist niemals mißbraucht worden. Alle Arbeiten wurden sorgfältig ausgeführt und waren zur rechten Zeit fertig. Der Sonntag war Ruhetag, an dem nur die notwendigen täglichen Arbeiten besorgt wurden. Auch rein äußerlich versuchten wir ihn als Unterbrechung Während der etwas einförmigen Überwinterung hervorzuheben: morgens blieben wir eine halbe Stunde länger liegen; die Hafergrütze wurde mit Milch gekocht; zum Frühstück gab es Lachs und Sardinen, Schnaps und eine Zigarre und zum Mittagessen Dessert und ein Glas Madeira. Im ersten Teil der Überwinterung pflegten Wegener und ich am Sonntagabend eine Partie Schach zu spielen; später fiel dies wegen Zeitmangels fort.
Wir halten wohl Karten mit, spielten aber nie; wir zogen alle ein Buch dem Spiel vor.
Die Überwinterung verlief ausgezeichnet. Nie hörte man ein zorniges oder bitteres Wort, nie sah man ein saures oder mißvergnügtes Gesicht. Dies glich so wenig der sonst üblichen Gereiztheit und Verbitterung der Dunkelzeit, daß unser Erfolg in diesem Punkte wohl einen besonderen Grund gehabt haben muß. Daß wir so wenige waren und unser Leben so regelmäßig verlief, hätte uns nicht davor schützen können, einander überdrüssig zu werden.
Aber trotz verschiedener Nationalität, Erziehung, Ausbildung und Interessen hatten wir etwas Gemeinsames in Charakter und Denkart, das zusammen mit dem gemeinsamen Ziel eine starke Kameradschaft schuf, welche uns glatt über alle Schwierigkeiten der Winternacht forttrug.
Und doch war eine starke Veränderung z u spüren, als die Sonne nach fast vier Monaten wiederkam. Ich merkte es bei meinen Kameraden an der wachsenden Arbeitslust, an ihrem größeren Mitteilungsbedürfnis und dem häufigeren frohen Lachen. Aber vor allem merkte ich es an mir selbst. Im Laufe des Winters war ich oft mißmutig und hatte stark daran gezweifelt, daß uns die lange Reise quer durch Grönland gelingen würde. Als etwas fast Hoffnungsloses standen die 1000 - 1200 km durch das öde Innere Grönlands vor mir. Außerdem peinigte mich die Ungewißheit, ob ich überhaupt wieder ganz marschfähig werden würde. Aber kaum zeigte sich die Sonne wieder, als alle Zweifel schwanden. Es wurde mir wieder etwas Selbstverständliches, daß uns die Reise gelingen würde; das gebrochene Bein war so gut wie geheilt, und das bißchen Kältebrand, das ich um diese Zeit noch im linken großen Zeh hatte, machte mir keine Sorgen mehr.
Auch die Pferde überstanden den Winter gut. Die Stalltemperatur war gewöhnlich am Boden etwas unter Null und höher oben sogar positiv. Wir hätten Petroleum genug gehabt, um auch den Stall zu heizen; aber das war unnötig. Die Pferde befanden sich wohl und hielten sich auch in leidlich gutem Stand. Am unangenehmsten war für sie sicher die Feuchtigkeit. Namentlich während der Schneestürme, wenn die Temperatur draußen auf ungefähr - 10 ° stieg, tropfte das Wasser von der Decke des Stalles herab, so daß die Pferde naß wurden.
Im Anfang konnten wir sie nicht einmal mit Decken schützen, weil sie diese fressen wollten. Überhaupt entwickelten sich die Pferde mehr und mehr zu Allesfressern. Daß sie gern Hartbrot und Fleischschokolade nahmen, wunderte mich nicht, wohl aber, daß sie auch Pferdefleisch fraßen; letzteres war so hart gefroren, daß wir es in große Scheiben zersägen mußten, die wiederum mit der Axt in kleine Stücke zerschlagen wurden. Daß dieses „Pferdefleisch" auch Knochen, Sehnen und Eisklumpen enthielt, machte nichts. Die Pferde fraßen drauflos, bis die Krippe leer war.
Später, gegen Schluß des Winters, fütterten wir die Pferde mit Schlittenproviant, um sie an dieses Futter zu gewöhnen, welches auf der Reise quer durch Grönland zum Teil an die Stelle des Kraftfutters treten sollte. Im Anfang sahen sie sich die neue Kost recht bedenklich an und hatten Angst vor den weißen Keks und den gelben Butterklumpen, die da unten auf dem Boden der dunklen Krippe leuchteten. Aber es dauerte nicht lange, bis sie sehr hinterher waren hinter Pemmikan, Sülze, Zitronenbonbons, Zucker, Blutpudding, Fleischschokolade, Hafergrütze, Erbswurst, Hartbrot, Keks und Meiereibutter.
Nur Leberwurst ließen sie stets liegen; die war ihnen offenbar zu stark gewürzt.
Wasser konnten wir den Pferden nicht geben, sie mußten mit Eis zufrieden sein, wovon jedes täglich einen Eimer bekam. Auch hierin trat nach und nach eine Veränderung ein. Wir waren auf den Gedanken gekommen, für sie das Aufwaschwasser und den am wenigsten verunreinigten Teil des photographischen Spülwassers zu sammeln. Dieses fettige Wasser stand bei ihnen hoch im Kurs; aber es verschlug natürlich nicht.
Den ganzen Winter wurden die Pferde bei gutem Wetter mittags eine Stunde gerührt. Während des größten Teils des Winters besorgten dies Vigfus und Larsen. Vom Februar ab beteiligten wir uns aber alle vier daran, und gleichzeitig wurden auch die Ausflüge auf mehrere Stunden ausgedehnt. Bei diesem Pferderühren ging es immer nach Südwesten über das gefaltete Eis des Storström. Dadurch wurden wir mit diesem Labyrinth nach und nach vertraut, und es gelang uns schließlich, eine wenn auch außerordentlich gewundene Route herauszufinden, auf der wir wenigstens mit halb beladenen Schlitten vorwärts zu kommen hofften. Die Pferde ertrugen selbst die stärkste Kälte gut. Sie bekamen niemals Frostschäden und befanden sich draußen augenscheinlich wohl. Sie wälzten sich übermütig im Schnee, galoppierten umher und schlugen mit den Hinterbeinen aus. Aber wenn die Temperatur sehr niedrig war — 40 bis 45 ° unter Null —. konnte man doch bei ihnen eine gewisse Bereitwilligkeit bemerken, wieder nach Haus in den verhältnismäßig warmen Stall zu kommen.
Während des Winters trat nur ein Krankheitsfall bei den Pferden ein. Sie bekamen Läuse. Leider entdeckten wir es zu spät, so daß das Ungeziefer Zeit hatte, sich auszubreiten und ein paar von den Pferden etwas abfielen. Diese Krankheit kurierten wir aber sehr einfach. Vigfus und Larsen wuschen die Pferde mit einem Bad, das aus 3 Eimern Wasser, 20 Badepulvern, einem guten Deziliter Kreolin, ½ kg Salz, 2 l Spiritus und 5 Stück Salmiak-Terpentinseife hergestellt war. Die Pferde wurden an Kopf, Hals, Körper und Beinen eingeseift und kriegten Erlaubnis, mit der Seifenlauge im Pelz stehenzubleiben. Nur am Schwanz fanden die Läuse eine etwas feuchte Zufluchtsstätte.
Viele Tage roch ganz Borg nach Spiritus und Kreolin; aber alle Läuse kamen jämmerlich um.
Koch, Johann Peter
Durch die weiße Wüste: die dänische Forschungsreise quer durch Nordgrönland 1912-13
Berlin 1919