Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1907 - Otto Julius Bierbaum
Mit der Tram in die Spielbank
Monaco

 

Ein Rosselenker rief uns an, fragend, ob er uns für zwanzig Franken zweispännig nach Monaco befördern dürfte. Mein Lordshut und Madames Spitzenmantel hatten es ihm angetan. Aber es lag uns wahrhaftig fern, unserm Spielfonds zwanzig Franken zu entziehen. Wir blieben, wie hold er auch lächelte, fest und warteten auf die elektrische Trambahn.
   Diese Charakterstärke hätte einen besseren Lohn verdient als den, der uns zuteil wurde. Wir mußten fast eine Stunde harren, bis ein Wagen kam, in dem es noch zwei freie Stehplätze gab. Ich erwähne dies als Beitrag zur Morallehre. Nein, ihr gutgläubigen Schwärmer, es ist nicht wahr, daß Tugend belohnt wird. Das lüsterne Fleisch fährt zweispännig, und der stoische Wille muß sich von knoblauchduftigen Nizzarden auf den Hühneraugen herumtreten lassen. Aber das ist richtig: Hinterher ist die Genugtuung der Tugend groß, die achtzehn Franken für den Spieltisch gespart hat.
   Von der Pracht und Herrlichkeit des Kasinoplatzes auf Monte Carlo möge ein anderer handeln. Ich für mein Teil finde ihn allzu prächtig und allzu herrlich. Mir fehlt der Sinn für Pompösitäten ohne lebendigen Geschmack. Dagegen habe ich mit Signora recht andächtig und entzückt die Auslagen einiger Pariser Putzmachergeschäfte bewundert. Beim Andenken der verliebten kleinen Musette, meine Frau hat recht: Diese Pariserinnen haben mehr als Talent, haben Genie. Aus ein bißchen Sammet oder Seide, Spitzen oder Tüll, Stroh oder Pelz, mit ein paar Blumen, Schleifen, Rüschen, Federn wirken sie ästhetische Wunder. Diese Hüte haben den Reiz von Improvisationen geistreich geschmackvoller Menschen. Es haftet ihnen nichts vom Geist der Schwere an, keine Steifheit, keine Absichtlichkeit. Es ist Grazie mit Witz; Esprit, der Phantasie hat; Geschmack, der es bis zur Poesie bringt. Ein fabelhaft sicherer Sinn für Form und Farbe unternimmt die frechsten Wagnisse bis hart an die Grenze des Möglichen, ohne doch je etwas hervorzubringen, das nicht als Kunstwerk von Distinktion wirkte. Selbst das Höchste in der Kunst bringt er zuwege: reine Einfalt ohne Banalität. Wir sahen einen Hut, der eigentlich nichts war als ein umgestülpter Topf aus rotem, weißem und schwarzem Sammet. Es ist ganz unmöglich, zu sagen, warum dieses Ding nicht etwa plump oder komisch, sondern hinreißend schön aussah. Das Geheimnis seiner Schönheit lag wohl darin, daß die Linien seines Umrisses sowohl wie jede Falte des Stoffes von Fingern gebildet waren, die genialer Eingebung des Moments folgten, nachdem das Ganze zuvor innerlich von der Künstlerin gesehen worden war.
   Es begreift sich leicht, daß meine Frau den lebhaften Wunsch hegte, einen solchen Hut zu besitzen, und ich den noch lebhafteren, sie in solchem Hut zu sehen. Daß aber ein deutscher Dichter, und sei er wie ich mehr Geschäftsmann als Dichter, nicht in der Lage ist, seiner Frau ein derartiges Kunstwerk zu kaufen, leuchtet ohne weiteres ein.
   Unsere Begierde, die Bank von Monte Carlo zu sprengen, wurde zur wilden Leidenschaft. Kaum, daß ich noch Blicke für die eleganten Ambassadricen der Venus von Paris hatte; kaum, daß meine Frau noch Andachtskraft für die Auslagen der großen Schneider aufzubringen vermochte: Das Gold läutete uns in seinen Tempel, wir folgten der großen Glocke.
   Das Leben in den Spielsälen der Monaco-Aktien-Gesellschaft, deren Dividenden so gewaltig sind, wie es unsere Hoffnung war, sie durch einen phänomenalen Gewinn zu schmälern, ist zum Glück schon so oft und mit so glühenden Farben geschildert worden, daß ich mir die Mühe ersparen kann, ein Gemälde davon zu entwerfen. Ich lasse es um so lieber bleiben, als ich weder die flackernden Augen der verzweiflungsvoll ihr Letztes auf eine Karte setzenden Spieler noch das müde Lächeln der Verspieler von Riesenvermögen, noch die grausame Verkniffenheit in den erbarmungslosen Augen der Croupiers bemerkt habe. Ich sah es nicht, weil ich lediglich auf die dicken Fünffrankenstücke guckte, die ich, gänzlich unbekannt mit den Regeln des Spiels, irgendwohin setzte, wo gerade Platz war. Ich hörte »Faites votre jeu, messieurs« und »rien ne va plus«, und die Kugeln tanzten, und es roch wie in einem Parfümerieladen. Und das ging eine Weile so hin, bis ich fünfzig Franken verloren hatte und die Stimme meiner Frau vernahm: »Du hast gar keine Ahnung von der Sache. Laß mich machen!«
   Sie hatte nämlich, während ich im Interesse unserer Finanzen rastlos tätig gewesen war, versucht, den Sinn der Figuren und Nummern zu ergründen, die auf dem grünen Tuch zu sehen waren. Und nun fing sie an, mit Überlegung zu tun, was ich völlig unüberlegt getan hatte. Ich hatte gespielt, sie berechnete. Wenn Fortuna kein ganz albernes Frauenzimmer wäre, das keine Idee davon hat, worin ihr Wesen eigentlich beruht, nämlich im Unberechenbaren, das ich mit dem Instinkt des Schicksalskundigen kühn und groß herausgefordert hatte, so hätte sie meine Frau sofort durch andauerndes Einziehen ihrer Fünffrankenstücke bestrafen müssen. Statt dessen bereitete sie ihr den Triumph, sie die fünfzig Franken wiedergewinnen zu lassen, die ich verloren hatte.
   Ich wußte nicht, ob ich mich darüber freuen oder ärgern sollte. Denn, wenn es zwar erfreulich war, den Spielfonds wieder beisammen zu haben, so war es doch auch ärgerlich, dies mit einer Einbuße an Autorität zu bezahlen.
   Doch würdelos, wie man nun einmal wird, wenn man, wie ich, den Sinn auf das Materielle zu richten gewöhnt ist, freute ich mich schließlich doch, indem ich im geheimen hoffte, die verlorene Autorität auf anderem Wege wiederzugewinnen.
   Meine Frau aber setzte mit Überlegung weiter. Einmal sogar zehn Franken. Und gewann immerzu. Es kam der Augenblick, wo unser Spielfonds verdoppelt war.
   »Siehst du?« sagte sie und lächelte so infam, wie ich es ihr niemals zugetraut hätte.
   »Was denn?« entgegnete ich kühl.
   »Duecento lire!« erwiderte sie; der Moment war zu erhaben, als daß sie ihn nicht toskanisch hätte verklären müssen.
   »Wenn's weiter nichts ist!« warf ich verächtlich hin.
   Da setzte sie, gereizt und kühn, fünfzig Franken auf einmal. Ich dachte nichts anderes, als sei sie im Glückstaumel übergeschnappt, und ergriff eines der unheimlichen Schiebestäbchen, den Wahnwitz aufzuhalten, die fünfzig Franken zurückzuscharren. Da krähte der glatzköpfige Croupier aber auch schon los: Rien ne va plus, und die schicksalträchtige Kugel hopste wie besessen in der Roulette.
   »Du bist verrückt«, stöhnte ich, von dem Recht des Ehemanns, grob zu sein, skrupellos Gebrauch machend.
   Die Kugel stand still.
   Mein Herz auch.
   Der Croupier scharrte geschickt und gelassen die Unglückshäufchen von Fünf- und Zehnfrankenstücken zu sich heran, denen die Kugel Pech gehopst hatte.
   Da: Ping, ping, ping, ping ließ er Goldstücke auf das Häufchen regnen; lauter Napoleondors, eine unglaubliche Menge.
   In diesem Moment bewies meine Frau wahre Seelengröße.
   Sie machte, ruhig, als sei es ihr ein gemeiner Anblick, Goldstücke dutzendweise um sich zu versammeln, ihren Pompadour auf, kramte darin herum, als suchte sie etwas, entnahm ihm ihr Taschentuch, wischte sich das Näschen, legte das Tuch hinein, placierte den geöffneten Silberbügel des Pompadours am Rande der Tafel und ließ mit unglaublicher Gleichgültigkeit den Goldstrom hineinplätschern.
   Dies getan, stand sie nicht ohne Majestät auf und sagte zu mir: »Ich glaube, unsere letzte Trambahn muß gleich abgehn.« Es ist unglaublich, aber nichts als die reine Wahrheit: Sie wollte sich mit ihrem Raub auf den Yankeedoodle zurückziehen. »Wir haben genug«, erklärte sie. »Ich weiß nicht, wieviel ich gewonnen habe, aber es ist genug. Wenn ich jetzt weiterspiele, verliere ich.«
   Ich hatte die dunkle Empfindung, daß sie recht hatte, daß sie wirklich die Stimme des Schicksals in sich vernahm, daß es also vernünftig war, was sie sagte. Und ich wollte sie schon am Ärmel nehmen und mit ihr fortgehen - direkt zu dem himmlischen Hut drüben.
   Da ging ein Rauschen durch den Saal, ein Flüstern, das zu einem Surren von Stimmen wurde, und ein Rascheln von vielen, vielen seidenen Frauenkleidern.
   »C'est Théodore!« hörten wir rufen. »Théodore! Thédore!
   Cinquante mille! Soixante! Théodore!«
   Wir sahen uns um und genossen den Anblick von gut drei Dutzend aufgeregter Damen verschiedenen Alters, die Eisenfeilspänen gleich, wenn der Magnet sie in seine Sphäre gezogen hat, allesamt auf einen Punkt zuschossen: in den Nebensaal zu einem anderen grünen Tisch, wo ein unangenehm schöner junger Herr stand, ausschließlich damit beschäftigt, Tausendfrankennoten in ein enormes Portefeuille zu stopfen.
   »Glaubst du wirklich, daß er fünfzig-, sechzigtausend Lire gewonnen hat?« fragte meine Frau.
   »Nach der Ovation zu urteilen, die ihm Fortunas Kusine, die eifersüchtige Venus, bringt, gewiß. Du kannst dich darauf verlassen, daß er diesen Tag nicht als Einsiedler beschließen wird«, sagte ich.
   »Diese Unanständigkeiten interessieren mich nicht«, sagte sie.
   »lch finde es gar nicht unanständig, sechzigtausend Franken zu gewinnen, und bin jeden Augenblick zu der gleichen Unanständigkeit bereit«, sagte ich.
   »Ich auch«, sagte sie und ging in den Nebensaal zu dem anderen grünen Tisch.
   Sie hatte es sehr bald heraus, daß es dort in Einsatz, Gewinn und Verlust erheblich anders kleckte als bei unsrer zahmen Roulette.
   »Ich glaube«, sagte sie, »wir versuchen es einmal hier.« »Aber«, sagte ich, »ich denke, du hast kein Glück mehr?« »Dort!« sagte sie. »Hier ist es etwas anderes. Wie du siehst, muß man hier mindestens zwanzig Lire setzen.«
   Ich sah ein, daß es in der Tat etwas ganz anderes war, erhob keinen eheherrlichen Einspruch. Nur machte ich zur Bedingung, daß auch ich in Théodores Spuren wandeln durfte.
   »Doppelt genäht hält besser, weißt du ... «
   »Ja, wenn du nur eine Ahnung vom Nähen hättest.« »Bitte sehr: Im Trente et quarante habe ich vor zehn Jahren einmal, zweihundert Franken gewonnen.«
   »Und sie wieder verloren, weil du nicht zur rechten Zeit aufhörtest.«
   »Aber heute habe ich zwei große Beispiele vor mir: dich und Théodore.«
   »Wenn du mir versprichst, aufzuhören, sobald du fünftausend, nein viertausend, nein, wenn du dreitausend Franken gewonnen hast ... «
   »Selbstredend.«
   Sie ließ mich einen Griff in den Pompadour tun, und ich begab mich mit einer Faust voller Goldstücke zur anderen Seite des Tisches. Ich war wirklich vom Glück begünstigt. Eben stand eine dicke Dame auf und schimpfte etwas Polnisches.
   Hast du verloren, mein Täubchen, dachte ich mir, so ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß ich auf diesem Platz gewinnen werde. Ach, ich bin immer ein schlechter Mathematiker gewesen: Auch diese Wahrscheinlichkeitsrechnung stimmte nicht. Andere Leute gewinnen wenigstens anfangs und verlieren das Gewonnene nur infolge ihrer Willensschwäche, weil sie nicht aufzuhören wissen und blind und blöde die Schwelle überschreiten, die aus dem Gewinnen ins Verlieren führt. Ich aber verlor von Anfang an, unaufhörlich, immerzu, ohne Unterlaß und Unterbrechung. Da ich von Mal zu Mal die Einsätze verdoppelte, ging es sehr schnell, ich darf wohl sagen: rapid. Die Sache hatte nicht den mindesten psychologischen Witz. Es war eine ganz blödsinnige Wiederholung von Niederträchtigkeiten.
   Angeekelt von einem Schicksal, das keine Nuancen kennt, schob ich den Stuhl zurück, aufzustehen. Es blieb mir auch nichts anderes übrig, denn nicht der Schatten eines Napoleondors war mehr in meinem Besitz.
   Ich hörte im zermarterten Geist bereits die Reprimanden von Madame und trug Bedenken, mich der großen Gewinnerin zu nähern, als ich, aufstehend und mich umwendend, sie mir gegenüber sah. Ich senkte den Blick.
   Als ich ihn erhob, sah ich, daß der ihrige noch nicht den Mut aufgebracht hatte, sich zu erheben.
   Ich wußte genug.
   »Hast du noch Geld zur Trambahn?« fragte ich.
   »Wir können sogar noch Abendbrot essen«, sagte sie, »und ein paar Ansichtspostkarten wegschicken.«
   »Es gibt welche mit Schmähungen auf Albert I., Honoré Charles, Fürsten von Monaco«, sagte ich.
   »Die nehmen wir«, sagte sie.
   
Bierbaum, Otto Julius
Die Yankeedoodle-Fahrt
München 1910, 2. Auflage

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