Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1868 - Queen Victoria
Ein Unfall in Glen Clova

Schottland

 

Mittwoch, 7. Oktober 1868. Ein nebliger Morgen! Ich entschloß mich, auf Alicens Rat, schweren Herzens den Versuch zu machen, nach Clova zu fahren. Um halb 1 Uhr fuhr ich mit Alice und Lenchen bis Altnagiuthasach, wo wir ein Gabelfrühstück hergerichtet fanden, - darunter auch Kartoffeln und gewärmte Fleischbrühe, - und von da ritten wir über Capel-Month bei beständigen leichten Schneeschauern. Die hohen Berge waren alle schneebedeckt, und die flüchtigen Sonnenstrahlen, welche sie zwischen den Schneefällen abwechselnd beleuchteten, gewährten einen sehr schönen Anblick, - aber der Weg war lang und ich wurde gegen das Ende zu sehr müde und fühlte mich recht traurig und einsam. Als wir herabkamen, sah der Loch Muich wundervoll aus beim Sonnenuntergang und erinnerte mich an viele vergangene Tage, die ich hier verlebt.
   Wir hielten in Altnagiuthasach, um daselbst den Tee zu nehmen. Grant war nicht bei uns, da er mit Vicky (I.K.H. die Frau Kronprinzeß des Deutschen Reiches und von Preußen) gefahren war, welche mit Fritz-Wilhelm (S.K.H. der Kronprinz des Deutschen Reiches und von Preußen) und ihren Kindern drei Tage vorher angekommen war zum Aufenthalt in Abergeldie. Ungefähr 20 Minuten vor 7 Uhr brachen wir von Altnagiuthasach wieder auf, Brown auf dem Kutschbock neben Smith, welcher kutschierte, der kleine Willem, Alicens kleiner schwarzer Diener, hinten auf. Es war schon ganz dunkel, als wir fortfuhren, doch brannten die Laternen wie gewöhnlich. Von Anfang an schien Smith indes schon ganz unsicher zu sein (er hatte sich wirklich in der letzten Zeit sehr verändert) und kam mehrmals vom Wege ab, einmal sogar an einer recht gefährlichen Stelle, wo Alice ihn anrief und Brown vom Bock sprang, um ihm den Weg zu zeigen. Endlich schien es, als befänden wir uns bei langsamer Fahrt auf dem rechten Wege, doch war Alice noch immer im Zweifel, und obgleich Brown mit erhobener Laterne neben Smith saß, konnte Letzterer doch durchaus nicht sehen, wo er fuhr, trotzdem der Weg so breit und eben als möglich war. Plötzlich, ungefähr zwei Meilen hinter Altnagiuthasach und etwa 20 Minuten, nachdem wir von da fortgefahren waren, begann der Wagen sich nach einer Seite zu neigen. Wir riefen: "Was gibt es?" - Dann kam eine furchtbare Pause, während welcher Alice sagte: "Wir werfen um!"
   Nach einem andern Augenblick, der mir Zeit gewährte zu erwägen, ob wir getötet würden oder nicht, und daran zu denken, daß ich vorher noch Einiges gern festgesetzt hätte und zu tun beabsichtigt hatte, - da legte sich der Wagen zu Seite und wir Alle wurden herausgeschleudert. Ich fiel sehr hart mit dem Antlitz auf den Boden zunächst dem Wagen, und hörte Brown in Verzweiflung ausrufen: "Allmächtiger Gott, habe Mitleid mit uns! Wer hat jemals Ähnliches erlebt! Ich dachte schon, alle wären tot!" - Man half Alice auf, indem man ihre Kleider zerriß, um sie loszumachen, nur Lenchen ( I.K.H. die Prinzeß Christian von Schleswig-Holstein), welche ebenfalls durch ihre Kleider festgehalten wurde, schrie ganz kläglich, was mich nicht wenig erschreckte; aber durch Brown's Hilfe ward sie befreit, und weder sie noch Alice waren irgendwie verletzt. Ich versicherte allen das gleiche und schlug vor, es leicht zu nehmen, da es ein unvermeidlicher Unfall gewesen. Smith, der total verwirrt und verblüfft, war, fragte endlich auch ob ich verletzt sei. Indes lagen die Pferde wie tot am Boden, und es war durchaus notwendig, ihnen aufzuhelfen. Alice, deren Ruhe und Besonnenheit bewunderungswürdig war, hielt eine der Laternen, indes Brown zum Entsetzen von Smith die Geschirre durchschnitt, aber die Pferde waren dadurch schnell befreit und erhoben sich, ohne Schaden genommen zu haben. Natürlich ließ sich die Rückkehr nach Hause nicht anders bewerkstelligen, als Smith mit den beiden Pferden zurück nach einem anderen Wagen zu schicken. Das nahm einige Zeit in Anspruch, fast eine halbe Stunde, ehe wir weiter konnten, und währenddem fühlte ich, daß mein Antlitz ziemlich stark zerschlagen und geschwollen war, und vor allem war es mein rechter Daumen, der mich sehr schmerzte und auch stark anschwoll, so daß ein erster Gedanke war, der Finger sei gebrochen, bis wir ihn zu bewegen versuchten. Alice riet dann, daß wir auf dem Boden des Wagens niedersitzen sollten, mit dem Sitz als Rückenlehne, und bedeckt mit Plaids, was wir auch taten. Vorn saß der kleine Willem mit der Kapuze seines Burnusses über dem Kopf, eine der Laternen haltend, Brown die andere, und, wie stets, unermüdlich in seiner Aufmerksamkeit und Fürsorge. Er hatte sich das Knie beim Herabspringen von dem Wagen stark verletzt.
   Ein wenig Claret war alles, was wir zum Trinken und Waschen meines Gesichtes und meiner Hand erlangen konnten. Fast augenblicklich, nachdem der Unfall stattgefunden, sagte ich zu Alice, es sei schrecklich, daß ich ihn nicht meinem geliebten Albert erzählen könnte, worauf sie erwiderte: "O, er weiß es gewiß, und ich glaube, daß er über uns gewacht hat!" - Ich bin froh, daß der Unfall nicht durch meine Unvorsichtigkeit herbeigeführt worden war, oder durch die kleinste Abirrung von dem, was mein geliebter Gatte und ich sonst zu tun pflegten, oder was er nicht gutgeheißen und gestattet hätte.
   Der Gedanke, so lange Zeit auf der Landstraße zu sitzen, war natürlich nicht sehr angenehm, aber es war nicht kalt und ich erinnerte mich sofort dessen, das mir mein Geliebtester immer geraten, das, was unabänderlich ist, von der besten Seite zu nehmen. Zuerst hatten wir die schwache Hoffnung, daß unsere Ponies uns einholen würden, aber Brown sagte uns, daß sie vor uns zurückgekehrt wären. Natürlich sprachen wir von nichts anderem als dem Unfall, wie derselbe herbeigeführt worden war und wie glücklich wir davongekommen, alle aber stimmten wir darin überein, daß Smith unfähig sei, mich fernerhin im Dunkeln zu fahren. Wir hatten ziemlich eine halbe Stunde so gesessen, als wir den Ton von menschlichen Stimmen und Pferdehufen hörten, die näher und näher kamen, und zu unserer Freude fanden wir, daß es unsere Ponies waren! Kennedy, zu dem sich Albert hingezogen fühlte und der immer mit ihm ausging, hatte gefürchtet, es möchte uns ein Unfall begegnet sein, da wir so lange ausblieben. Er hörte, wie Smith mit den Pferden zurückeilte, sah, wie Lichter sich hin und her bewegten, und war nun überzeugt, daß uns etwas zugestoßen sein müßte. So kehrte er denn um, nach uns zu sehen, was sehr klug von ihm war; denn sonst hätten wir bis 10 Uhr so sitzen können. Wir bestiegen sofort unsere Ponies und ritten heim. Brown führte mein und Alicens Pony, was er sich aus Furcht vor einem neuen Unfall nicht nehmen ließ; Lenchen und Willem folgten, geführt von Grant, Kennedy trug die Laterne voran, doch es war gerade hell genug, den Weg ohne Licht zu erkennen. Auf dem Hügel, auf welchem sich das Tor zum Tierpark befindet, begegneten wir den andern Wagen, von Smith gelenkt, und eine Anzahl von Stalleuten kam mit, den umgestürzten Wagen aufzurichten und durch ein Paar mitgebrachter Pferde fortzubringen. Wir zogen es indes vor, nach Hause zu reiten, wo wir ungefähr 20 Minuten von 10 Uhr anlangten. Kein Mensch wußte, was vorgefallen war, bis wir es erzählten. Fritz (S.K.H. der Kronprinz des Deutschen Reiches und von Preußen) und Louis (S.K.H. der Großherzog von Hessen) waren am Tor zur Begrüßung. Alle Welt war unsertwegen in großer Besorgnis und machte einen großen Lärm. Ich nahm nur etwas Suppe und FIeisch in meinem Zimmer zu mir und ließ meinen Kopf bandagieren.
   Ich sah die andern nur einen Moment und kam ziemlich spät zu Bett.
   
Königin Victoria
Neue Blätter aus meinem Tagebuche in den Hochlanden
Von 1862-1882
Stuttgart und Leipzig 1884

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