Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1845 - Ida Pfeiffer
Thingvalla
Island

 

Einst war Thingvalla einer der wichtigsten Orte in Island, und noch zeigt man dem Fremdling die Wiese, die sich unweit des Örtchens befindet, auf welcher jährlich der Althing (die Gerichtsversammlung) unter Gottes freiem Himmel gehalten wurde. Hier versammelten sich das Volk und seine Führer und schlugen gleich Nomaden ihre Zelte auf. - Hier war es auch, wo manche Meinung, manches Recht durch Gewalt der Waffen durchgesetzt wurde. Friedlich erschienen die Häuptlinge an der Spitze ihrer Anhänger, und doch kehrte gar mancher von ihnen nicht wieder heim; er fand unter den Streichen seines Gegners die Ruhe, die niemand sucht, und doch jeder findet.
   Eine Seite des Tales ist vom See begrenzt die andere von schönen Bergen, deren einige ich noch ziemlich mit Schnee bedeckt fand. - Der Fluß Oxer bildet unweit des Ausganges der Schlucht einen schönen Fall über eine ziemlich hohe Felswand.
   Es war noch der schönste Tag, als ich zu Thingvalla ankam, und der Himmel wölbte sich rein und klar über die ganze Landschaft. Umso wunderbarer kam es mir vor, einige Wolken an der Mitte des Berges schweben zu sehen, die bald einen Teil derselben einhüllten, bald sich, gleich Kränzen, um ihre Spitzen wanden oder in ihr Nichts zerflossen, um an einer anderen Stelle gleich wieder zu erscheinen. -
   Es ist dies eine Erscheinung, die man an den heitersten Tagen in Island sehr häufig wahrnimmt; ich beobachtete sie oft an den Gebirgen um Reykjavik. Der Himmel war rein, glänzend und wolkenlos, plötzlich zeigte sich ein Wölkchen am Rande eines Berges, das oft im Augenblicke zur Wolke wurde und eine Zeitlang ruhig stehenblieb, dann wieder zerrann oder auch wohl langsam weiterschwebte, - ein Spiel, das, wenn auch oft gesehen, doch immer lieblich bleibt.
   Der Pastor zu Thingvalla, Herr Bech, bot mir zur Nachtherberge seine Hütte an, die aber eben nicht viel besser aussah, als jene der nachbarlichen Bauern, und so zog ich es vor, mich in der Kirche einzuquartieren, wozu man stets nur zu bereitwillig Erlaubnis erhält. Dies Kirchlein ist nicht viel größer als jenes zu Krisuvik und steht von den paar Koten etwas entfernt. Dies mag vielleicht Ursache gewesen sein, daß ich keine lästigen Besuche erhielt. Mit meinen stummen Nachbarn im kühlen Grabe war ich auch schon vertrauter geworden und so verbrachte ich die Nacht recht ruhig auf einer der hölzernen Kisten, die ich da vorfand. Überall ist nur der Anfang schwer; hat man einige so düstere Nächte überwunden, so achtet man kaum mehr darauf.

 

Pfeiffer, Ida
Nordlandfahrt - Eine Reise nach Skandinavien und Island im Jahre 1845
Hrg. von Gabriele Habinger
Wien 1991
Originalausgabe: Reise nach dem skandinavischen Norden und Island im Jahre 1845; 2 Bände, Pest 1846

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