Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Um 1910 - Fritz Kummer
Im Freudenhaus
Tokio
   
   In Japan ist das Liebesgewerbe frei von dem üblen Beigeschmack, den es in Europa hat. Dort steht man diesem unvermeidlichen Übel mit freierer Anschauung, mit wenig Heuchelei gegenüber. Die Angehörigen des Gewerbes können wieder in ihr Heimatdorf zurückkehren und werden dann, dank ihrer Ersparnisse, noch gerne gefreit. Die Stätten des Gewerbes sind die saubersten Viertel der Stadt. Die prächtigste Liebesstadt Japans ist unter dem Namen Joschiwara auf allen Weltmeeren bekannt.
   Joschiwara ist die »nachtlose Stadt«, jener wohlumfriedete Teil der japanischen Hauptstadt geheißen, wohin, wenn der Abend anbricht, alt und jung, arm und reich, Männlein und Weiblein wandern, um im glitzernden Lichterschein die Sorgen zu vergessen oder auch, um an einem lieben Freund die edle Pflicht der Gastfreundschaft zu üben, ihm dort, was daheim in der kahlen Klause unmöglich ist, mit Reis, Saké und einer Musumeh (Mädchen) zu bewirten.
   Joschiwara ist ein Ortsname. Er wird zwar oft als Gattungsname gebraucht, angewendet auf alle japanischen Liebesstätten. Aber nur Stümper können so sündigen. Als ob es das Joschiwara ein zweites Mal geben könnte! Es ist einzig, einzig in seiner Größe, unübertroffen in seinem Lichterglanz, unerreicht in der Schönheit seiner Paläste, ohnegleichen in der Zahl seiner Bürgerinnen. Sein Ruhm hat die Reise um die Erde längst angetreten. Seefahrende Jünglinge, mit oder ohne Trauring, verherrlichen es im Freundeskreise; Prahlhänse der Nächstenliebe verfluchen es unter scheußlichen Gesichtsverrenkungen; Sittenrichter und Mucker kommen, nachdem sie es genügend besucht und versucht haben, dazu, es zu verdammen; Beamte, Gelehrte, Weltbummler und Arbeiter bringen darüber viel Lob mit heim, machen damit dem Philister das Maul wässerig und das Herz weich.
   Ich hörte schon davon am Goldenen Tor. Daß ich es besuchen wollte, stand fest. Aber wann und wie? Gleich nach meiner Ankunft in Tokio wollte ich dahin eilen, aber die zentnerschwere Last von Scham, worunter ein europäischer Junggeselle keucht, verhinderte vorerst den Gang. Allein zu gehen, fehlte der Mut. So lud ich meinen Hauswirt zum Mitgehen ein: »He, Schiro, willst du mich nach Joschiwara begleiten?«
»Aber natürlich, gerne.«
»Danke, aber sage um Gotteswillen deiner Alten nichts!« »Gut.«
Und was tut hierauf diese Unschuld von einem Ehemann? Er geht spornstreichs zu seinem Weibchen und berichtet von dem Glück, mit einer Einladung nach Joschiwara beehrt worden zu sein. Ich denke, ich muß vor Scham versinken. Als gleich darauf meine jugendliche Wirtin die Hühnerstiege heraufgekrabbelt kommt, habe ich das Gefühl, ein Wolkenbruch von Schimpf und Schande ziehe heran. Noch nicht sicher, wie das kommende Unheil abwenden, sehe ich das Weibchen vor mich hinknien, den Kopf tief auf den Boden neigend, Dankesworte ausstoßen für die Einladung, womit ich ihren Mann beehrt habe. Ich traute meinen Sinnen nicht mehr. Nur die vielfache Wiederholung der Worte Joroschi und Arigato (recht so, danke schön) hieß jeden Zweifel sterben.
   Die Hausfrau zeigte sofort, daß sie die ihrem Manne widerfahrene Ehre hochschätze. Den besten Kimono schleifte sie heran, die neuesten Trittchen stellte sie bereit, ja selbst 6 Pf. wurden dem Rasierer geopfert, damit er des Mannes Angesicht hübsch glatt schabe. Die Sonne hatte sich noch nicht ganz gesenkt, als sie mir ihres Gesponses Bereitschaft unter artigen Verneigungen meldete. Zusammen zogen wir davon. Mit der Straßenbahn ging's durch die Goken-Cho, am Uenobahnhof vorüber dann durch die Inaro-Cho der geschäftigen Straße des Kleingewerbes. Mein Begleiter winkte zum Aussteigen. Fast der ganze Wagen leerte sich. Die Straße, die dank der vielen Feuersbrünste breit angelegt werden konnte, überschreitend, standen wir vor einer engen, vielleicht zwei Meter breiten Gasse, die durch Aufstapelung von Verkaufstischen, Arbeitsbänken und sonstigem Gerümpel noch bedeutend verengt ist. Oben an der Straßenecke steht wörtlich zu lesen: »Entrance for Yoshiwara«. Ob man damit den Bedürfnissen der prüden Angelsachsen hat Rechnung tragen wollen?
   Einige Schritte im Gäßchen, und man hat mit der Menge zu marschieren. Kein Ausweg! Vorwärts wird man geschoben. Die Masse ist dicht, der Weg sehr eng. Die Rikschas halten in den Seitengäßchen; ihre Insassen reihen sich im Zuge ein. Keine Frage, keine Aufmunterung, keine Einsprache. Auf allen Gesichtern eine fröhliche Ruhe. Jeder weiß, daß alle ein Ziel haben: Joschiwara!
   Allein die Ruhe sollte nicht lange dauern. Eine leichte Erregung befällt die Männer; die Frauen machen lange Hälse; die Kinder kriechen unten und an den Seiten drängend vorwärts. Man fühlt's, lange kann es nicht mehr dauern. In der Tat!
   Das Prachttor, die einzige Gasse, wodurch alle Gäste kommen müssen, ist in Sicht. Eine Gestalt krönt den Bogen. Ob es eine Frau oder ein Mann oder eine Gottheit ist, läßt sich im Dunkel der Nacht nicht sagen. Auch kümmert sich niemand darum. Noch einige Dutzend Schritte, und man steht auf einer breiten Straße voll stark bewegten Lebens.
   Joschiwara muß ein wichtiger, schutzbedürftiger Ort sein. Oder hat man befürchtet, daß ihn eine brünstige Jungmannschaft im Sturm nehmen könne? Die darum angelegten Gräben und Pfahlzäune deuten darauf hin. Der Besucherwelt steht nur das große Tor offen; der kundigen Polizeihand öffnen sich ein paar versteckte Pforten. Diese Stätte der Venus ist einzig, erhaben wie Venus selbst. Was sie benötigt, muß Eigenes, nicht Geborgtes sein. Ihr Besitztum ist bloß für ihre Gäste; sie kann ihr Besitz- und Verwaltungsrecht nicht mit dem Philistertum teilen. Das ist so klar, daß es selbst die Regierung eingesehen hat. Sie hat die Stätte mit eigener Polizeistube, Post und Telegraph ausgerüstet, dann stehen ihr eigene Musikanten, Sänger, Quacksalber, Possenreißer und Ärzte zu Diensten. Die stolzen Tempel der Liebe werden umsäumt von zweihundert Teehäusern worin sich unlauterer Wettbewerb auftut. Auf unsauberen Matten lagern saubere Gesellschaften bei Tee oder Saké. Für alle klingen die Stimmen der Geischas und die Töne der dreisaitigen Brummhölzer, der Samissen.
   Doch jetzt ist keine Muße, die Gedanken schweifen zu lassen. Mein Virgil zieht mich sanft am Arm hinter einen Haufen Menschen in eine Querstraße hinein. Ich staune über die Ruhe. Von Lärm oder Trunkenheit keine Spur. Das Treiben ist ordentlich, anregend, einladend. In grellem Lichterglanz strahlen die Häuser. Es sind die besten, die Japan aufzuweisen hat. Mit ihrem Holzschnitzwerk, drei Stockwerken und Vorlauben gleichen sie eher Familienhäusern oder Behausungen reicher Edelleute. Die oberen Fensterreihen sind dunkel. Nur hie und da huscht, wie ein schüchternes Täubchen, ein Mädchen im Scheine der Papierlaterne vorüber. Um so heller und geschäftiger ist es im Erdgeschoß.
   Die Vorderseite des unteren Stockwerks ist offen. Hinter langen Stäben aus Holz oder Eisen sitzen die Dienerinnen der Liebe, fröhlich schwatzend, rauchend oder noch am Werk der körperlichen Verschönerung tätig. Die schwarzen Haare in Brezelform aufgerichtet, mit künstlichen Blumen oder goldenen Nadeln verziert, das Gesicht stark gepudert, die Mitte der Unterlippe knallrot gefärbt, in den farbenprächtigen Kimono gehüllt, nehmen sich diese zierlichen Püppchen ganz angenehm aus. Keine Schreie, keine unanständigen Worte, keine von zweideutigen Gebärden begleiteten Einladungen. Auch die vor den Riesenkäfigen drängende Menge ist, wenn auch fröhlich, so doch anständig. Lüsternheit wird nicht entfacht oder gesteigert durch Nacktheit. Die Mädchen sind geschlossen gekleidet wie ehrsame Bürgerstöchter. Und wenn sie einen mit ihren unschuldig lächelnden Gesichtern ansehen, könnte man gelinde Zweifel über den Zweck ihres Hierseins hegen. Das Bild verliert erst etwas von seiner Mädchenhaftigkeit, wenn aus den langen Ärmeltaschen der Kimonos die Pfeifchen hervorgeholt und daraus blaue Rauchwolken gepafft werden.
   Der Schein der elektrischen Lampen ist mehr als stark genug zur Beurteilung von Alter und Schönheit. Trotz übertriebener Anwendung von Puder und Schminke lassen sich die Furchen der Jahre erkennen. Junge, kaum den Kinderschuhen entwachsene Mädchen sitzen zusammen mit Frauen, auf deren Gesichtern die Spuren einstiger Schönheit nicht mehr zu bemerken sind.
   Wir wandern die breiten Wege stundenlang auf und nieder. Überall im grell erleuchteten Erdgeschoß der Paläste die großen vergoldeten, weißen oder schwarzen Vierkant- oder Rundstäbe, dahinter hocken in einer Reihe zwanzig, dreißig, ja vierzig Mädchen mit gleich unschuldig lächelnden Gesichtern, in buntfarbigen Kimonos oder in Studentinnentracht (europäischer Rock, helle Bluse) gehüllt. Alles das gleiche. Oder doch nicht! Was ist das? Da sind einige Häuser ohne den Käfig mit seinem lebendigen Inhalt, dafür aber am Eingang eine Vorlaube mit Bildern von einem Dutzend Mädchen. Das sind, belehrt mich mein Begleiter, die besseren, teuren Häuser mit ständiger Kundschaft; Licht und Ausstellung können hier gespart werden.
   Das Volk wandert auf und ab. Ein Blick lehrt, daß hier weniger die unteren Schichten der Gesellschaft, sondern eher die ehrenwerte Bürgerschaft vertreten ist. Die Mehrzahl besteht aus Handwerkern, Studenten, Soldaten. Es ist eher eine Stätte zur Befriedigung der Neugierde, des Plausches, der Fröhlichkeit als der Ausschweifung. Zu den Käfigstangen drängen sich Männer und Frauen, dann Buben von jedem Alter, zuweilen von einer Jugend, daß sie mit ihrer Nase noch nicht einmal an den Käfigboden reichen, und Mädchen, die gerade groß genug sind, daß sie nicht unter der Last des auf den Rücken geschnürten Brüderchens brechen. Hier wandelt ein Greis mit seiner Ehehälfte im Hintertreffen, die Mädchen beifällig beschmunzelnd; dort betrachtet oder beneidet eine Mutter mit ihren halberwachsenen Söhnen die Dienerinnen der Liebe. Kurz, nach allem scheint hier eher ein Familientreffpunkt, ein öffentlicher Lustwandel zu sein, als eine Stätte der Schwelgerei.
   Eine Gruppe Ehepaare mit Kindern zieht vorüber. Die jungen Frauen pressen die Gesichter soweit als möglich an die Gitterstäbe, prüfen ihre eingeschlossenen Geschlechtsgenossinnen ohne Verachtung. Man könnte fast meinen, ein beneidender Blick stehle sich durch den Raum. Die Kleidung der Mädchen wird eifrig besprochen. Findet eine Eva eine der Liebesdienerinnen besonders schön, wird des Mannes Aufmerksamkeit und Urteil verlangt. »Fein, was meinst du?« raunt sie, dabei ihm den Finger in die Seite stoßend. Dazu kann es aber oft nicht kommen. Der oder die jungen Ehemänner schlagen sich mitunter abseits von ihren Frauen, um ihre ehemaligen »Flammen« zu besuchen. Gar mancher weiß noch die Freundin seiner Junggesellenzeit hinter einem Gitter sitzen. Er benutzt die Gelegenheit, ihr Guten Tag zu sagen, wenn nicht gar ein Geschenkchen zu bringen.
   Die japanischen Frauen sind nicht weniger pfiffig als die anderer Länder, aber sie haben ein gutes Teil Takt mehr mit auf die Welt gebracht. Eine vernünftige und gut erzogene Ehefrau in Japan stellt sich, als ob sie nicht sähe, wie ihr Ehemann Dinge tut, die als Einleitung zur Übertretung des sechsten Gebots aufgefaßt werden können. In solchen Fällen hält sie es mit der Schweigsamkeit, wenn sie nicht selbst hinter dem Manne hertraben sollte, um ihrer (unrechtmäßigen) Vorfahrin einige gute Worte zuzuflüstern oder ihren Herrn und Gebieter ob seines Geschmackes zu loben.
   Wir waren müde. Die Sommernacht fing an kühl zu werden. Gesehen und gehört hatten wir genug. Ich drängte zum Heimgang. Allein mein Begleiter bestand darauf, mir seine »Flamme« zu zeigen. Mich deuchte, mein Hausherr hätte in seinen Jugendjahren weit weniger Geschmack gehabt als bei der Wahl seiner Ehefrau. Während er mit seinem alten Liebchen schäkerte, besuchte ich das Haus.
   An der Seitenwand im Eingang sitzt gewöhnlich eine Art Ausschreier, der den Vorübergehenden die Vorzüge des Hauses und seiner Küche zuraunt. Noch hatte ich meine Trittchen nicht ganz von den Füßen, als schon ein neben dem Käfig in einem Kasten hockender Mensch ein Buch aufklappte und tat, als ob er Eintragungen machen wollte. Das war also der Buchhalter, der die Gäste sowie ihre Ausgaben einträgt. Der Mensch redete ständig auf mich ein, dabei mit der mit einem Schreibpinsel bewahrten Hand hastig über das Papier fuchtelnd. Ich schlüpfte wieder in mein Fußzeug und schrie meinen Virgil zu Aufklärung und Fragestellen herbei. Die erste Frage ist nach dem Preis. Wir werden auf die Tafel am Eingang verwiesen. Traue ich meinen Augen? Was steht da in großen Buchstaben geschrieben? In japanisch: 40 Sen, 60 Sen, 80 Sen kostet Mahl, Saké und Mädchen. Darunter in Englisch: First Class 5 Yen, Second Class 3 Yen, is the Price for amusement for Everyone. -
   Gemein! Also selbst hier in dem unschuldigen Joschiwara wird an den Fremden elende Beutelschneiderei verübt. Der japanische Kaufmann übervorteilt den Fremden >bloß< um hundert Prozent, der Freudenhausbesitzer in Joschiwara verlangt von ihnen 6 bis 10 Mark für das, was er den Eingeborenen für 0,80 bis 1,60 Mark anbietet.
   Auf meine Frage nach dem Wofür und Warum dieser unerhörten Steigerung erhielt ich Antworten, die äußerst lustig, aber nicht druckfähig sind. Schließlich sei die Preistafel nur für Grünhörner da. Ein Mann, der Japan so kenne wie ich, zahle in seinem Hause bloß 1,50 Jen (= 3 Mk.). Das war mir immer noch zu viel. Am Ende hätte ich für diese Summe auch noch meinen Begleiter mitnehmen dürfen. An Stelle der Reismahlzeit, die ich doch nicht essen könne, solle eine Flasche Bier gestellt werden. Ich bat, mir Bedenkzeit für diesen »honorablen« Vorschlag zu lassen. Mit einem halben Dutzend bis auf den Boden gehenden Verbeugungen rutschte ich hinaus.

 

Kummer, Fritz
Eines Arbeiters Weltreise
Erstausgabe Stuttgart 1913; Nachdruck Leipzig und Weimar 1986

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