Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1909 - August Stolberg, Polarforscher
War Frederik Cook am Pol?
Von Aasiaat in Grönland mit Cook nach Kopenhagen

 

Am 19. August kamen wir nach Egedesminde [Aasiaat, Disko-Bucht]. Dieser Ort ist wegen seiner einförmigen und niedrigen Umgebung wohl der langweiligste der gesamten grönländischen Westküste, für die Schifffahrt aber der Knotenpunkt. Auf den einzelnen Schären liegen die Transiedereien und Umladeplätze, die mit Lösch- und Ladeeinrichtungen versehen sind. Das Packhaus auf «Rybergsplads» ist sogar zementiert, eine in Grönland einzig dastehende Errungenschaft. Wegen Egedesmindes Bedeutung als Knotenpunkt hat die dänische Regierung 1907 auch ein kleines, hübsches Haus hier errichtet, um ihren Beamten oder auch wissenschaftlichen Reisenden, welche, auf Anschluss wartend, sich manchmal längere Zeit aufhalten müssen, ein Obdach bieten zu können. Diesmal beherbergte dieses Haus keine geringere Persönlichkeit als den viel umstrittenen Nordpol-Prätendenten Dr. Frederik A. Cook. Als de Quervain und ich am folgenden Tage um zehn Uhr morgens an Land kamen, lernten wir Cook auch persönlich kennen. Wir wollen hier nicht auf die Glaubwürdigkeit Cooks zurückkommen, sondern nur die interessante Persönlichkeit als solche mit einigen Worten skizzieren. Der erste Eindruck, den wir von Cook empfingen, als er auf einem Spaziergang sich mit uns bekannt machte, war durchaus kein unsympathischer. Ein stattlicher, kräftiger Mann, Mitte der Vierziger und etwas über mittelgroßer Figur stand er vor uns. Er trug die grönländische Bluse, grüne Samthose mit Seehundsfellstiefeln und eine Seemannsmütze auf dem Kopf. Die frische Gesichtsfarbe, das reiche, aschblonde Haar, die blauen Augen und der blonde Schnurrbart bekundeten germanische Abkunft. Die etwas gebogene, unten ziemlich breite Nase gab dem Gesicht gleichzeitig einen derben, aber forschen Zug. Schlichtheit und Leistungsfähigkeit waren der Gesamteindruck. Durch die Einfachheit seines Auftretens und seiner Sprache wurden diese Züge noch mehr hervorgehoben.
     Der 22. August sah uns auf dem Wege nach Godthaab. Unter Mittag erschienen viele Waltiere, wie Butsköpfe und Finnwale. Ihre etwa 6 Meter großen Verwandten, die sogenannten Weißfische (Beluga leucas), kamen oft über den halben Leib senkrecht aus den Wogen und standen sekundenlang nur auf ihren Schwanzflossen. Da die Tiere in der Paarungszeit waren, wiederholte sich dieses Schauspiel stundenlang.
     Einen besonders grotesken Anblick bot die Erscheinung eines Pottwals, der ja zu den allergrößten Seesäugetieren zählt. Das Abenteuerlichste an diesem Tier ist sein Kopf. Derselbe erinnert, da der riesige Oberkiefer vorn senkrecht abgestutzt ist, an einen Eisenbahnwagen. Im diametralen Gegensatz dazu erscheint der Oberkiefer schmal wie eine Lanze. Dieses Ungeheuer ist nach den Angaben der Großfischer in der Davisstraße eine seltene Erscheinung. Um so mehr konnten wir uns freuen, diese Balaena macrocephala hier gesehen zu haben.
     Überraschend war es, als wir 5 Uhr nachmittags Godthaab anliefen, diesen Ort, den wir am 14. Mai, wo noch überall Schnee lag, verlassen hatten, jetzt völlig schneefrei zu finden. Nirgendwo war auch nur die geringste Spur von treibendem Eis. Nach der Landung gingen de Quervain und ich nach Nyherrnhut, um Frau Sofia, die wir im Kreise ihrer Familie Anfang Mai kennen gelernt hatten und für die wir noch einige kleine Geschenke, wie Bänder und Nadeln, mitgebracht hatten, zu begrüßen. Wir fanden die Hütte leer. Sofia war nach Aussage der Nachbarn inzwischen gestorben.
   Abends um 10 Uhr zeigten sich die Nordlichter wieder, ein Zeichen, dass es ernstlich dem Herbst zuging. Am Morgen des 23. verließ der Dampfer Godthaab. Der Rückblick auf die im Sonnenschein liegende gewaltige Bai mit ihren Wächtern, den nunmehr erstiegenen Bergen Hjorte-takken und Saddlen, war sehr eindrucksvoll. Später wurde das Wetter wieder schlecht und blieb auch so während des folgenden Tages, an dem abends das Kielwasser stark phosphoreszierte. Am Nachmittag des 25. August kam Kap Desolation in Sicht, später auch die Küste bei Kap Farvel. Weithin zog sich die außerordentlich wild gezackte Alpenkette, die bis zu 2.000 Meter Höhe in den abenteuerlichsten Formen mit Türmen wie Haifischzähne unmittelbar dem Meere entsteigt. Wir waren alle gebannt von diesem Anblick, von dieser einfach «verrückten» Kontur, wie einer von unserer Gesellschaft sich sehr bezeichnend ausdrückte. Um 6 ½ Uhr verschwand dies großartige Panorama, da es bereits dämmerig wurde. Der Polarkreis lag längst hinter uns. Der 60. Breitengrad war nicht mehr fern, und hurtig näherten wir uns wieder dem Süden.
     Mit den langen Abenden, wo die Lampen im Schiff aus ihrem Saisonschlaf wieder erwachten, begann nach Tisch die Reihe der Vorträge, welche nach dem lebhaft begrüßten Vorschlag des Inspekteurs Daugaard-Jensen ins Leben traten. Die Fahrgäste, dienstfreien Offiziere und auch wer von der Freiwache Lust dazu hatte, versammelten sich in dem engen Salon des «Hans Egede», der die Wissbegierigen oft kaum zu fassen vermochte. Hier sprach Dr. Heim über die Geologie Grönlands, der Ethnograph Steensby über die Herkunft der Eskimos, Chr. Leden-Refsaas über deren primitive Musik, Dr. de Quervain über die meteorologischen Arbeiten und die Schlittenreise unserer Expedition und Dr. Baebler über seine in Grönland gewonnenen zoologischen Erfahrungen. Das Hauptinteresse musste damals natürlich Cooks Vortrag über die angebliche Entdeckung des Pols, den er am 29. hielt, erwecken. Man mag über Cook denken, wie man will, vieles von dem, was er an diesem Abend der gespannten Zuhörerschaft in plastischer Ausdrucksweise über seine Überwinterung und seine Reise vortrug, war erlebt. An diese Vorträge knüpften sich rege Diskussionen in deutscher, dänischer und englischer Sprache, wobei sich besonders die Mitglieder der dänischen ethnographischen Expedition, Dr. med. Krabbe, H. P. Steensby, Thomas Thomsen, Christan Leden-Refsaas, sowie die Inspekteure Daugaard-Jensen und Bendixen, Dr. Ravn, Dozent an der Universität in Kopenhagen, und der vielgereiste Augenarzt Normann-Hansen sich beteiligten.
     Man sieht, an geistiger Anregung hat es unserem kleinen Kreise auch auf hoher See nicht gefehlt. Wir waren ja nun alle seefeste Leute und darunter manche, die sogar viele Ozeanreisen hinter sich hatten. Nur wenn das Rollen und Stampfen des «Hans Egede» so stark wurde, dass auch im Salon kein Halten mehr war, setzten diese wissenschaftlichen Unterhaltungen aus.
   Am 1. September erreichten wir die Shetland-Inseln mit dem Hafen Lerwick, der in der Hochsaison der Heringsfischerei stand und wo Dutzende und abermals Dutzende von kleinen Fischdampfern, verfolgt von Möwenschwärmen, fortwährend ein- und ausliefen. Diese gierigen Vögel stürzten sich frech auf den reichen, silberblinkenden Inhalt der Netze, wenn sie an Bord geöffnet wurden. Sie setzten sich sogar auf die Schornsteine der Dampfer, wenn dieselben stoppten. Ein von Grönland kommendes dänisches Schiff läuft sonst nur im Notfall einen Zwischenhafen an und geht möglichst direkt nach Kopenhagen. Diesmal machte Kapitän Thorsen eine Ausnahme, um Cook Gelegenheit zu geben, verschiedene Telegramme nach New York und Brüssel zu kabeln. Auch eine Anzahl persönlicher Telegramme wurden dabei von dem zweiten Steuermann, der mit Cook als einzigem von allen Passagieren an Land ging, mit besorgt. Sämtliche persönliche Depeschen mussten die Zensur des Kapitäns passieren, der alles, was auf Cook Bezug hatte, unweigerlich strich. Dieser strengen Maßregel lag die Absicht zugrunde, Cooks eigenem Bericht den Vorsprung zu sichern und dem Amerikaner dadurch einen besonderen Dienst zu erweisen. Dieses Bestreben wurde insofern beeinträchtigt, als die deutsche Presse gerade aus dem Schweigen unserer Telegramme über Cook den Schluss zog, dass wir Cook misstrauten. Als der Amerikaner nach erledigten Telegrafengeschäften wiederkam, brachte er zuvorkommend für jeden Fahrgast frisches Obst und neue Zeitungen mit, Gaben, die für uns Grönlandfahrer eine willkommene Überraschung waren. Aus den Zeitungen ersahen wir, dass der Kanal zum ersten Mal von einem Flugapparat überflogen und Zeppelin mit seinem Luftschiff in Berlin gelandet war. Auch von dem Zeppelin-Hergesellschen Projekt, den Pol mittels Luftschiffes zu erreichen, vernahmen wir hier zum ersten Mal.
   Nunmehr häufte sich auch der Seeverkehr, und die fortwährend am Horizont erscheinenden Segler und Dampfer erregten keine besondere Aufmerksamkeit mehr. Nur die aus Finnland oder Schweden kommenden Transportdampfer mit Bauholz erregten noch zuweilen Interesse, da sie nicht selten, unter der Decklast begraben, schief auf dem Wasser lagen, als ob sie jeden Augenblick kentern würden. Wie beim fliegenden Holländer war unser Kommen und Gehen in Lerwick so gut wie unbemerkt geblieben. Zwei Tage darauf, vor Kap Skagen, sollte unter Inkognito jedoch gründlich gelüftet werden. Hier, noch auf der See selbst, warteten bereits die verschiedenartigsten Fahrzeuge auf uns. In Lotsenschonern, Motor- und gewöhnlichen Segelbooten nahten sich die Herren der Presse. Seit mehr als zehn Stunden hatten die Journalisten bei der frischen Brise, die ihre kleinen Fahrzeuge stark tanzen ließ, auf dem Wasser ausgehalten, um die ersten beim Interview Cooks zu sein. Da wir seit fast einem Jahre Menschen in Sommerkleidung nicht gesehen hatten, so kam uns die Garderobe dieser Herren, die in eleganten, leichten, hellen Sommeranzügen, zum Teil sogar mit Lackschuhen, sich präsentierten, direkt abenteuerlich grotesk und verwegen vor. Ihre vor Kälte und Seekrankheit graugrünen Gesichter standen in merkwürdigem Gegensatz zu dieser uns niederschmetternden Eleganz. Im Nu waren die Journalisten an Bord, und Cook verschwand im Handumdrehen zwischen Zylindern, Strohhüten, Notizbüchern und Bleistiften. Wenn sich der Knäuel einen Augenblick lichtete, richtete sich das Feuer zahlreicher verschlussknatternder, fotografischer Apparate auf den Amerikaner. Da unter diesen Umständen kein Stück von Cook mehr übrig geblieben wäre, so mussten die Herren bereits nach einer kleinen halben Stunde das Deck wieder räumen. Nun ging eine verwegene Jagd unter den Fahrzeugen der Journalisten, wobei mancher Spritzer überkam, nach dem Telegrafenamt auf Kap Skagen selbst los. Auf die Gefahr des Kenterns hin wollte jeder der erste sein, der seiner Zeitung, sei es in Kopenhagen oder sonst wo, die ersten Nachrichten über den »Entdecker« telegrafisch übermittelte.
     Über eine bedeutsame Episode, die sich fast gleichzeitig abspielte, die mir aber im allgemeinen Wirrwarr entgangen ist, schreibt de Quervain:
»Ein dänisches Torpedoboot kam in voller Fahrt auf den Dampfer zu und stoppte längsseits in Sprechweite. Ein Mann – es war Kapitän Amdrup selber, der bekannte Polarfahrer – rief durch das Sprachrohr zu uns herüber: "Ist Herr Frederick Cook an Bord?" Cook antwortete selbst von der Kommandobrücke aus. Amdrup fragte nun weiter: Cook habe telegrafiert, dass er von Nordgrönland aus mit Schlitten nach Norden gegangen, neues Land gefunden und am 22. April den Pol erreicht habe. "Ja." Und nun hallte langsam durch das Sprachrohr die gewichtige, fast drohende Frage Amdrups: "Ist das alles wahr?" "Jawohl." Mir lief es kalt den Rücken hinunter, und Baebler, der dabei stand, sagte nachher, er habe das gleiche Gefühl gehabt. Es war ja wirklich so und entsprach ganz unserem Empfinden, dass zunächst alles auf das ehrliche Wort eines ehrlichen Mannes abgestellt werden musste. Aber war auch kein Irrtum denkbar? Eine Unterredung mit Cook vor Kap Farvel, auf dem Deck des Dampfers, wurde mir wieder gegenwärtig, wo ich ihn kaum von seiner Behauptung hatte abbringen können, die Sonne sei selbst am Pol, um "Mitternacht" und "Mittag", noch sehr verschieden hoch gestanden. Nun kann man, die Richtigkeit der Behauptung vorausgesetzt, kaum in präziserer Sprache ausdrücken, dass der betreffende Beobachtungsort dann eben nicht der Pol war! Und das zu sagen, war doch gewiss nicht seine Absicht. War er wirklich am Pol – und ins Blaue hinein konnte er doch unmöglich so etwas behaupten, sondern, wie er selbst sagte, gestützt auf genaue Messungen –, dann musste ihn jetzt, nach so vielen Strapazen, sein Gedächtnis täuschen. Ich erklärte damals mir und ihm diese seine Angabe, die gerade in ihrer Unmöglichkeit zu ungeheuerlich war, um die Annahme einer von ihm beabsichtigten, überlegten Täuschung zuzulassen, für eine nachträgliche Verwechslung seiner Erinnerungsbilder.
     Nur ein oder zwei Grade südlich vom Pol war ja das Verhalten der Sonne wirklich so, wie er behauptete, und jener Eindruck mochte sich bei ihm fixiert haben. Nachdem Cook das Zwingende meiner Bemerkungen eingesehen hatte, akzeptierte er lebhaft jene von mir gegebene, ja schließlich plausible, psychologische Erklärung. Ich sagte übrigens noch an jenem gleichen Tage zu Dr. Stolberg, dass es mir für meine Person kaum verständlich sei, wie einer, den das Problem der Erreichung des Pols so sehr erfüllt habe, nachträglich auch nach den schlimmsten Strapazen das einzige Kriterium der wirklichen Erreichung auch ganz abgesehen von Erinnerungsbildern nicht ganz prinzipiell sollte gegenwärtig haben.
     Wir hatten ja sonst einen guten Eindruck von ihm, wir berieten sogar mit ihm im Aandehul, dem kleinen Decksalon, den Titel seines künftigen Buches; ob es besser hieße "To the Pole", oder "The North Pole Reached". Letzteres wurde gut geheißen, sogar die Titelzeichnung erledigt. Aber seit jener Diskussion über die Sonne hatte bei mir immer wieder in einer Ecke des Zweifels wacher Hund gebellt.
    Aber nachdem ich ihm selbst durch meine Erklärung eine Brücke gebaut und damit gewissermaßen ein unbedingtes Zutrauensvotum vielleicht etwas zu schnell abgegeben hatte, durfte ich später anständigerweise jene fatale authentische Aussage vom Kap Farvel nicht in den tobenden Poldisput werfen, obschon sie Effekt genug gemacht und vielleicht den Streit entschieden hätte. Jetzt, wo jene Episode schon der Geschichte angehört, ist es anders.
     Noch vor dem Anlaufen von Lerwick hatte ich die verantwortlichen Persönlichkeiten eindringlich gefragt, ob sie denn keine Dokumente, keine astronomischen Beobachtungsjournale Cooks eingesehen hätten. Es war nicht der Fall gewesen, und man schien damals den Sinn meiner Frage nicht zu verstehen. Und jetzt kam die unvermeidliche Frage doch: "Ist das alles wahr?"
     Amdrups Mannschaft brachte ein neunfaches Hurra aus, und im Nu war das Torpedoboot wieder verschwunden. Es brachte nach Kopenhagen das "Jawohl", das über Cooks Empfang entschied.»
     Unterdessen hatte der «Hans Egede» über die Toppen geflaggt und setzte seine Fahrt sundaufwärts fort, mit halber Kraft dampfend, um nicht vor 8 Uhr morgens, als der festgesetzten Stunde des offiziellen Empfanges, nach Kopenhagen zu kommen. Ein recht angeregter Punschabend vereinigte uns zum letzten Mal in der alten gemütlichen Weise. Zahlreiche Toaste wurden sowohl auf die vertretenen Nationen als auch die einzelnen Personen gegenseitig ausgebracht. Auch unsere Dankespflicht gegen die Administration der Kolonien in Grönland brachten wir bei diesem Anlass zum Ausdruck.
Am Morgen des 4. Septembers, an den herrlich bewaldeten Ufern Seelands entlang dampfend, erreichten wir bei prachtvollem Wetter die Reede von Kopenhagen. Der Kronprinz von Dänemark, ein hochgewachsener, glänzender Kavalier, kam an Bord des «Hans Egede» und hatte auch für unsere Expedition einige freundliche Begrüßungsworte in deutscher Sprache.


Quervain, Alfred de; Stolberg, August
Durch Grönlands Eiswüste; Reise der Deutsch-Schweizerischen Grönlandexpedition 1909 auf dem Inlandeis
Leipzig 1911

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