1850 - Peter Rosegger
Ungeheuer mit hundert Rädern
Semmeringbahn
Mein Pate Jochem machte alljährlich den Weg zur Wallfahrtskirche Mariaschutz. Es war eine Tagesreise dorthin und einmal wollte er auch mich dahin mitnehmen. »Meinetweg«, sagte der Vater, »da kann der Bub gleich die neue Eisenbahn sehen, die sie über den Semmering jetzt gebaut haben. Das Loch durch den Berg soll schon fertig sein.« - »Behüt' uns der Herr«, sagte der Pate, »daß wir das Teufelszeug anschauen! 's ist alles Blendwerk, 's ist alles nicht wahr!« - »Kann auch sein«, sagte mein Vater.
So machten wir uns auf den Weg und gingen über das Gebirge, um ja dem Tal nicht in die Nähe zu kommen, in welchem nach der Leut' Reden der Teufelswagen auf und ab ging. Als wir auf dem hohen Berg standen und hinabschauten, sahen wir einer scharfen Linie entlang einen braunen Wurm kriechen und darüber ein Rauchwölklein schweben. »Jessas Maren!« schrie mein Pate, »da ist schon so was! Spring' Bub!« Und wir liefen die entgegengesetzte Seite des Berges hinunter.
Gegen Abend kamen wir in eine Niederung, doch anstatt in Mariaschutz zu sein, standen wir vor einem ungeheuren Schutthaufen, und hinter demselben war ein kohlfinsteres Loch in den Berg hinein. Das Loch war schier so groß, daß darin ein Haus hätte stehen können, und gar mit Fleiß und Schick ausgemauert; und da ging eine Straße mit zwei eisernen Leisten daher und schnurgerade in den Berg hinein.
Mein Pate stand lange schweigend da und schüttelte den Kopf; endlich murmelte er: »Jetzt stehen wir da. Das wird die neumodische Landstraße sein. Aber gelogen ist's, daß sie da hineinfahren.« Kalt wie Grabesluft wehte es aus dem Loch. Weiter hin gegen die Abendsonne stand an der eisernen Straße ein gemauertes Häuschen; davor ragte eine hohe Stange, auf dieser baumelten zwei blutrote Kugeln. Plötzlich rauschte es an der Stange, und eine der Kugeln ging wie von Geisterhand gezogen in die Höhe. Wir erschraken baß. Daß es hier mit rechten Dingen nicht zuginge, war leicht zu merken. Doch standen wir wie festgewurzelt.
»Pate Jochem«, sagte ich leise, »hört Ihr nicht so ein Brummen in der Erden?« - »Ja, freilich, Bub«, entgegnete er, »es donnert etwas! Es ist ein Erdbeben!«
Da tat er ein ein klägliches Stöhnen. Auf der eisernen Straße heran kam ein kohlschwarzes Wesen. Es schien anfangs stillzustehen, wurde aber immer größer und nahte mit mächtigem Schnauben und Pfustern und stieß aus dem Rachen gewaltigen Dampf ans. Und hinterher -
»Kreuz Gottes!« rief mein Pate, »da hängen ja ganze Häuser dran!« Und wahrhaftig, wenn wir sonst gedacht hatten, an das Lokomotiv wären ein paar Steirerwäglein gespannt, auf denen die Reisenden sitzen konnten, so sahen wir nun einen ganzen Marktflecken mit vielen Fenstern heranrollen, und zu den Fenstern schauten lebendige Menschenköpfe heraus, und schrecklich schnell ging's, und ein solches Brausen war, daß einem der Verstand stillstand. Das bringt kein Herrgott mehr zum Stehen! fiel's mir noch ein.
Da hub der Pate die beiden Hände empor und rief mit verzweifelter Stimme: »Jessas, Jessas, jetzt fahren sie richtig ins Loch!« Und schon war das Ungeheuer mit seinen hundert Rädern in der Tiefe; die Rückseite des letzten Wagens schrumpfte zusammen, nur ein Lichtlein davon sah man noch eine Weile, dann war alles verschwunden, bloß der Boden dröhnte, und aus dem Loche stieg der Rauch. Mein Pate wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Angesicht und starrte in den Tunnel.
Dann starrte er mich an und fragte: »Hast du's auch gesehen, Bub?« - »Ich hab's auch gesehen.« - »Nachher kann's keine Blenderei gewesen sein«, murmelte der Jochem.
Wir gingen auf der Fahrstraße den Berg hinan; wir sahen aus mehreren Schachten Rauch aufsteigen. Tief unter unseren Füßen im Berge ging der Dampfwagen. »Die sind hin wie des Juden Seel'«, sagte der Pate und meinte die Eisenbahnreisenden. »Die übermütigen Reisenden sind selber ins Grab gesprungen!«
Und als wir dann abwärts stiegen, da sahen wir drüben in den wilden Schroffwenden unseren Eisenbahnzug gehen - klein wie eine Raupe - und über hohe Brücken, fürchterliche Abgründe setzen, an schwindelnden Hängen gleiten, bei einem Loch hinein, bei einem anderen heraus, ganz verwunderlich.
Als wir nach Mariaschutz kamen, war es schon dunkel. Wir gingen in die Kirche, wo das rote Lämpchen brannte, und beteten. Dann gingen wir nach einem kleinen Nachtmahl auf den Heuboden, um zu schlafen. Ich konnte unter der Last der Eindrücke nicht schlafen, vermutete jedoch, daß der Pate bereits süß schlummere. Da tat dieser plötzlich den Mund auf und sagte: »Schlafst schon, Bub?«
»Nein«, antwortete ich. »Du«, sagte er, »mich reitet der Teufel!« Ich erschrak. So etwas an einem Wallfahrtsort war unerhört.
»Ich muß vor dem Schlafgehen keinen Weihbrunn' genommen haben« flüsterte er, »'s gibt mir keine Ruh, 's ist arg, Bub!« »Was denn, Pate?« fragte ich mit warmer Teilnahme. »Na, morgen, wenn ich kommunizier', 'leicht wird's besser«, beruhigte er sich selber.
»Tut euch was weh, Pate?«
»'s ist eine Dummheit. Was meinst, Bübel, weil wir schon so nah dabei sind, probieren wir's?«
Da ich ihn nicht verstand, so gab ich keine Antwort. »Was kann uns geschehen?« fuhr der Pate fort, »wenn's die anderen tun, warum nicht wir auch? Ich laß' mir's was kosten. Da werden's einmal schauen, wenn wir heimkommen und sagen, daß wir auf dem Dampfwagen gefahren sind!« Ich war gleich dabei.
Aber als wir am anderen Tage heimwärts lenkten, da meinte der Pate nur, er wolle sich dieweilen gar nichts vornehmen, er wolle nur den Semmering-Bahnhof sehen, und wir lenkten unseren Weg dahin.
Beim Semmering sahen wir das Loch auf der anderen Seite. War auch kohlfinster. Ein Zug von Wien war angezeigt. Mein Pate unterhandelte mit dem Bahnbeamten, er wolle zwei Sechser geben, und gleich hinter dem Berge, wo das Loch aufhört, wollten wir wieder aussteigen. »Gleich hinter dem Berg, wo das Loch aufhört, hält der Zug nicht«, sagte der Bahnbeamte lachend.
»Aber wenn wir absteigen wollen!« meinte der Jochem.
»Ihr müßt bis Spital fahren. Ist für zwei Personen 32 Kreuzer Münz.« Mein Pate meinte, er lasse sich was kosten, aber soviel, wie die hohen Herren könne er armer Schlucker nicht geben; zu dem sei an uns beiden ja kein Gewicht da.
Es half nichts, der Beamte ließ nicht handeln. Der Pate zahlte, ich mußte zwei »gute« Kreuzer beisteuern. Mittlerweile kroch aus dem nächsten, unteren Tunnel der Zug hervor, schnaufte heran, und ich glaubte schon, das gewaltige Ding wollte nicht anhalten. Es zischte und spie und ächzte - da stand es still.
Wir wären nicht zum Einsteigen gekommen, da schupfte der Schaffner den Paten in einen Waggon und mich danach. In demselben Augenblick wurde der Zug abgeläutet, und ich hörte noch, wie der ins Coupé stolpernde Jochem murmelte: »Das ist meine Totenglocke«. Jetzt sahen's wir aber: im Wagen waren Bänke, schier wie in einer Kirche, und als wir zum Fenster hinausschauten - »Jessas und Maria« schrie mein Pate, »da draußen fliegt ja eine Mauer vorbei!« - Jetzt wurde es finster, und wir sahen, daß an der Wand unseres knarrenden Stübchens eine Öllampe brannte. Draußen in der Nacht rauschte und toste es, als wären wir von gewaltigen Wasserfällen umgeben, und ein um das andere Mal hallten schauerliche Pfiffe. Wir reisten unter der Erde. Der Pate hielt die Hände auf dem Schoß gefaltet und hauchte: »In Gottes Namen. Jetzt gebe ich mich in alles drein. Warum bin ich der dreidoppelte Narr gewesen.«
Zehn Vaterunser mochten wir so begraben gewesen sein, da lichtete es sich wieder, draußen flog die Mauer, flogen die Telegraphenstangen und die Bäume, und wir fuhren im grünen Tale.
Mein Pate stieß mich an der Seite: »Du, Bub! Das ist gar aus der Weis gewesen, aber jetzt - jetzt hebt's, mir an zu gefallen. Richtig wahr, der Dampfwagen ist was Schönes! Jegerl und jerum, da ist ja schon das Spitalerdorf! Und wir sind erst eine Viertelstunde gefahren! Du, da haben wir unser Geld noch nicht abgesessen. Ich denk, Bub, wir bleiben noch sitzen.«
Mir war's recht. Ich betrachtete das Zeug von innen, ich blickte in die fliegende Gegend hinaus, konnte aber nicht klug werden. »Mürzzuschlag!« rief der Schaffner. Der Wagen stand, wir schwindelten zur Tür hinaus. Der Türsteher nahm uns die Papierschnitzel ab, die wir beim Einsteigen bekommen hatten, und vertrat uns den Ausgang. »He Vetter!« sagte er, »die Karten gelten nur bis Spital. Da heißt's nachzahlen, und zwar das Doppelte für zwei Personen. Macht einen Gulden sechs Kreuzer!« Da wir kein Geld hatten, wurden wir stundenlang auf dem Bahnhof festgehalten und mußten mehrere Verhöre bestehen.
Endlich, als schon der Tag zur Neige ging, zur Zeit, da nach so rascher Fahrt wir leicht schon hätten zu Hause sein können, wurden wir entlassen, um nun den Weg über Berg und Tal in stockfinsterer Nacht zurückzulegen.
Als wir durch den Ausgang des Bahnhofs schlichen, murmelte mein Pate: »Beim Dampfwagen da ist doch der Teufel dabei!«
Peter Rosegger
Als ich noch der Waldbauernbub war
Bamberg 1951