1716 - Lady Mary Montagu, Diplomatengattin
Wien: Klein und eng und prächtig
Wien, des Kaisers Haupt- und Residenzstadt, hat eigentlich meinen Erwartungen gar nicht entsprochen. Vor allem ist es viel kleiner, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Straßen sind eng beisammen und derartig schmal, dass es unmöglich ist, einen richtigen Eindruck von den schönen und großartigen Fassaden der Paläste zu gewinnen. Es wären wahrlich viele angesichts ihrer gediegenen Pracht der Bewunderung wert. Sie sind durchwegs aus feinem weißem Stein gebaut und ungemein hoch. Um das Missverhältnis zwischen dem engen Stadtgebiet und der zahlreichen Bevölkerung, die darin wohnen will, auszugleichen, sind die Baumeister scheinbar auf das Allheilmittel verfallen, eine zweite Stadt auf die erste zu türmen, So haben denn die meisten Häuser fünf, einige sogar sechs Stockwerke. Wie Du Dir leicht vorstellen kannst, sind die Zimmer infolge der schmalen Straßen ungemein finster; was mir aber unerträglich erscheint, ist der Umstand, dass es kein Haus gibt, das weniger als fünf bis sechs Familien beherbergt. Eine einfache dünne Wand trennt die Appartements der größten Dame, sogar des Staatsministers, von der Behausung des Schneiders oder Schusters. Auch kenne ich niemanden, der in einem Haus mehr als zwei Stockwerke bewohnt, eines für den Gebrauch der Herrschaft, das zweite, höhere für die Dienerschaft bestimmt. Wer ein eigenes Haus besitzt, vermietet die von ihm nicht nützten Teile an wen auch immer; so kommt es, dass die prächtigen steinernen Stiegenaufgänge so öffentlich und kotig sind wie die Straße. Wenn man sie erst einmal hinter sich hat, dann allerdings kann man nicht leicht etwas Prächtigeres finden als die Wohnungen und kommt aus dem Staunen nicht heraus. Gewöhnlich bestehen sie aus einer Flucht von acht bis zehn großen Zimmern, alle parkettiert und getäfelt. Türen und Fenster schmückt reich vergoldetes Schnitzwerk. Und was die Einrichtung betrifft, so findet man nur selten Gleichwertiges in den Schlössern regierender Fürsten. Herrliche Brüsseler Gobelins, riesengroße Spiegel in Silberrahmen, entzückende japanische Porzellantische, Ruhebetten, Stühle wetteifern um die Gunst des Beschauers; Betthimmel und Vorhänge aus feinstem Genueser Damast oder Samt verschwinden unter Goldspitzen und Stickerei. Gemälde und kostbare chinesische Porzellanvasen bringen eine heitere Note in das Ganze, und in kaum einem Raum fehlen die großen bergkristall-Leuchter.
Mehrere Personen von hohem Rang haben mir bereits die Ehre erwiesen, mich zu Tisch zu laden. Ich lasse ihnen Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich sage, dass an ihren Tafeln ein Geschmack herrscht, welcher der Pracht Einrichtungen entspricht. Mehr als einmal wurden mir an fünfzig Fleischgerichte vorgesetzt, alles schön angerichtet und auf Silber serviert. Das Dessert war dementsprechend gut und in feinstem Porzellan aufgetragen. Am erstaunlichsten erschien mir jedoch die Mannigfaltigkeit und Kostbarkeit der gereichten Weine. Nach hiesiger Sitte wird ein Verzeichnis derselben zugleich mit der Serviette auf das Gedeck des Gastes gelegt; manchmal zählte ich bis zu achtzehn verschiedene Sorten, die alle in ihrer Art köstlich waren.
Gestern besuchte ich den Park des Vizekanzlers Grafen Schönbrunn (gemeint ist Graf Friedrich Carl Schönborn, Reichshofrats-Vizepräsident, Reichsvizekanzler), bei dem ich zum Speisen gebeten war. Ich gestehe, dass ich noch niemals etwas Reizenderes gesehen habe als die Wiener Vorstädte. Die Josefstadt ist sehr groß und besteht fast ausschließlich aus prächtigen Palästen. Hielte es der Kaiser für angebracht, die Stadttore entfernen zu lassen und die Vorstädte mit Wien zu vereinigen, so hätte er eine der größten und schönsten Städte Europas. Der Landsitz des Grafen Schönbrunn zählt zu den prächtigsten; er hat Möbel vom reichsten Brokat und mit so viel Geschmack und Fantasie angeordnet, dass kaum anderswo die gleiche heitere Pracht anzutreffen sein dürfte. Dabei habe ich noch gar nicht die Galerie erwähnt, die mit Kunstwerken aus Korallen, Perlmutter usw. angefüllt ist. Über das ganze Haus sind Vergoldungen, Schnitzwerk, schöne Bilder, herrlichstes Porzellan, Alabaster- und Elfenbeinstatuen in verschwenderischer Fülle ausgestreut, und in vergoldeten Geschirren stehen da große Orangen- und Zitronenbäume. Das Essen war vorzüglich und glänzend angerichtet; Laune und Witz des Grafen gaben ihm besondere Würze.
Montagu, Mary Wortley
Briefe aus dem Orient
Hrg. von Irmela Körner
Wien 2006
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