1903 - Roald Amundsen
Das erste Zusammentreffen mit den Eskimos
Gjoa Haven, Kanada
Als wir an einem Morgen auf dem Hügel standen, um unser Frühstück bei einem fröhlichen Gespräch zu verdauen, und dabei, wie gewöhnlich, auch ein wenig nach Renntieren ausspähten, deutete einer von uns nach Norden und sagte:
„Da haben wir sie wahrhaftig wieder!“
Und sogleich wurden die Jagdvorbereitungen getroffen. Aber Hansen blieb ruhig neben mir stehen und schien seine außergewöhnlich scharfen Augen nicht besonders anzustrengen.
„Na, Hansen, haben sie keine Lust, heute auf die Renntierjagd zu gehen?“
„O doch“, sagte er langsam; „aber nicht auf die Renntiere dort drüben, denn die gehen auf zwei Beinen.“
Auf diese verblüffende Aussage hin lief ich nach meinem Fernglas und richtete es auf die vermeintliche Renntierherde. Und wirklich, dort drüben standen fünf Menschen!
Eskimos!
Nun hatten wir ja schon immer des langen und breiten über die Eskimos gesprochen, es aber aus allerlei Gründen für höchst unwahrscheinlich gehalten, daß wir mit ihnen zusammentreffen würden. Wir hatten Ende Oktober und glaubten daher, die Eskimos wären für dieses Jahr ausgestorben – deshalb waren sie uns ganz aus dem Gedächtnis gekommen.
Und da hatten wie sie nun!
Alles, was wir über diese arktischen Barbaren wußten, drang jetzt in Eile auf uns ein. Mit den nordamerikanischen war durchaus nicht immer zu spaßen, das wußten wir aus alten Reisebeschreibungen dieser Gegenden. Von den Polarreisenden Roos und Klutschuk hatten wir gelernt, das Eskimowort „Teima“ sei der beste Gruß, womit man ihnen entgegentreten könnte: es bedeute ungefähr ein recht herzliches “Guten Tag!“. Und wir hatten uns das Wort Teima in den allerverschiedensten Aussprachen eingeprägt.
Indessen fiel es uns gar nicht ein, die Dummheit zu begehen, unser Vertrauen auf dieses eine ärmliche Wort zu setzten. Das einzig Richtige war, die Ankommenden von vornherein als Feinde zu betrachten. Und so wurde der Kriegsplan entworfen. Ich sollte mit zwei Mann den Feinden entgegengehen, und Hansen und Lund meldeten sich sogleich als Freiwillige. Die Karabiner wurden genau untersucht und die Magazine bis zum letzte Platz gefüllt. Auf dem Eise vor dem Schiff hielt ich Truppenschau, und selbst der kritischste Feldherr hätte mit der Haltung und dem Aussehen dieser Mannschaft zufrieden sein müssen. Ich selbst sah so kriegerisch drein wie nur möglich, richtete mich hoch auf, machte eine regelrechte ganze Schwenkung und kommandierte: „Vorwärts – Marsch!“
Meine Braven dicht hinter mir, schritt ich voraus und warf dabei einen Seitenblick aufs Verdeck, wo der Leutnant und der Koch nebeneinander standen. Es kam mir vor, als ob die beobachtenden Blicke, mit denen sie unsere kleine Schar betrachteten, keine hervorragende Bewunderung ausdrückten – nicht einmal einen richtigen Ernst!
„Nun gut“, dachte ich, lustig sein ist leicht, wenn man an Bord so gut geborgen ist, während wir ins Ungewisse hinein, ja vielleicht hier auf dem offenen Feld dem Tod entgegen gehen.“
Die Eskimos waren ungefähr noch fünfhundert Meter von uns entfernt und bewegten sich hügelabwärts auf unser Schiff zu. Ich marschierte ihnen, so martialisch wie ich konnte, entgegen, und hinter mir hörte ich die Schritte meiner Leute. In einer Entfernung von ungefähr zwanzig Metern machten die Eskimos halt. Verschiedene strategische Möglichkeiten kreuzten sich in meinem Kopf – Offensive, Defensive, und so weiter; aber schließlich fand ich doch am sichersten, Halt! zu kommandieren. Meine Leute nahem sich prächtig aus, in strammer Haltung, die Füße in einem Winkel von fünfundvierzig Grad, im Gesicht den Ausdruck von Mut und Vertrauen in ihren Führer. Hierauf studierte ich die Gegenpartei. Die Feinde schienen sehr erregt zu sein, sie deuteten, lachten und gestikulierten, ohne ausgeprägt kriegerisches Gebaren. Aber plötzlich stellten sie sich in Schützenlinie und rückten vor.
„Nun wohl“, dachte ich, besser in Ehren sterben als durch feige Flucht retten.“ Und „Vorwärts Marsch!“ kommandierte ich.
Wir rückten vor, ganz darauf vorbereitet, den Feind im nächsten Augenblick den Bogen spannen und auf uns zielen zu sehen. Aber nein – er hat unverkennbar etwas anderes im Sinn. Eine Kriegslist?
Plötzlich tauchte in meinem von der Spannung des erwarteten Kampfes das Wort „Teima“ auf. Und „Teima“ brülle ich dem Feind aus Leibeskräften entgegen.
Die Eskimos halten jäh an. Aber jetzt ist unsere Erregung zu groß – jetzt muß eine Entscheidung fallen – und wir eilen kampfbereit vorwärts. Da tönt der Ruf an mein Ohr:
„Manik-tu-mi! Manik-tu-mi!“
Und das klingt so bekannt von dem Polarreisenden MacClintock her – es ist der allerhöchste Freundschaftsgruß dieser Eskimos. In einem Nu werfen wir die Gewehre weg und eilen unsern Freunden entgegen:
„Manik-tu-mi!“ Manik-tu-mi!“
Wir schreien alle durcheinander, umarmen uns, klopfen uns auf die Schultern, und ich weiß nicht, auf welcher Seite die Freude am größten ist. Unsere Freunde überraschten mich im höchsten Grade durch ihr Aussehen. Vor ganz kurzem hatten wir die häßlichen plattnasigen Eskimos der grönländischen Nordwestküste verlassen, und hier trafen wir auf einen Volksschlag, von dem einzelne Männer geradezu schön genannt werden konnten. Zwei von ihnen glichen Indianern und waren gerad aus einem Cooperschen Roman herausgeschnitten. Hochgewachsen und kräftig waren sie auch. In brüderlicher Vereinigung gingen wir zum Schiff hinunter. Kli-klik! Hörte ich des Leutnants Photographenapparat – kli-klik! wieder und wieder . Neben ihm stand Lindström mit seinem breitesten Grinsen. Und ich kann nicht behaupten, daß ich ein richtig erhabenes Feldherrngefühl gehabt hätte.
Unsere Gäste nahmen die Einladung, mit an Bord zu kommen, hocherfreut an. Auf dem Verdeck lagen wohl hundert erlegte Renntiere aufgestapelt – und die Eskimos machten große Augen über diesen Fleischvorrat, sagten aber nichts. Lange standen wir beisammen und plauderten, lachten und scherzten mit ihnen. Dann flüsterte mir Lindström zu, ob wir ihnen nicht mit etwas aufwarten sollten. „Gewiß“, erwiderte ich und bat ihn, Kaffee zu kochen und etwas Hartbrot zu holen. Wir nahmen unsere Gäste in den Schiffsraum hinunter – in der Kajüte hätte ich sie nur ungern niedersitzen lassen, denn ich fürchtete, sie könnten nicht – allein sein; die nordgrönländischen Eskimos wenigstens sind wegen ihrer Läuse berüchtigt!
Kaffee und Brot wurden aufgetragen, aber dies schien ihnen nicht besonders zu munden. Sie machten durch Zeichen verständlich, daß sie gern etwas zum Trinken hätten, und als wir ihnen Wasser gaben, begannen ihre Gesichter zu strahlen. Jeder von ihnen trank zwei Liter. Aber wenn sie Wasser dem Kaffee vorzogen, dann waren sie vielleicht auch –
„Ach Lindström, gibt doch die alte Renntierkeule her, die dort drüben liegt!“
Ja, ich hatte recht: das war etwas anderes als Hartbrot! Nun bekamen wir auch zu sehen, daß sie nicht ganz unbewaffnet waren – wie es den Anschein gehabt hatte. Aus ihren Stiefelschäften heraus zogen sie große, lange Messer, und nach unglaublich kurzer Zeit hatten sie das Fleisch von drei Keulen so rein abgekratzt und aufgegessen, daß nur noch die nackten Knochen übrigblieben.
Wiik und Ristvedt waren bei der Ankunft der Eskimos nicht dabeigewesen, und da sie auch jetzt nicht erschienen, mußten sie keine Ahnung von dem Ereignis haben. Als die Eskimo endlich mit ihrer Mahlzeit fertig waren, machte ich ihnen ein Zeichen, mir zu folgen, und ging ihnen voran nach der Villa Magnet. Nirgends war jemand zu erblicken; ich klopfte an die Tür und ging hinein. Ristvedt und Wiik saßen tief über ihre Bücher gebeugt da. Die Eskimos hielten sich still hinter mir.
„Es ist doch merkwürdig“, begann ich, daß wir in diesen fernen Gegenden Gäste bekommen haben, nicht wahr? Und überdies Bekannte! Erlaubt mir, daß ich vorstelle!“
Beide Herren fuhren zusammen, richteten sich kerzengerade in die Höhe, machten einen tiefen Bückling, und nun traten die Eskimos vor. Es erhob sich ein allgemeines großes Gelächter, in das auch die Eskimos mit Gebrüll einstimmten.
Im Anfang fanden wir es gar nicht leicht, uns mit unseren Gästen zu verständigen. Aber nachdem wir ihnen unseren Wunsch, von ihnen zu lernen, wie man die gebräuchlichsten Dinge in ihrer Sprache nenne, begreiflich gemacht hatten, ging es rasch vorwärts. Eine richtige Konversation mit Damen hätten wir freilich nicht führen vermögen, aber wir eigneten uns einen Wortvorrat an, mit dem wir uns in allen Lagen durchhelfen konnten, und einen Ball veranstalteten wir ja nicht.
Die Eskimos blieben über Nacht bei uns, und am nächsten Morgen zogen sie wieder heimwärts.
Amundsen, Roald
Bei den Eskimos der Nordwest-Passage
In:
Entdeckungsreisen
Hrg. von der Lehrervereinigung für Kunstpflege Berlin
Reutlingen o.J.