Um 1910 - Fritz Kummer
Im Freudenhaus
Osaka
Die meisten Europäer müssen mit keinem anderen Gedanken als mit dem an die Geischas nach Japan kommen. Wo immer ich einem begegnete, wurde ich gefragt: »Na, schon bei den Geischas gewesen?« So eilig deuchte mich die Sache nun nicht. Solange ich noch die Absicht haben konnte, in Japan zu arbeiten, glaubte ich den Besuch einer Geischavorstellung hinausschieben zu müssen. Während meiner Fabriktätigkeit hoffte ich schon einmal Gelegenheit zu erhalten, ein Teehaus zu besuchen. Als ich dann die Absicht, weil nicht ausführbar, aufgegeben hatte, wußte ich keinen Bekannten mehr, der mich hätte begleiten können. Doch in Osaka kam ich mit einem Fabrikanten zusammen, der freundlich genug war, mich zu einem Mahl in ein Teehaus einzuladen. Nach einer halbstündigen Rikschafahrt durch elend schmutzige Gäßchen, über schaukelnde Brücken und knarrende Stege hielten wir in einer beängstigend schmalen Gasse vor einem elektrisch beleuchteten Hause.
Mein liebenswürdiger Gastgeber mußte hier wohl bekannt sein, denn die Mädchen begrüßten ihn wie einen alten Freund. Eins stellte er mir als seine »Flamme« vor. Wir wurden vertraulich die Treppe hinauf in ein Sonderzimmer geführt. Unten, in einem sehr großen Saal, saßen mehrere Männergruppen, jede um eine aufrecht stehende Geischa gelagert. Wir hatten uns kaum gesetzt, als auch schon Mädchen erschienen, die uns die Röcke abnahmen und uns Kimonos umhängten. Eine andere schleifte den Feuerkasten herbei und begann mit ernster Miene Rindfleisch zu braten. Drei Sängerinnen stelzten mit zwei Tänzerinnen herein. Von den ersten nahm je eine zu unseren Seiten, die andere zwischen uns Platz. Während die Sängerinnen die Samissen stimmten, reichten die Heben an unserer Seite (heißen) Saké (Reiswein) in zierlichen Näpfchen. Zuerst trank mein Begleiter, dann ich, dann die Mädchen der Reihe nach, sorgfältig an der Stelle nippend, die wir mit den Lippen berührt hatten. Nur die letzte in der Trinkerreihe hatte das Recht und die Pflicht, das Gefäß in dem dabeistehenden Wasser zu spülen. Die Wimmerhölzer waren gestimmt. Die Mädchen begannen zu singen. Das erste Lied klang überaus traurig. Als sich dann aber die Tänzerinnen erhoben und ihre zierlich-schlanken Körper im Takte der Musik wiegten, die prächtig bunten Kimonos flatterten und sich die Fächer in der Luft bewegten, wurden Saiten wie Stimmen lustiger, frohlockender, gingen schließlieb in Jauchzen und Entzücken über. Bei aller Farbenentfaltung, bei Saitengesumm und Stimmengetos wurde die Sakéflasche nicht vergessen. Dieser heiße Reisbranntwein schmeckte gar nicht so übel. Je öfter die »Flamme« ihn reichte, desto besser mundete er. Die Stimmung wurde immer fröhlicher, die Köpfe wurden immer heißer, die Augen immer glänzender. Schließlich sah man nichts mehr als bunte Kimonos, glitzernde Fächer und den glühenden Holzkohlenkasten; Mädchenstimmen und Saitentöne waren nur noch ein surrendes Einerlei. Es war höchste Zeit zum Aufbrechen. Mein Gastgeber machte mich darauf aufmerksam, daß mein Nachtlager und so weiter im Teehaus bestellt und bezahlt sei. Ich glaubte, diese übergroße Freundlichkeit mit ebensoviel Dank wie Entschiedenheit ablehnen zu müssen. Andern Tags sollte ich allerdings erfahren, daß ich dadurch meinen Gastgeber schwer beleidigt hatte.
Jeder Gast des Freudenhauses muß in das zu diesem Zweck gehaltene Buch eingetragen und der Polizei müssen die Zahl der Besucher als auch die von ihnen gespendeten Beträge berichtet werden. Dann soll die Polizei die Geschäftsbücher sowie die Abrechnungen zwischen Haushalter und Mädchen überwachen. So steht's wenigstens in der Verordnung. Ob es aber auch ausgeführt wird, kann bezweifelt werden.
Will ein Mädchen in ein öffentliches Haus eintreten, so muß es persönlich bei ihrer Polizeibehörde darum anhalten und die Gründe dafür mit der Zustimmung des nächsten Verwandten oder Vormundes schriftlich einreichen. Daraufhin werden die Familien- und Einkommensverhältnisse der Gesuchstellerin eingehend geprüft. Zeigt sich irgendeine andere Möglichkeit des Lebenserwerbes, wird das Mädchen abgewiesen.
Gar oft erhalten die Mädchen von dem Werber des Lusthausbesitzers, der sie vielleicht erst auf den neuen Weg zur Beschaffung des Lebensunterhaltes aufmerksam machte, eine Summe von, sagen wir 100 oder 200 Mark vorgestreckt. Die Eltern, arm wie sie sind, können das Geld nur zu gut gebrauchen. Die Tochter hat dann von dem ihr verbleibenden Teil ihres Verdienstes das Handgeld abzuzahlen.
Daß die Mädchen trotz Vertrag, Durchführung und polizeilicher Überwachung noch oft betrogen werden, bedarf keiner besonderen Bekräftigung. In den Verträgen wird gewöhnlich im einzelnen festgesetzt, welchen Teil das Mädchen und welchen der Hausbesitzer von den Einkünften zu beanspruchen hat, und was die eine und die andere Seite an Kleidung, Nahrung und Möbeln leisten muß.
Das Verlangen auf Streichung von der Dirnenliste kann mündlich oder schriftlich gestellt werden. Ist das Verlangen vorgebracht, muß die Streichung ohne weiteres erfolgen. Niemandem, wer es auch sei, ist es gestattet, sich bei dem Verlangen auf Streichung einzumischen. Niemand darf die Freiheit des Mädchens im Briefwechsel, Lesen, Ankauf und Besitz von notwendigen Sachen oder im Empfang von Personen noch es sonstwie in seiner Freiheit beeinträchtigen. Wer falsche Angaben macht, um die Eintragung in die Dirnenliste zu bewerkstelligen, wird mit 24 Jen oder 25 Tagen Gefängnis bestraft.
Diese Bestimmungen der amtlichen Verordnung (vom 2. Oktober 1900) über die Regelung des Dirnenwesens zeigen, daß im heidnischen Japan die Freudenmädchen, wenn auch noch sehr unzureichend, so doch jedenfalls bedeutend wirksamer geschützt sind als in christlichen Ländern.
Kummer, Fritz
Eines Arbeiters Weltreise
Erstausgabe Stuttgart 1913; Nachdruck Leipzig und Weimar 1986