1789 - Nikolai Michailowitsch Karamsin, russischer Bildungsreisender
Dresden
Der Morgen war herrlich. Die Vögel sangen, und die jungen Hirsche spielten am Wege. Auf einmal lag Dresden vor mir auf einer weitläufigen Ebene, durch welche die stille Elbe fließt. Die grünen Hügel auf der einen Seite des Flusses, die majestätische Stadt und eine weite fruchtbare Ebene — dies machte zusammen eine herrliche Ansicht.
In einer sehr heiteren Stimmung kam ich nach Dresden, und auf den ersten Blick schien mir diese Stadt noch schöner als Berlin zu sein. Ich stieg im Posthause ab, und nachdem ich mich umgekleidet hatte, ging ich zu Herrn P., an welchen ich einen Brief aus Moskau hatte. Er nahm mich sehr höflich auf und erbot sich, mir mehrere interessante Bekanntschaften in Dresden zu machen; da ich aber nur drei Tage hierbleiben und folglich nicht Zeit haben werde, von diesen Bekanntschaften Gebrauch zu machen, so konnte ich ihm nur für seinen guten Willen danken. Wir gingen zusammen in der Stadt herum.
Dresden übertrifft Berlin noch etwas in Hinsicht auf die großen Gebäude, nur sind die Straßen viel enger. Man zählt 35.000 Einwohner in Dresden, welches wirklich nicht viel für die Weitläufigkeit der Stadt und für die Größe der Häuser ist. In der Tat sieht man auch wenig Leute auf den Straßen, und selten findet sich ein Haus, woran nicht ein Zettel hinge mit der Nachricht, daß hier Zimmer zu vermieten sind. Für zwei oder drei artig möblierte Zimmer bezahlt man nicht mehr als monatlich sieben bis acht Rubel. Hie und da sieht man noch die Spuren der Verwüstung, welche die preußischen Kugeln im Jahre 1760 anrichteten.
Über eine Stunde stand ich auf der Brücke, welche die sogenannte Neustadt von Dresden trennt, und konnte nicht satt werden, das herrliche Gemälde zu betrachten, welches die beiden Stadtteile und die schönen Flußufer der Elbe bieten. Diese Brücke, die 670 Schritte lang ist, wird für die beste in Deutschland gehalten. An den Seiten sind Wege für die Fußgänger und Plätze zum Ausruhen.
Karamsin, Nikolai Michailowitsch
Briefe eines russischen Reisenden
Band 1, Leipzig 1802