Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1925 - Walter Mittelholzer, schweizer Flugpionier
Der Flug über den Demawend
Isfahan - Demawend - Teheran
Iran

 

Draussen war schon der helle Tag hereingebrochen, als ich, nach herrlich ausgeruhtem Schlaf, vom Singen und Trillern der Vögel, denen die Lenzesliebeslust ins Herz gefahren war, erwachte. Der letzte Tag meiner Fliegertätigkeit in Persien war wiederum, wie alle seine Vorgänger, mit wolkenlosem, tiefblauem Himmel und strahlendem Sonnenschein angebrochen. Es konnte ja kaum anders sein. Seit meinem 43-tägigen Aufenthalt in Persien waren bis heute nur zwei Tage bedeckt und regnerisch gewesen! Ein ideales Land für den Luftverkehr! Trotz der hohen Lage von Ispahan, 1.600 Meter über Meer, war die Nacht mild gewesen. Auf den Flugplatz, wo wir inmitten einer grossen Zuschauermenge unsere letzten Vorbereitungen trafen, brannte die Sonne schon mit erstaunlicher Kraft nieder. Der hohe Gebirgszug im Norden, den ich zu überfliegen hatte, war allerdings heute wegen des Dunstes nicht zu erkennen, dafür aber war der Blick von unserem hochgelegenen Startplatz über die unter uns liegende Stadt und auf die umliegenden Berge bezaubernd schön.
   Wir nehmen Abschied von unsern lieben Bekannten, dann saust unser Vogel den Berghang hinunter, und nach kurzem, holprigem Anlauf befinden wir uns Punkt 8 Uhr in der Luft.
   Drunten, im grossen, marmorglänzenden Hofe der grossen Moschee beim Meidan i Schah-Platz, knien Hunderte von Gläubigen des grossen Propheten und beten, wie vor Jahrhunderten, zu Allah, ihrem Beschützer. Donnernd braust unser grosser Metallvogel über ihren erschrockenen Häuptern vorüber. Er verkündet den Sieg einer neuen, freieren Zeit des Menschengeschlechtes, das sich aus starren Religionsdogmen befreit hat. Über zerfallene Schahpaläste, über ein Meer von Kuppeln, Türmen und Mauern bin ich in wenigen Minuten über grünenden Kornfeldern und zerstreut liegenden Dörfern. Dann aber dehnt sich bald unermesslich die Wüste aus, hinter der im Norden allmählich die Umrisse des über 4.200 Meter hohen Kargiz-Gebirges sich abheben. Um 8 Uhr 40 liegt dessen höchster Gipfel unter meinen Füssen. In senkrechten Wänden brechen die rotbraunen, horizontal geschichteten Felswände nach Norden hinunter zum verwitterten Felsgürtel der grossen Salzwüste. Seit meiner ersten Passage vor vierzehn Tagen hat hier die Sonne schon kräftig mit dem Schnee aufgeräumt; doch kein Pflänzchen entspriesst hier der unfruchtbaren Wüstenerde.
   Im Norden ist die Atmosphäre grau und düster. Vergebens suche ich heute die stolze Schneepyramide des Demawend, die mir beim ersten Fluge aus 250 Kilometer Entfernung so überirdisch entgegengeleuchtet hatte. Meine Hoffnung, heute noch dem jungfräulichen Gipfel die erste Fliegervisite zu machen, schwindet immer mehr, je mehr die Sonne hinter zarten Nebelschleiern verschwindet. Im Gleitflug gehe ich aus meiner Höhe von 4.500 Metern hinunter über die nun vor mir auftauchende Stadt Kaschan, die um 9 Uhr 05 zu Kinoaufnahmen ganz tief überflogen wird. Dann folge ich der Karawanenstrasse, die gegen Kum führt, um dem berühmten Wallfahrtsort der Schiiten mit seiner Moscheekuppel aus Gold einen Besuch zu machen; öfters nicht höher als 10 Meter über der Strasse fliegend, holen wir spielend Karawane um Karawane ein und freuen uns heimlich über die Verwirrung, die unsere wild lärmende Maschine da unten anrichtet. Während die Kamele in stoischer Ruhe nur den Kopf in die Höhe recken, springen die Maultiere und Esel erschreckt von der Strasse weg, purzeln in die Gräben und Löcher, dabei ihre schweren Lasten abwerfend.
   Doch das unterhaltende Spiel hat bald ein Ende. Das nun folgende kupierte Gelände zwingt mich vorsichtigerweise zu höherem Fliegen. Als ich mich nach einer halben Stunde wieder auf etwa 3.000 Meter befinde, sehe ich plötzlich vor mir, im leeren Himmelsgrau, ein helles, fast gleichwinkliges Dreieck hängen. Zuerst halte ich diese Erscheinung für eine optische Täuschung. Doch nach einiger Zeit ist kein Zweifel mehr für mich möglich; es ist der Demawend, dessen oberste Spitze aus den Dunstschleiern emporragt!
Sollte also mein sehnsüchtiger Wunsch doch noch in Erfüllung gehen? Ich mochte nach meiner Berechnung noch etwa 90 Kilometer südlich des Demawend sein, gab nun meinem Motor Vollgas und Höhengas und stieg so allmählich siegreich durch Nebelschleier aus der düsteren, grauen Tiefe der todbringenden Salzwüste hinauf zu blendendem Licht, in die Sonne.
Um 10 Uhr 30 hatte ich eine Höhe von 5.000 Metern erreicht. Unter mir ein wogendes Nebelmeer, über mir der schwarzblaue Himmel und vor mir ein Gipfelmeer von Hunderten weniger markanter Schneegipfel, aus denen aber um so riesenhafter, mindestens 2.000 Meter überragend, der einst tätige Vulkan des Demawend wie eine fremde Erscheinung emporsteigt. Hie und da öffnet sich ein Wolkenloch, erspähe ich tief unten in den engen Schluchten Bergdörfchen, wie Vogelnester an grünenden, von schäumenden Bächen durchzogenen Hängen klebend. Mein Bordchronometer zeigt genau 10 Uhr 46, als ich in 5.700 Meter Meereshöhe, kaum mehr als 30 Meter höher als der Demawend, über seiner abgerundeten Kegelspitze vorbeiflitze, hinaus nach Norden, in den leeren Luftraum. Eben will ich für Sekunden das Steuer aus der Hand freilassen, um den Kinoapparat, den Bissegger [der Flugzeugmechaniker] in seinem Beobachtersitz wieder frisch geladen hat, in Empfang zu nehmen, als wir plötzlich von unseren Sitzen hochgeschleudert wurden und kopfüber in die Tiefe sanken. Erst nach einigen Sekunden hatte ich die Maschine wieder fest in meiner Gewalt. Hinter mir ist der Demawend mächtig in die Höhe emporgewachsen. Ein Blick auf den Höhenaneroid zeigt mir, dass wir von dem Fallwind bis auf 5.500 Meter heruntergedrückt worden sind. Bei diesem rapiden Fall setzte der Motor noch zeitweilig aus, infolge des stockenden Benzinzuflusses in den Vergaser, so dass die Maschine stampfte und zitterte - eine recht ungemütliche Situation! Wieviel einfacher und sicherer wäre die Überfliegung mit meinem alten, starken Motor gewesen. Der hätte uns infolge seines Kraftüberschusses in Höhen von 6.000 Meter und darüber spielend getragen, wo uns die Fallwinde sicherlich nicht mehr erwischt hätten. Nach Norden fällt das Gebirge rapid in waldreiche Schluchten zu den Reisfeldern von Masanderan und zum Kaspischen Meer hinunter, dessen Uferlinie schwach zu erkennen ist. Ich drehe in einer grossen Linkskurve wieder nach Norden um, fliege in respektvoller Distanz am Demawend vorüber und wende mich nun über mehrere Längsketten nach Südwesten, Teheran zu. Weit im Westen tauchen aus dem Gipfelmeer von Bergen und Wolken drei über 4500 Meter hohe Schneeketten empor - dort war ich vor vier Wochen zum Kaspischen Meer durchgeflogen. Noch einmal drehe ich eine Kurve, lasse meine Augen zum letztenmal sich satt sehen an persischer Hochgebirgspracht. Dann aber muss geschieden sein! In 3.600 Meter Höhe passiere ich durch ein Wolkenloch die Wolkendecke, werde nochmals gründlich wie ein Spielball hin- und hergeworfen und komme nicht weit von Teheran in die unteren Luftschichten. Es riecht nach Frühling hier unten, die Luft ist angenehm warm und in den Gärten der Hauptstadt sind viele grüne Stellen, wo noch bei meinem Abflug alles kahl war. Nach vierstündigem Fluge lande ich wohlbehalten um 11 Uhr 50 draussen auf dem Flugplatz vor dem Kaswiner Tor. Mit diesem denkwürdigen Flug musste ich leider meine Fliegerkampagne in Persien für diesmal beschliessen, trotzdem ich nicht alle Pläne restlos durchgeführt hatte.

 

Mittelholzer, Walter
Persienflug
4. Auflage, Zürich/Leipzig/Berlin 1926

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