Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1819 - Franz Grillparzer
Venedig

 

Gegen Abend erblickten wir den Glockenturm von St. Markus in neblichter Ferne, aber eine neue Windstille ließ uns nicht hoffen, ihn so bald zu erreichen. Noch einmal mußten wir hinab in unser Gefängnis, und schlafend trug uns die Barke, wie den Ulysses in die Heimat, nach Venedig. Als wir erwachten und aufs Verdeck traten, lagen wir schon in den Lagunen, der Dogana gegenüber. Man hat oft den ersten Anblick von Venedig als so wunderbar beschrieben, ich habe es kaum so gefunden. Es hat zwar allerdings etwas Befremdendes, Häuser und Paläste aus dem Meere aufsteigen zu sehen, aber die Phantasie ersetzt leicht das fehlende Erdreich, und man glaubt eben einen breiten Fluß mit vielen Inseln vor sich zu sehen. Auch fehlt es in solcher Nähe, als ich beim Anbruch des Tages die Stadt bereits sah, dem Anblick an Einheit und Umfang; in einer größeren Entfernung mag das anders sein. Der erste Eindruck, den Venedig auf mich machte, war befremdend, einengend, unangenehm. Diese morastigen Lagunen, diese stinkenden Kanäle, der Schmutz und das Geschrei des unverschämten, betrügerischen Volkes geben einen verdrießlichen Kontrast mit dem kaum verlassenen, heiteren Triest. Wenn man sich aber erst ein wenig erholt hat und den Totaleindruck dieser schwarzen Steinmassen gesondert auf sich wirken läßt, dann wird man ebenso ergriffen, als man vorher verstimmt war. Es ist vielleicht kein Ort in der Welt, wo das Altertum mit solcher Lebendigkeit den Menschen anspräche. Rom ist tot, ein herrlicher Leichnam, aber Venedig regt sich noch und dehnt seine Riesenglieder zum unfreiwilligen Abschied aus dem Leben. Wer nicht sein Herz stärker klopfen fühlt, wenn er auf dem Markusplatz steht, der lasse sich begraben, denn er ist tot.  Dieser Palast des Dogen, ein Bild der Republik und der Stadt, mit seinem unförmlichen Körper auf den Stützen wunderlicher Säulen und Bögen ruhend, vereinend die Starrheit in seinen ungefügen, unbeworfenen Wänden mit aller Zierlichkeit der Kunst in seinen Arkaden und Zinnen. Ich weiß nicht, warum, aber mir fiel ein Krokodil ein, als ich ihn sah, obschon seine Form nicht die geringste Ähnlichkeit mit diesem Tiere hat. Was da beschlossen wird, denkt man, muß geheimnisvoll sein und klug und unerschütterlich und hart. Wie ein Rätsel sieht er aus, dieser Palast, und scheint Rätsel zu beherbergen. Auf der anderen Seite die Prokuratorien, schön, herrlich, aber sie gleichen anderen Gebäuden, und andere Gebäude gleichen ihnen: hier wohnt das Sichtbare, in jener Höhle brütete das unsichtbare Prinzip, das sich bemerkbar machte durch seine Wirkungen. Als ich in der Nacht beim Mondschein in der Gondel an diesem Palast herumfuhr, bei den Staatsgefängnissen vorbei und nun in dem durch Streiflichter manchmal unterbrochenen Schatten, welchen diese Riesengebäude einander geheimnisvoll zuwerfen, der Ponte dei sospiri über mir schwebte, über den die Staatsverbrecher einst aus dem Gefängnis zum Tode geführt wurden, da überfiel mich ein Fieberschauer. All die Gewesenen und all die Verblichenen, all die Verfolger und Verfolgten, Mörder und Gemordeten schienen aufzusteigen vor mir mit verhüllten Häuptern. Auf dieser Brücke ging Marino Faliere, ging vor ihm und nach ihm so mancher dem Tode entgegen, und dort erwarteten sie Henker und Richter, die Menschenleiden nicht beben machte und ein Mord nicht zittern. Schaut hin, Unbeugsame, Starre, Unmenschliche! Das, wofür ihr gemordet habt und gerichtet, es ist nicht mehr. In Schutt liegt eure Größe, euren Abgott hat die Zeit verschlungen, eure Tage sind zur Fabel geworden, und euer Streben zum Märchen. Über euren Gräbern wandelt eine entartete Menge, die bald den Namen vergessen wird, für den ihr starbt.
   Noch einmal: Wer am Markusplatz sein Herz nicht schlagen fühlt, hat keines. Hier die drei Säulen mit den drei Kronen der drei Königreiche, die sich dienstbar nannten der stolzen Republik, dort die Pferde, Siegeszeichen aus dem eroberten Konstantinopel, und außer jenen zwei Säulen am Canal Grande das Meer, das, gebändigt, statt zu grollen, schmeichelnd die Füße leckt der es beherrschenden Stadt.  Steh auf aus dem Grabe, entschlafener Doge, und wirf deinen Ring hinab, deine Braut hat andere Bräutigame gefunden, seit du schläfst.
   Man durchwandert die Stadt: überall Größe, Stolz, Reichtum, Weltherrschaft. Palast an Palast, fast alle gleich gebaut. Zwei Eingänge, einer auf den Kanal, der andere ans Land. Im ersten Geschosse ein großer mit Marmor gepflasterter Saal, dessen eine Wand ganz aus Fenstern besteht, von außen mit Säulen geziert, wert, breitere Straßen zu zieren, alles düster, ernst, streng. Diese Massen tragen den Charakter der Republik. Man möchte weinen, wenn man die Namen hört und die Reste sieht. Das Hotel all'Europa, wo ich wohnte, war einst das Haus der uralten Giustiniani, und in dem Saale, wo der alte Badoar seine Siegesfeste feierte, putzt der Bediente meine Schuhe und hängt meinen Rock dahin, wo sonst eroberte Fahnen hingen. Als ich in den Laden des Buchhändlers Fuchs trat, um nach etwas zu fragen, stand ich in dem Zimmer, wo Bianca Capello geboren ist, kurz, für einen, der ein Gemüt hat, gibt's keinen zweiten Ort wie Venedig.

 

Grillparzer, Franz
Gesammelte Werke
Hrg von E. Rollet und A. Sauer
Wien 1923-25

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