Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1826 - Hermann von Pückler-Muskau
Besuch bei Goethe
Weimar

 

Diesen Abend stattete ich Goethe meinen Besuch ab. Er empfing mich in einer dämmernd erleuchteten Stube, deren Clair obscur nicht ohne einige künstlerische Koketterie arrangiert war. Auch nahm sich der schöne Greis mit seinem Jupiterantlitz gar sittlich darin aus. Das Alter hat ihn nur verändert, kaum geschwächt, er ist vielleicht weniger lebhaft als sonst, aber desto gleicher und milder und seine Unterhaltung mehr von erhabener Ruhe als jenem blitzenden Feuer durchdrungen, das ihn ehemals, bei aller Grandezza, wohl zuweilen überraschte. Ich freute mich herzlich über seine Gesundheit und äußerte scherzend, wie froh es mich mache, unsern Geisterkönig immer gleich majestätisch und wohlauf zu finden. »Oh, Sie sind zu gnädig«, sagte er mit seiner immer noch nicht verwischten süddeutschen Weise und lächelte norddeutsch, satyrisch dazu, »mir einen solchen Namen zu geben.« — »Nein«, erwiderte ich, wahrlich aus vollem Herzen, »nicht nur König, sondern sogar Despot, denn Sie reißen ja ganz Europa gewaltsam mit sich fort.« Er verbeugte sich höflich und befrug mich nun über einige Dinge, die meinen früheren Aufenthalt in Weimar betrafen, sagte mir auch viel Gütiges über M... und mein dortiges Streben, mild äußernd, wie verdienstlich er es überall finde, den Schönheitssinn zu erwecken, es sei, auf welche Art es wolle, wie aus dem Schönen dann immer auch das Gute und alles Edle sich mannigfach von selbst entwickele, und gab mir sogar, auf meine Bitte, uns dort einmal zu besuchen, aufmunternde Hoffnung. Du kannst Dir vorstellen, Liebste, mit welchem Empressement ich dies aufgriff, wenn es gleich nur eine façon de parler sein mochte. Im fernern Verlauf des Gesprächs kamen wir auf Sir Walter Scott. Goethe war eben nicht sehr enthusiastisch für den großen Unbekannten eingenommen. Er zweifle gar nicht, sagte er, daß er seine Romane schreibe, wie die alten Maler mit ihren Schülern gemeinschaftlich gemalt hätten, nämlich, er gäbe Plan und Hauptgedanken, das Skelett der Szenen an, lasse aber die Schüler dann ausführen und retuschiere nur zuletzt. Es schien fast, als wäre er der Meinung, daß es gar nicht der Mühe wert sei, für einen Mann von Walter Scotts Eminenz seine Zeit zu so viel fastidiösen Details herzugeben. (Sir Walters offizielle Erklärung, daß alle jene Schriften von ihm allein seien, war damals noch nicht gegeben.) »Hätte ich«, setzte er hinzu, »mich zu bloßem Gewinnsuchen verstehen mögen, ich hätte früher mit Lenz und andern, ja, ich wollte noch jetzt Dinge anonym in die Welt schicken, über welche die Leute nicht wenig erstaunen und sich den Kopf über den Autor zerbrechen sollten, aber am Ende würden es doch nur Fabrikarbeiten bleiben.« Ich äußerte später, daß es wohltuend für die Deutschen sei, zu sehen, wie jetzt unsere Literatur die fremden Nationen gleichsam erobere, »und hierbei«, fuhr ich fort, »wird unser Napoleon kein Waterloo erleben«.
   »Gewiß«, erwiderte er, mein etwas fades Kompliment überhörend, »ganz abgesehen von unsern eignen Produktionen, stehen wir schon durch das Aufnehmen und völlige Aneignen des Fremden auf einer sehr hohen Stufe der Bildung. Die andern Nationen werden bald schon deshalb Deutsch lernen, weil sie innewerden müssen, daß sie sich damit das Lernen fast aller andern Sprachen gewissermaßen ersparen können. Denn von welcher besitzen wir nicht die gediegensten Werke in vortrefflichen deutschen Übersetzungen? Die alten Klassiker, die Meisterwerke des neueren Europas, indische und morgenländische Literatur, hat sie nicht alle der Reichtum und die Vielseitigkeit der deutschen Sprache wie der treue deutsche Fleiß und tief in sie eindringende Genius besser wiedergegeben, als es in andern Sprachen der Fall ist? Frankreich«, fuhr er fort, »hat gar viel seines einstigen Übergewichts in der Literatur dem Umstande zu verdanken gehabt, daß es am frühesten aus dem Griechischen und Lateinischen leidliche Übersetzungen lieferte, aber wie vollständig hat Deutschland es seitdem übertroffen!«
   Im politischen Felde schien er nicht viel auf die so beliebten Konstitutionstheorien zu geben. Ich verteidigte mich und meine Meinung indes ziemlich warm. Er kam hier auf seine Lieblingsidee, die er mehrmals wiederholte, nämlich, daß jeder nur darum bekümmert sein solle, in seiner speziellen Sphäre, groß oder klein, recht treu und mit Liebe fortzuwirken, so werde der allgemeine Segen auch unter keiner Regierungsform ausbleiben. Er für seine Person habe es nicht anders gemacht, und ich mache es in M... ja ebenfalls so, setzte er gutmütig hinzu, unbekümmert was andere Interessen geböten. Ich meinte nun freilich, mit aller Bescheidenheit, daß, so wahr und herrlich dieser Grundsatz sei, ich doch glaube, eine konstitutionelle Regierungsform müsse ihn eben erst recht ins Leben rufen, weil sie offenbar in jedem Individuum die Überzeugung größerer Sicherheit für Person und Eigentum, folglich die freudigste Tatkraft und zugleich damit die zuverlässigste Vaterlandsliebe begründe, hierdurch aber dem stillen Wirken in eines jeden Kreise eben eine weit solidere allgemeine Basis gegeben wurde, und führte endlich, vielleicht ungeschickt, England als Beleg für meine Behauptung an. Er erwiderte gleich, das Beispiel sei nicht zum besten gewählt, denn in keinem Lande herrsche eben Egoismus mehr vor, kein Volk sei vielleicht wesentlich inhumaner in politischen und Privatverhältnissen (hier habe ich meinen Freund fast in Verdacht, daß er Goethen nur seine eigene Meinung in den Mund gelegt hat); nicht von außen herein durch Regierungsform käme das Heil, sondern von innen heraus durch weise Beschränkung und bescheidene Tätigkeit eines jeden in seinem Kreise. Dies bleibe immer die Hauptsache zum menschlichen Glücke und sei am leichtesten und einfachsten zu erlangen.
   Von Lord Byron redete er nachher mit vieler Liebe, fast wie ein Vater von seinem Sohne, was meinem hohen Enthusiasmus für diesen großen Dichter sehr wohltat. Er widersprach unter andern auch der albernen Behauptung, daß »Manfred« eine Nachbetung seines »Faust« sei, doch sei es ihm allerdings als etwas Interessantes aufgefallen, sagte er, daß Byron unbewußt sich derselben Maske des Mephistopheles wie er bedient habe, obgleich freilich Byron sie ganz anders spielen lasse. Er bedauerte es sehr, den Lord nie persönlich kennengelernt zu haben, und tadelte streng, und gewiß mit dem höchsten Rechte, die englische Nation, daß sie ihren großen Landsmann so kleinlich beurteile und im allgemeinen so wenig verstanden habe. Doch hierüber hat sich Goethe so genügend und schön öffentlich ausgesprochen, daß ich nichts weiter hinzuzufügen brauche. Ich erwähnte zuletzt der Aufführung des »Faust« auf einem Privattheater zu Berlin, mit Musik vom Fürsten Radziwill, und lobte den ergreifenden Effekt einiger Teile dieser Darstellung. »Nun«, sagte Goethe gravitätisch, »es ist ein eigenes Unternehmen, aber alle Ansichten und Versuche sind zu ehren.«
   Ich grolle meinem schlechten Gedächtnis, daß ich mich nicht mehr aus unsrer ziemlich belebten Unterhaltung eben erinnern kann. Mit hoher Ehrfurcht und Liebe verließ ich den großen Mann, den dritten im Bunde mit Homer und Shakespeare, dessen Name unsterblich glänzen wird, solange deutsche Zunge sich erhält, und wäre irgend etwas von Mephistopheles in mir gewesen, so hätte ich auf der Treppe gewiß auch ausgerufen:
   Es ist doch schön von einem großen Herrn,
   mit einem armen Teufel so human zu sprechen.

   Ich glaube nicht, daß der erhabene Greis die Bekanntmachung dieser Mitteilung tadelnd aufnehmen wird. Jedes Wort, auch das unbedeutendere, seinem Munde entfallen, ist ein teures Geschenk für so viele, und sollte mein seliger Freund ihn irgendwo falsch verstanden und nicht vollkommen richtig wiedergegeben haben, so ist wenigstens nichts in diesen Äußerungen enthalten, was, meines Bedünkens, eine Indiskretion genannt werden könnte.

 

Pückler-Muskau, Hermann von
Briefe eines Verstorbenen
Band 2; Erstausgabe 1831; Nachdruck Berlin 1987

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!