Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1843 - Ernst Christoph Döbel
Mit der Kutsche nach Norderney

 

Indem ich immer weiter gen Norden zog, kam ich endlich bis an die Küste der Nordsee. Im Städtchen Norden fragte ich den Posthalter, ob ich wohl mit meinem Reisechaischen die Insel Norderney besuchen könne? Und erhielt zur Antwort, daß ich das nicht ohne einen zuverlässigen Boten riskieren solle, schon wegen Ebbe und Flut, die zur Minute wiederkehrend, mich leicht in Gefahr bringen könnten. Es machte sich aber anders. Abends kamen noch mehrere Fremde an, die mit der Post nach Norderney reisen wollten, und als ich im Begriff war, zu Bett zu gehen, sagte mir der Posthalter „Nun brauchen sie keinen Boten, indem einer meiner Leute mit den Fremden nach Norderney fährt. Schließen Sie sich diesem mit ihrem Einspänner an, so sind Sie außer aller Gefahr!“ Und so geschah es.
    Am folgenden Morgen fuhr der Postillon um sechs Uhr ab, und ich hielt mich mit meinem Wagen dicht hinter ihm. Nach zwei Stunden ereichten wir die Nordsee, in welche der Postillon ohne weiteres hineinfuhr. Ich folgte ohne Zögern. In der See waren, über eine halbe Stunde weit, Stangen mit Strohwischen in einer doppelten Reihe aufgestellt. Zwischen diesen Stangen mußte man hindurchfahren, und um dies möglich zu machen, war der Boden im Wasser aufgefüllt und erhöht worden. Da, wo diese Stangen aufhörten, war der Boden eben, wie in einer Stube, und das Wasser stand nur 4 – 6 Zoll hoch darüber. Auf dieser Meerstraße hat man noch dritthalb Stunden zu fahren, bevor man die Insel erreicht. Während ich nun dem Postwagen folgte, wurde ich gewahr, daß auf dem Grunde des klaren Wassers einige Muscheln lagen, und wie ich aus allen Meeren, die ich besucht, aus dem Mittelländischen, Adriatischen, Galiläischen, Roten und Schwarzen Meer, einige Muscheln mitgebracht hatte, so konnte ich es nicht unterlassen, auch aus der Nordsee einige mitzunehmen. Ich hielt also an und stieg aus, um die Muscheln aufzuheben. In dem Augenblick, wo ich mich zu diesem Zweck niederbücke, kommt ein Seekrebs an meinem Pferde vorüber, dieses wird scheu und nimmt reißaus. Gleichzeitig reißt mir der Wind die Mütze vom Kopfe und treibt sie in entgegengesetzter Richtung auf dem Wasser fort. Jetzt dachte ich an meinen treuen Pudel, den ich auf dieser Tour nicht mitgenommen hatte. Welchen Dienst hätte er mir durch Apportieren der Mütze leisten können! Während ich nun der Kopfbedeckung nacheile und diese auch glücklicher Weise bald wieder erhasche, rennt mein Pferd dem Postwagen nach, der inzwischen in Trab gesetzt worden war. Ein Glück, daß es keine andere Richtung einschlug! Ich laufe nun hinter meinem Wagen her, so, daß mir das Wasser immer über dem Kopf zusammenspritzt. Dabei pfeife und rufe ich dem Postillon, der mich aber wegen des mir gerade entgegen wehenden Nordwindes nicht hört. Bald hat mein Pferd den Postwagen eingeholt, hinter dem ich vorher fast eine Viertelstunde zurückgeblieben war. Zufälliger Weise sieht sich einer der der Passagiere um und wird gewahr, wie mein Chaischen leer hinter dem Postwagen herfährt, ich aber wie besessen durch das Wasser renne. Der Anblick mag wohl lächerlich genug gewesen sein! Durch diesen Herrn aufmerksam gemacht, hält der Postillon alsbald still und wartet, bis ich bei meinem Geschirr angekommen bin und mich wieder eingesetzt habe. Wir lachten alle herzlich über die glücklich abgelaufene Wasserpartie! Dann setzten wir unseren Weg bis zur Insel Norderney immer im Wasser fort.
    Auf der Insel, die nichts Interessantes bietet, hatten wir uns durch die Schuld des Postillons etwas verspätet, und weil die Flutzeit eintrat, so ging es nun Hals über Kopf der Küste zu. Ehe wir aber noch die tiefen Stellen erreichten, bemerkten wir schon, daß die Flut im Steigen war; auch sah man deutlich, wie einige Meilen von da, nach dem tiefen Meer zu, die Masten der Schiffe sich bewegten. Das Wasser stieg immer höher und umbrauste uns mit seinen Wogen. Da wir nun gerade an der tiefsten Stelle waren, passierte dem Postillon das Malheur, daß ein Strang zerrriß. Was war nun zu tun? Wir hatten den aufgefüllten Weg zwischen den Signalstangen erreicht. Ich fuhr wieder hinter dem Postwagen her. Um jedoch durch den Unfall nicht aufgehalten zu werden, und mit meinem leichten Fahrzeug von der steigenden Flut hinweggeschwemmt zu werden, versuchte ich, an dem Postwagen vorbeizukommen und diesen, wie die Kutscher sagen, „auszustechen“. Bei diesem Versuch kam ich jedoch vom aufgefüllten Wege ab und geriet so tief ins Wasser, daß dieses in den Kasten meines Chaischens eindrang. Ich lenkte schleunigst um, und glücklicher Weise gelang es mir, kurz vor dem Postwagen den erhöhten Weg wieder zu erreichen.
    Mit Zittern und Zagen hatte auch der Postillon einen neuen Strang angeknüpft, und wir hatten von Glück zu sagen, daß es uns nicht erging wie weiland dem König Pharao berüchtigten Angedenkens, der bei seiner rachgierigen Verfolgung der Kinder Israel mit Mann und Maus im Toten Meer jämmerlich ersaufen mußte.
    
Döbel, Ernst Christoph
Des Wanderers im Morgenlande Erlebnisse in der Heimath
2. Auflage, Berterode (Selbstverlag) 1862

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