Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1899 - Frederick Cook, Schiffarzt auf der Belgica
Nach der ersten Überwinterung in der Antarktis: Dem Packeis entkommen

 

Gegenwärtig ist genügend offenes Fahrwasser in langen Kanälen vorhanden, und alle an Bord, vom Kommandanten bis zum Schiffsjungen, sind von dem Wunsche beseelt, dasselbe zu erreichen. Aber bisher haben wir nichts unternommen, das Schiff frei zu machen. Es ist ja wahr, unsere Leute haben mehr als genug damit zu thun, die Belgica nach ihrem Winterschlafe für die bevorstehende Seefahrt klar zu machen. Aber dazu findet sich noch Zeit genug während der vielen Tage, die wir brauchen werden, bis wir uns aus dem Packeis hinausgearbeitet haben. Wenn wir uns nicht selbst helfen, dann ist es, so wie die Dinge jetzt liegen, mehr als wahrscheinlich, dass wir noch einmal in dem Packeise überwintern müssen. Ich machte gestern dem Kommandanten diesbezügliche Vorschläge. Ausgehend von der Thatsache, dass die Sonne auf Wasser und auf dunkelgefärbte Gegenstände viel intensiver wirkt, als auf Schnee, sollten zunächst zwei Gräben ausgehoben werden, der eine vom Bug der Belgica, der anderer vom Heck beginnend, und beide sollten bis zu dem Rand des Eisfeldes in das offene Wasser führen. Diese Gräben sind durch den Schnee und durch die oberflächliche, aus Süsswassereis bestehende Schicht zu legen, so dass vom Schiffe bis zu dem offenen Kanal ein schmaler Wassergraben gebildet würde. Hoffentlich wird dann die Sonne das übrige thun und das Eis in dieser Richtung zum Ruch bringen. Sonst steht zu befürchten, dass die Spaltung, wenn sie überhaupt eintrifft, vielleicht auf der anderen Seite, eine Meile von uns weg erfolgt, und dann wäre unsere Lage nicht um ein Haar besser als jetzt.
   12. Januar. Die Gräben sind fertig Drei Tage lang haben wir ganz unmenschlich gearbeitet. Mit Hacken, Äxten und Schaufeln haben wir die Gräben ausgehoben, kaum dass wir uns Zeit zum Essen und Schlafen nahmen; wir konnten es fast nicht erwarten, bis unser Werk fertig wurde. Jetzt, nachdem die Arbeit vollendet ist, stellt sich heraus, dass unsere Mühe umsonst war. Die Sonnenwärme ist jetzt um Mitternacht so schwach, dass sich über Nacht eine dicke Schicht junges Eis ansetzt, welches in der Wärme des folgenden Tages nur zum Teil wieder abschmilzt. Hätten wir unseren Plan im Dezember ausgeführt, so wäre das Resultat befriedigender ausgefallen; jetzt ist es zu spät.
   Nachdem die Gräben ausgehoben waren, schlug ich als letztes Mittel vor, von der Belgica aus bis zum Rande des Eisfelds einen Kanal durch das Eis zu sägen. Um nicht noch einmal von vorne anfangen zu müssen, benützten wir die bereits angelegten Gräben und führten die Säge in derselben Richtung. In der vergangenen Nacht begann das Sägen, und anfangs ging die Arbeit flott von statten. Bei näherer Prüfung mittels Bohrlöcher merkten wir jedoch, dass die für den Kanal gezogene Linie zwar die kürzeste war, dass sie aber an verschiedenen Stellen über Eis führte, welches sich fünfzehn bis fünfundzwanzig Fuß tief unter Wasser erstreckte. Da wir aus Erfahrung wussten, dass es nahezu unmöglich ist, Eis von mehr als sieben Fuss Dicke zu durchsägen, nahmen wir unsere Sprengversuche mit Tonit wieder auf, einem Explosivstoff, der wirksamer und weniger gefährlich als Dynamit sein soll. Weniger gefährlich ist er allerdings; über seine Wirkung können wir nicht urteilen, denn wir haben keine gesehen.
   Vor zwei Monaten noch schworen wir alle auf das Tonit. Wir hatten einen reichlichen Vorrat davon an Bord und glaubten, damit die Eisfesseln der Belgica in Atome zersprengen zu können. Unser Vertrauen kam aber schon nach den ersten Versuchen ins Wanken. Bei unserem Respekt vor dem Stoff gingen wir im Anfang nur mit der größten Sorgfalt mit ihm um, betteten ihn vorsichtig auf einen Schlitten, den wir an einem langen Seile nachzogen, und wählten für die erste Sprengung eine Stelle aus, die nahezu zwei Meilen von der Belgica entfernt lag. Damals war das Schiff noch nicht seeklar, und wir hielten es nicht für rätlich, das Eis in unmittelbarer Nähe des Schiffes zu sprengen. Auch fürchteten wir die „große Gewalt“ des Tonit und glaubten, das ganze Eisfeld müsste in tausend Splitter geborsten in die Luft fliegen, und unser Deck könnte durch die herabfallenden Trümmer beschädigt werden. Bei näherer Bekanntschaft mit dem Tonit jedoch schwand das Vertrauen und mit ihm die Furcht. Wir müssen lachen, wenn wir die übertriebenen Vorsichtsmassregeln bei den ersten Versuchen zurückdenken. Wir hatten das Tonit weit weg vom Schiff versenkt und mit einer langen Zündschnur versehen, damit wir rasch genug in Sicherheit und aus dem Bereiche der voraussichtlichen Sprengwirkung uns retten könnten. Die Explosion erfolgte denn auch unter starkem Gezisch und mit einer mächtigen Flamme; von sonstiger Wirkung war nur eine Rauchwolke in der Luft und an der Explosionsstelle viel Russ und ein Loch im Schnee zu entdecken. Nichts war geborsten, nicht ein Sprung zeigte sich in dem Eise, und wir standen eine halbe Meile weg hinter einem Hummock [Eishügel], zitternd vor Furcht, das Eis könnte sich so spalten, dass wir von der Belgica abgeschnitten wären. Bei den folgenden Experimenten waren wir schon kühner und legten die Sprenglöcher in grösserer Nähe des Schiffes; aber wir fanden, dass bei Temperaturen unter -10°C das Tonit nur eine sehr schwache Explosionswirkung äussert, so dass unser Maschinist angesichts der schönen Feuerflamme vorschlug, statt zu Sprengzwecken es mit Vorteil zur Dampferzeugung zu verwenden. Wir haben so ziemlich alle die Hoffnung aufgeben, die Belgica durch Tonit zu befreien. Wir haben überhaupt die Ansicht gewonnen, dass das Tonit unfähig ist, irgend welchen Schaden anzurichten. Anstatt dasselbe, wie vor ein paar Monaten, mit äussester Sorgfalt zu verwahren, liegt es jetzt in unseren Betten, auf dem Tische und in allen Winkeln der Kajüte, auf dem Tische und in allen Winkeln der Kajüte herum. Nur Lecointe und Racovitza haben noch einiges Zutrauen zu der Sprengkraft des Tonit. Bevor wir uns an die anscheinend unmögliche Arbeit, einen Kanal durch das Eis zu sägen, machen, soll das Tonit noch einmal auf seine Sprengwirkung geprüft werden.
   Gestern und heute wurde eine Anzahl von Versuchen angestellt, aber: „das Tonit wird das Eis nicht brechen“, das ist allgemeine Ansicht. Wenn wir die Freiheit erlangen wollen, müssen wir sie erringen durch eigene Kraft, mit Säge und Axt. Wir haben schon vor mehreren Tagen vorgeschlagen, den Kanal auszusägen. Der Vorschlag stiess jedoch auf starken Widerspruch. Es wurde uns entgegengehalten, man könne nicht die ganze verfügbare Arbeitskraft hierauf verwenden, und der Erfolg sein sehr zweifelhaft. Die Sägversuche an den Gräben zeigten jedoch, dass sich schon etwas erreichen ließe, und bei der Ungeduld der Leute war vorauszusehen, dass sie alle Kräfte aufbieten würden, wenn sie nur einmal für den Plan gewonnen wären. Das vollständige Misslinge der Sprengversuche mit dem Tonit zwang uns, die Arbeit in den alten Gräben als aussichtslos aufzugeben, da Eis von mehr als sieben Fuss Dicke für uns ein unüberwindliches Hindernis bot. Gerlache hat nun vorgeschlagen, eine alte Rinne, die quer unter dem Heck des Schiffes verlief, aufzusägen, da dieselbe voraussichtlich am wenigsten durch Eisverdickung verlegt war. Eine sorgfältige Sondierung der Rinne ergab eine durchschnittliche Eisdicke von ca. 5 Fuss; sie war zwar etwas länger als unsere Gräben, aber nach sorgfältiger Prüfung aller Chancen erschien dieser Weg als weitaus der beste. Der Plan wurde denn auch mit einer Sorgfalt durchgearbeitet, als ob wie den Nicaragua-Kanal bauen müssten, und jede Eventualität wurde von den Führern eingehend besprochen. Als das Projekt zur Ausführung reif war, teilten wir uns in drei oder vier Gruppen, und jedermann, vom ersten Offizier bis zum Schiffsjungen, machte sich mit Säge und Axt an das Werk.
   Die Arbeit an dem Kanal begann am 11. Januar abends und wurde ununterbrochen Tag und Nacht fortgesetzt, bis das Schiff frei war. Die Länge des Kanals betrug etwa 2200 Fuss. Die beiden zu sägenden Längsschnitte und die erforderlichen Querschnitte hatten eine Gesamtlänge von gut anderthalb Meilen. Die oberen Eis-  und Schneeschichten liessen sich mit Schaufeln, Hacken und eigens zu diesem Zweck angefertigten Werkzeugen bis zu einer Tiefe von einer bis zwei Fuss abheben. Es blieb somit noch eine drei bis vier Fuss dicke Schicht festen Eises zu durchsägen. Wir arbeiteten daran Tag für Tag, acht Stunden täglich wie Taglöhner. Niemals hat jemand fleissiger und emsiger gearbeitet; wir waren unserer sechzehn, Offiziere und Matrosen arbeiteten Seite an Seite, keiner drückte sich. Unser Proviant reichte höchstens noch auf drei Monate. Wir wurden deshalb auf verminderte Rationen gesetzt, hatten aber einen reichlichen Vorrat von Robben- und Pinguinfleisch, wozu noch die tägliche Beute kam, welche wir aus unserm Kanal gewannen. Wir verzehrten mit wahrem Heisshunger unsern fischigen Pinguinbraten, und je länger der Kanal wurde, desto grösser wurde unsere Kraft und unser Eifer.
   23. Januar. Wir schaffen noch fest an dem Kanale, welcher der Belgica zur Freiheit verhelfen soll. Acht Stunden täglich sind wir an der Arbeit, mit Ausnahm des Koches, der zwanzig Stunden täglich zu thun hat, denn ausser seiner eigenen Arbeit verrichtete er noch die des Schiffsjungen und Stewards. Das Werk schreitet bei der Lust und dem Fleiss, mit welchem die Leute zugreifen, über Erwarten rasch vorwärts. Da braucht es keine Mahnung, keinen Befehl, keine Aufsicht. Der Plan und die Arbeit ist gegeben, jeder ist an seinem Platz und arbeitet mit fast übermenschlicher Kraft darauf los. Der Kommandant, der Kapitän und der erste Offizier, der Meteorologe ebensogut wie der Zoologe und der Doktor arbeiten wetteifernd mit den Matrosen am gemeinsamen Werke. „Hier gibt es,“ wie der Meteorologe bemerkte, „keinen Kommandanten, keinen Kapitän, keine Offiziere; wir sind einfach Arbeiter, einer wie der andere.
   Ich hatte diese Woche wenig Zeit zum Schreiben. Wenn man acht Stunden täglich in einer beinahe halbkreisförmig gebückten Stellung mit einer schweren Säge hantiert, dann fühlt man sich nichtmehr zu literarischer Thätigkeit aufgelegt. Nichtsdestoweniger ist diese Arbeit eine ausgezeichnete Körperübung. Wir alle fühlen uns durch sie gekräftigt und unsere Muskeln schwellen. Die Haut ist verbrannt und sieht aus wie altes Sohlleder. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass es für die Hände besser ist, wenn wir sie nicht waschen, namentlich nicht mit Seife, weil sie sonst springen und schmerzen. Infolge dessen gibt unsere äussere Erscheinung an Wildheit der eines Indianers nichts nach, aber daraus machen wir uns nichts. Damen, denen wir gefallen sollten, sind nicht vorhanden, und so haben wir alle Eitelkeit abgelegt und haben für nichts anderes Sinn als für die Befreiung unseres Schiffes. Diese scheint uns nun vollkommen gesichert zu sein. Wir entwickeln einen Appetit wie die Bären und essen zweimal täglich Robben- und Pinguinfleisch, wobei jeder drei, vier und fünf Portionen verschlingt. Wir nehmen uns täglich Zeit für nicht weniger als sieben Mahlzeiten, und unser Magen ist damit einverstanden. Vom Sonntag morgens 4 Uhr bis Montag vormittags 8 Uhr wurde die Arbeit vollständig ausgesetzt. Während dieser Zeit schliefen wir nicht weniger als 36 Stunden; unser täglicher Schlaf dauerte, so lange wir am Kanal arbeiteten, durchschnittlich zwölf Stunden, während wir vor dieser Zeit kaum acht Stunden schlafen konnten.
   Am 1. Februar war der Kanal auf eine Strecke von hundert Fuss von der Belgica aus fertig. Das Eis, welches jetzt noch zu durchsägen war, hatte eine Dicke von sechs bis sieben Fuss, und war so hart, dass die Säge kaum eindrang. Einmal sägten wir acht Stunden und kamen nicht ganz fünf Fuss vorwärts. Während wir uns noch den Kopf zerbrachen, um neue Mittel zum Zerteilen dieses Eises auszudenken, schlug der Wind um und gab der Trift eine andere Richtung. Infolge des starken Druckes entstand in unserer Scholle in unmittelbarer Nähe des Kanals eine neue Spalte, die um das Schiff herum bis an den Rand des Eises verlief. Während sich so eine neue Strasse öffnete, trieb die Scholle so unglücklich ab, dass sie unseren Kanal teilweise verlegte. Dieses plötzliche und unerwartete Ereignis, das uns um die Frucht unserer Arbeit brachte, noch ehe sie vollendet war, bereitete uns eine grosse Enttäuschung, und Verzweiflung malte sich auf jedem Angesicht. Jetzt war nicht blos der Kanal wertlos geworden, die Belgica noch dazu einer gefährlichen Pressung ausgesetzt. Um sie dagegen zu schützen, sägten wir eine längliche Öffnung in die Hauptscholle in der Absicht, darin das Schiff wie in einem Hafen zu bergen. Das gelang uns am 13. Abends; unser Kanal war aber inzwischen durch das neue Eis und durch die Schiebung der anliegenden Schollen so gründlich versperrt, dass ein Entkommen nicht zu denken war. Am Morgen des 14. Schlug der Wind neuerdings um, das Eis lockerte sich überall, breite Rinnen öffneten sich nach allen Seiten; auch unser Kanal wurde wieder frei. Nun war keine Zeit mehr zu verlieren, und mit Volldampf ging es hinaus. Nie war ein Häuflein Menschen glücklicher als die Offiziere und die Mannschaft der Belgica in dem Augenblick, wo unser gutes, altes Schiff von dem letzten Rand der Eisscholle abstiess, in deren Gefangenschaft es ein Jahr lang geschmachtet hatte.


Cook, Frederick A.
Die erste Südpolarnacht 1898 - 1899
Kempten 1903

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