Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1831 - Hans Christian Andersen
Sonnenaufgang auf dem Brocken

 

Es war ungefähr halb drei Uhr, als eine Magd mich rief, um die Sonne aufgehen zu sehen; die meisten waren schon draußen, in Mäntel und Überzieher eingehüllt. Mit Tüchern um den Kopf gebunden stand die wunderlich bunte Menschengruppe aus höchst verschiedenen Ständen, aber alle mit einem Gedanken da: „Jetzt geht die Sonne auf!"
   Es war, als ob wir auf einer Insel ständen, denn die Wolken lagen tief unter uns, so weit wir sehen konnten, wie ein ungeheures, angeschwelltes Meer, das mit einem Mal außer aller Bewegung gesetzt war. Kein Morgenrot zeigte sich an dem blauen Himmel über uns; die Sonne ging auf ohne Strahlen, wie eine große blutige Kugel; erst als sie über dem Horizonte war, strömte das klare Licht über das Wolkenmeer aus.
   Unser alter Schulmeister stand mit gefalteten Händen da, sagte lange kein Wort, lächelte aber ganz zufrieden; endlich rief er aus: „Wenn ich doch Mütterchen und die Kinder hier hätte und die alte Anne (ihr Dienstmädchen), die würden sich bis in ihre innerste Seele freuen! Du lieber Gott, hier wäre ja Platz genug für sie alle zusammen. Das fällt mir doch jedes Mal ein, wenn ich so etwas recht Schönes sehe; hier wäre nun so schön Platz für so viele gute Freunde; wenn die doch hier wären und es mit genießen könnten!"
   Als die Sonne höher stieg, fingen die leichten Wolken immer mehr an wegzudampfen, der Äther sog sie gleichsam ein, während der Wind die schweren zwischen die Berge jagte, die jetzt wie Inseln aus dem großen Wolkenmeer hervorragten. Bald ward alles immer klarer und klarer, wir sahen Städte und Kirchtürme, Felder und Wiesen wie die niedlichsten Miniaturgemälde um uns herum. Einen so herrlichen Morgen hatte man in diesem Jahr noch nicht auf dem Brocken gehabt. Wir sahen deutlich Magdeburg mit seinen Türmen, Halberstadt und Quedlinburg, die Türme der großen Domkirche zu Erfurt, die Bergschlösser Gleichen und die Wilhelmshöhe bei Kassel, außer einer Menge kleiner Städte und Flecken.
Ich kletterte auf den sogenannten Hexenaltar und die zehn Fuß höhere Teufelskanzel hinauf, trank von dem eiskalten Wasser, das aus dem Hexenbrunnen quillt, bekam einen Brockenstrauß, den eine der Mägde mir an die Mütze heftete, sagte den neuen Bekannten von hier oben Lebewohl und namentlich dem guten alten Schulmeister, dem die Gesellschaft hier so gut gefallen hatte, daß er mich und alle bat, sich erst in sein Stammbuch einzuschreiben, damit er den Seinen zu Hause alle die fremden guten Menschen zeigen könne, mit denen er hier zusammen gelebt, und dann trennten wir uns.

 

Andersen, Hans Christian
Reiseschatten 1831
Entnommen aus: Romantische Harzreisen, herausgegeben von Rolf Denneke, Hildesheim 1987

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!