1905 - Leo Frobenius, Völkerkundler
Die Schrecken der Station Kabeja
Congo
Also waren wir in Kabeja, dem südöstlichsten Posten der Kassaikompanie im Kassailande angelangt. Ich mußte mich aber mehrmals fragen, ob das, was da vor mir lag, wirklich einen Kompaniestation sein könne. Auf einer mächtigen, absolut kahlen Waldlichtung lagen einige kleine Strohhäuser nebeneinander. Auf dem Platze war kein Blatt, keine Blüte, keine Pflanze zu sehen, nichts, gar nichts sprach von einem Kulturvolk, das sich hier angesiedelt habe. Es waren nichts weiter als Hütten, wie sie etwa die Kioque bauen, ein aus Stroh gebildetes Satteldach, fast ohne Veranda und nur mit einem kleinen Dachschutz über der Tür ausgestattet. Die Häuser waren nicht einmal so groß wie die Hütten der Pianga, und auch nicht annähernd so zierlich und stilvoll gebaut wie diese. Die Hütten hatten nicht einmal Türen. Es war der ödeste Anblick, den meine Augen in Afrika hatten. Das war der erste Eindruck, den wir gewannen, und der durchaus den Erfahrungen, die wie hier machen sollten, entsprach.
Wir wurden zunächst von dem sehr überraschten jungen Herrn Bohun, dem Adjoint der Faktorei, aufgenommen. Wir erfuhren, daß Herr Labryn, der Vorstand der Faktorei, „erholungshalber“ im Inlande weile. Als er einen Tag später eintraf, wußte er sogleich mit der Gewandtheit des früheren Offiziers die Honneurs zu machen. Während des zweiten Aufenthaltes der Expedition in Kabeja haben wir persönlich nur Liebenswürdiges von dem Herrn erfahren, und bei Herrn Labryn kam nur bei nichtssagenden Gelegenheiten die Rohheit eines egoistischen und falsch erzogenen Charakters zum Durchbruch. Immerhin verlangt es die Gewissenhaftigkeit des Geschichtsschreibers, daß ich, hier jene fürchterlichen Zustände schildere, die wir in diesem Lande trafen, und die in dem Totschlag eines verhältnismäßig harmlosen Negers gipfelten. Lange habe ich überlegt, ob ich auf diese Ereignisse eingehen sollte. Hätte ich nach meiner Rückkehr die Erfahrung gemacht, daß bei dem Staat und der Kompanie wirklich das Bestreben vorhanden ist, in rückhaltloser Zugabe mangelhafter Zustände entsprechende Ratschläge entgegenzunehmen, wenn ich nicht im Gegensatze hierzu zu der Überzeugung gekommen wäre, daß hier alle oberen Instanzen bemüht sind zu vertuschen und die Gerechtigkeit nur dann walten zu lassen, wenn es die direkten Vorteile verlangen, - dann würde ich über alles das mit Stillschweigen hinweggegangen sein. Ich habe aber ganz andere Erfahrungen gemacht. Das ganze System beruht auf einem trüben Utilitarismus. Während die Kompanie mit äußerster Strenge gegen diejenigen ihrer Beamten vorgeht, die ihre Warenlager bestehlen oder die eine falsche Buchführung haben oder sie sonstwie die Handelsvorteile schädigen, - während die Kompanie in solchen Fällen rücksichtslos vorgeht, begnügt sie sich mit einfacher Verabschiedung derjenigen Leute, die sich derartige Gewalttätigkeiten zuschulden kommen lassen. Ich schicke hier voraus, daß ich alle Mißstände, die ich kennenlernte, der Kompanie mitteilte, daß die Kompanie sich aber nie entschloß, in der gewünschten Weise vorzugehen oder die Mißstände zuzugeben, auch dann nicht, wenn ich das Beweismaterial vorlegte. Ich gehe somit auf die Schilderung der hiesigen Verhältnisse ein.
Das ganze Grundgebiet der Kassaikompanie ist für die Verwaltungsszwecke in ungefähr vierzehn verschiedene Abteilungen, sogenannte Sekteure, gegliedert. Jeder derartige Sekteur hat einen Chef, der die einzelnen Faktoreien bereist. Die Produktion der einzelnen Gebiete an Kautschuk ist eine sehr verschiedenartige. Die besten Agenten bekommen die produktionsriechsten Gebiete, die schlechtesten die ärmeren. Es geschieht das, weil die Angestelltn ja nur ein geringes Salär erhalten und ihre eigentlichen Einnahmen in prozentualem Gewinnanteil an der Kautschukproduktion der ihnen zu Ausnutzung angewiesenen Komplexe bestehen. Somit muß ein guter Agent diejenigen Gebiete erhalten, in denen viel Kautschuk gewonnen wird, während ein schlechter Agent oder ein solcher, welcher eine Strafe verdient, in ein Gebiet versetzt wird, welches wenig Kautschuk liefert. Ich sende das voraus, weil es für das Verständnis der Verhältnisse in diesem Gebiet notwendig ist, daß der Leser mit den allgemeinen Einrichtungen vertraut ist.
Djoko Punda, Golongo und Kabeja stellen das Arbeitsgebiet des Secteur Huit (acht) dar. Es ist die Abteilung der geringsten Produktion an Kautschuk und dementsprechend nach dem soeben gegebnenen Modus der am schlechtesten besetzte, d. h. die Agenten, die in diesem Gebiet arbeiten sind die am wenigsten geschätzten. Zur Zeit war Herr Konings der Chef de Secteur. Der Inspekteur sagte von ihm, er sei zur Strafe schon einmal von Dima nach dem Norden versetzt und nur in diesem Gebiet noch erhalten worden, weil er früher in den Pflanzungen Lacourt gearbeitete habe. In der Tat war Herr Konings so wenig geeignet für eine solche Stellung wie nur irgend denkbar. Er hatte aber ein Talent (und das soll ja nicht nur in Brüssel Vorteile bringen): er konnte außerordentlich geschickt Geschichtchen erzählen und war ein beliebter Causeur. Vor Konings war der schon mehrfach erwähnte Herr Bertrand der Leiter dieser Abteilung. Von ihm wurde mir in Dima gesagt, daß er von der Kompanie gehalten würde, weil er in Brüssel einen Bruder habe, der ein sehr tüchtiger Arzt sei. Ich berichtete schon oben, wie geschickt dieser Herr Betrand die Station Gologo angelegt hat. Ich erwähnte, was die Eingeborenen von ihm erzählen, und wie er sich durch die Drohungen des gemüthlichen Herrn Kassimba veranlaßt sah, seine Absichten zu ändern. Nachdem Herr Betrand bei dem ersten Betreten dieses Landes solche Beweise von Energie gegeben hatte, marschierte er zu dem Chef Kabeja, den wir später kennen lernen. Kabeja wies denjenigen Platz für die Station an, auf dem sie wirklich erbaut wurde. Ebensowenig wie er bei der Gründung von Golongo Bedenken trug, dachte er daran, das Terrain von Kabeja zu untersuchen, ob nicht ein günstigerer Platz ausfindig zu machen sei. Nun ist der Platz, auf dem die Station damals stand, derartig von weißen Ameisen beheimatet, daß sich kein anderes Ding auf dem Erdboden befinden darf als Eisen. Die Kolben der Stationsgewehre waren in Kabeja weggegfressen, ganze Stoffballen wurden durchbohrt: mit durchbohrte eine Ameisenkolonne in zwei Nächten ein oben der Wand hängendes Lederfutteral, und nächtlich erklang die Hütte von dem regelmäßig schwingenden Brausen, das die rhythmischen Arbeiten der Tiere begleitet. Nie sah ich annähernde Termitüberhäufung. Stets habe ich gefunden, daß sie lokal und nie weit ausgedehnt waren. Man konnte bei der Auswahl der Stationslage einen solchen Platz durchaus vermeiden. Aber der Witz war der, daß, wie mir die Leute nachher erzählten, der Häuptling Kabeja das Elend dieser Stelle sehr wohl kannte, und daß er den Platz Bertrand eben deswegen anwies. Denn Kabeja hat einen schauderhaften Charakter. Er ist ein infamer, intriganter Patron. So kam es denn, daß Herr Betrand sich von den Bapende das Fieberloch Golongo und von den Baschiulange das Termitenloch Kabeka anwiesen ließ. Dabei will ich ganz außer Acht lassen, daß die Gründung der Station hier im Inlande ziemlich sinnlos war. Der Kassai ist nämlich von der Kambambaimündung an bis etwa zum Einfluß in den Tschikappa durchaus schiffbar. Es ist dem Herrn Betrand auch ein Stahlboot zur Verfügung gestellt worden. Unverständlicherweise hat er es aber abgelehnt. Statt dessen bürdete er seinem Sekteur die große Schwierigkeit der Trägerbeschaffung bei den unliebenswürdigen Bapende auf. Es war auch dumm von ihm, denn der Transport mit dem Stahlboot ist viel billiger, und der Herr Bertrand hätte entschieden höhere Einnahmen erzielt. Mit dem Stahlboote konnte er nicht nur auf dem Kassai fahren, sondern er konnte auch ziemlich weit hinauf in den Lauf des Luvoa und Tschikapa Schiffahrt treiben. Demnach wäre es selbstverständlich gewesen, diese Station an das Ende der Schiffahrt, also in das südlichste Bapendedorf zu verlegen.
Nach der Gründung der Station Kabeja herrschten daselbst fürchterliche Zustände . Es waren Herr Bertrand als Chef de Secteur, Herr Labryn als Gérand und ein Herr Franzmann als Adjoint ansässig. Die Szenen, die sich hier abspielten und welche die Herren mir selbst geschildert haben, waren ungeheurliche. Man schätzte stärkere Getränke über alles. Oft trat nach längerem Gelage eine derartige Betrunkenheit ein, daß einer der Herren den andern immer durch einen schwarzen Posten beaufsichtigen ließ. Eine ganz ungeheure Komik nahm die Geschichte nach der berühmten Februarschlacht an dem Luebo, nach welcher zwischen Bertand und Labryn äußerste Feindschaft ausbrach. Die beiden Herrn aßen nun zwar noch zusammen, aber der eine hatte ständig einen Revolver neben seinen Teller gelegt und der andere einen Karabiner an den Stuhl gelehnt. Offenbar kannte jeder dieser Helden den anderen zur Genüge, um im Bewußtsein der innerlichen Harmlosigkeit in törichter Weise mit den Waffen zu spielen. Daß solches Zusammenleben nicht nur Angelegenheit der inneren Stationsverhältnisse bleiben konnte und vielmehr bald auf die ganze Umgebung zurückwirken mußte, ergibt sich von selbst. Die Herren hatten bald Streit mit Kassimba. Sie wurden im Westen beim Vordingen nach Tschikassa mit Pfeilschüssen zurückgeworfen, wurden nach Labryns Bericht zweimal bei Mai Munene, als im Süden, beschossen und wurden im Osten die Opfer der berühmten Februarschlacht am Luebo, die ich nun schon so oft werähnt habe, daß es wohl nötig wird, sie näher zu schildern. Meine Schilderung beruht nicht nur auf den Angaben der Schwarzen, sondern auch denen der wenigen Europäer, welche diese Länderstrecken bewohnen, und die der Leser ja im Laufe der Zeit alle kennen gelernt hat.
Der Beginn dieses Gefechts ist mir etwas mystisch. Bertand hatte inel in großrednerischer Weise dem Direktor Dreypondt gegenüber geäußert: „Ich komme ohne Gewehre von Kabeja nach Luluaburg, mir wird Kalamba nichts tun.“ Zwar warnte der Direktor den Herrn Bertrand, doch der hielt seine Absicht aufrecht – wenigstens vor der Welt – , in Wirklichkeit nahm er, als er den großen Zug anhob, ordentlich Gewehre mit. Mitte Februar 1905 (also im Anfang des Jahres, als ich diese Länder bereiste, zogen die Herren Bertrand und Labryn von Kabeja nach Osten ab. Die Asrüstung der Expedition war eine außerordentlich bezeichnende. Sie hatten nämlich 10.000 Zigaretten bei sich, ferner zehn moderne grüne Anzüge, einen Gammophonapparat, große Photographialben, das Archiv von Kabeja, u.s.w. Sie hatten sich so ausgerüstet, um – wie Labryn mir gegenüber sich ausdrückte – in Luluaburg „anständig“ auftreten zu können.
Was sich am Abend des 22. Februar 1905 in einem am linken Ufer des oberen Luebo gelegenen, an diesem Tage erreichten Orte ereignete, weiß ich nicht. Die Eingeborenen erzählen von Trunkenheit und Streit. Aber erst mit dem Morgen des 23. Februar beginnt mein authentischer Bericht. Die Herren nahmen in früher Morgenstunde das Frühstück. Der Häuptling des Dorfes sagte zu Bertrand: „Mir hat geträumt, daß euch die Leute heute angreifen werden.“ Bertrand achtetenicht darauf. Die Expedition brach auf, und zwar – welche wunderbare Unkenntnis afrikanischer Verhältnisse! – die Herrren voran, die Träger hinterher. Der erste Satz beim Wandern in unbekannten oder unsicheren . Gegenden ist aber stets: bei der Ankunft Herren voran, Träger hinten, beim Abmarsch Träger vorn, Herren hinterher. Die Weißen müssen stets mit ihrem Prestige die Kolonne decken.
Also die Herren gingen voran. Der ganze Train zog sich den Hügel hinab in langer Reihe. Da platzte vom Dorfe aus der erste, der zweite Schuß. Es folgte eine ganze Salve. Und nun, Weltgeschichte, sperre deine Ohren auf. Der eine der beiden Bahnbrecher ruft; „Werft die Ware und alles zu Boden, nicht schießen! Wenn Ihr nicht schießt, tun sie uns nichts!“ Der andere Held, der verflossene Offizier, reißt die die Finger reich schmückenden Ringe herunter, unter denen sich wertvolle Famillienerbstücke befanden, wirft sie den bösen schwarzen Negern zu und ruft: „Nehmt alles, nur laß mich am Leben!“ – Ja, das war der frühere Offizier – Das Göttliche bei der Komödie ist, daß die Armee der beiden Weißen außer dem Übergewicht von zwei Europäern fünfunddreißig ganz gute Gewehre hatte, während der schwarze angreifende teuflische Feind nur über zwanzig verfügte, von denen noch zehn lediglich Steinschloßflinten waren. Es fiel eine Frau. Verwundet war ein Boy. Dieser kam allerdings glücklich wieder, aber nie hat sich ein Beamter der Kompanie um den armen Kerl, der noch monatelang sein Stück Beli im Bein hatte, gekümmert.
Die beiden Europäer flohen Hals über Kopf, ohne sich umzusehen, nach Kabeja zurück. Das ist der Verlauf der berümten Februarschlacht am oberen Luebo.
Selbstverständlich setzten dieses Verhalten und der Verlauf der Geschichte dem schlechten Einfluß und dem Mikredit der Europäer die Krone auf. Schlimm war es, daß hierbei weder der Staat eine Untersuchung anstellte, noch daß die Kompanie etwas zur Rehabilitierung ihres Ansehens unternahm. Ich hatte sehr darunter zu leiden, denn entweder versuchten die Eingeborenen, uns so schäbig zu behandeln, wie sie sich den Agenten der Kompanie gegenüber benahmen, die sich nach ihrer Ansicht alles gefallen ließen, oder die Neger betrachteten unsere Kolonne als eine Strafexpedition, die das Unglück der Februarschlacht zu vergelten habe. Jedenfalls erlitten wir dadurch vielerlei Unbilden.
Und doch war das noch nicht das allerschlimmste, was ich unter den jungen Herren der Kassaikompanie in diesen Gegenden erlebte. Die Agenten erachteten sich für vollkommen sicher und erzählten mir alle, daß ihr Distrikt viel zu entlegen sei, als das etwa ein Inspekteur oder gar der Direktor einmal auftauchen könne. So schlugen sie denn das System der Portugiesen ein, das in der Kompanie angeblich verpönt ist, das ich aber vielfach angetroffen habe, um die Kautschukproduktion zu erhöhen: es handelt sich um das System der Kapitaaussendung. Kapita werden diejenigen Leute genannt, die einzeln oder zu zweien in das Inland wandern und sich bei den eigentlichen Eingeborenen einquartieren. Etwa jeden ersten im Monat kommen sie auf der Station der Gérands zusammen, liefern den Kautschuk ab und nehmen Ware dafür in Empfang. Das System ist nicht schlecht, aber es hat eine schwache Seite: der wunde Punkt liegt in der Institution des „Vorschusses“: Wenn der Gérand nämlich den Kapita das erste Mal aussendet, so gibt er ihm ein gewisses Quantum Waren und sagt: „Jetzt geh unter die Eingeborenen und tausche Kautschuk hierfür ein. Du mußt das und das Quantum bringen.“ Nun ist der Kapita ja im allgemeinen von intelligentem Schlage, aber er ist doch ein sehr jugendlicher Neger und nicht genügend vorgebildet, um sich darüber klar zu sein, daß er die Verantwortung für diese Ware übernommen hat. Leichtsinning, wie der Sohn der roten Erde ist, wird er zunächst einmal von diesem Besitztum „flott leben“. Kommt dann der Zeitpunkt, wo er seinen Kautschuk abliefern muß, so hat er entweder gar keinen eingehandelt oder er hat zu wenig. Denn zunächst hat er für dies „Besitztum“ nicht Kautschuk, sondern gemeiniglich Frauen gekauft. Ist er ein intellligenter und kräftiger Kerl, der infolge seiner Intelligenz über die etwas weniger veranlagten Eingeborenen meistens eine gewisse Suprematie gar bald ausübt, so erzwingt er von den Eingeborenen den Kautschuk. Dann kommt es vor, daß er sich zu Gewalttätigkeiten und auch Grausamkeiten hinreißen läßt. Gelingt ihm dies nun nicht, so erscheint er meistenteils nicht so bald wieder in der Station des Gérands. Und was nun passiert, habe ich in Kabeja zur Genüge kennen gelernt. Der Agent befindet sich dann in einer schlechten Situation, denn er ist für die Ware, die er in nicht erlaubter Weise dem Kapita anvertraut hat, verantwortlich. Er wendet alle möglichen Mittel an, um wieder auf seine Rechnung zu kommen und das Konto des Warenbestandes auszugleichen.
Ich muß hier noch einfügen, wie überhaupt die Verantwortlichkeit der Agenten ihre Regelung findet. Am Ende des Monats hat der Gérant seine Monats-„comptabilité“ nach Dima zu senden. In Dima werden die sämtlichen Abrechungen gesammelt und nach Brüssel geschickt. In Brüssel weiß man also jeden Monat über den Bestand an Waren und Kautschuk ungefähr Bescheid. Dem entspricht die Stellung des Chefs der Comptabilité in Dima, der neben dem Direktor die wichtigste Persönlichkeit ist. Diese Leitung der Geschäfte ist außerordentlich streng, und es ist mir auch verständlich, daß dies der Fall sein muß, da hiervon ein Teil des Reüssierens abhängt. Immerhin habe ich bemerkt, daß bei einem großen Teil der Abrechnungen ziemlich beträchtliche Fehler vorkamen, die sich stets bei der Inspizierung und Inventuraufnahme herausstellten. Der Grund für diese Erscheinung ist nicht schwer zu erkennen. Einmal nämlich ist es ziemlich sicher, daß in den Magazinen von den Negern verhätnismäßig häufig gestohlen wird; zum zweiten steht den Beamten wohl das Recht zu, auf ihre Kosten kleine Beträge aus den Warenlagern zu entnehmen, im allgemeinen rechnen aber die jungen Leute ihre Ausgaben nicht an. Und sie haben eigentlich immer Ausgaben, denn erstens hält sich jeder Weiße natürlich einen Boy, meistens auch noch einen Koch, dann einen Boy für den Koch und dann auch noch eine schwarze Signora, die für das Glück in der kleinen Hütte sorgen soll. Das alles will monatlich bestofft und rationiert werden. Da geht dann manches Kilo Salz und mancher Braß Stoff hin. Der Gérant trägt das nicht gern in die Bücher ein und hofft, durch etwas billigeren Kautschukeinkauf die Lücke wieder ausfüllen zu können. Meistenteils täuscht diese Annahme. Denn wenn die Herren sich auch noch so viel Mühe geben, das Maß für die Eingeborenen möglichst knapp zu halten (ein beliebtes Mittel beim Auszahlen von Perlen und Salz im Löffel ist zum Beispiel, daß man in den Löffel eine Dille drückt), so entstehen doch noch andere kleine Defizits, die auch gedeckt sein wollen. Der Gérant bekommt zum Beispiel den Sack Salz zu 39 kg überliefert, den er mit 39 Francs zu buchen hat. Meistenteil hat der Sack Salz schon etwas mehr abgenommen im feucht-dumpfigen Lagerraum des Dampfers. Wird der Sack noch über Land transportiert, dann kommt er womöglich in den Regen und das Gewicht nimmt abermals ab, und wenn er längere Zeit im Warenspeicher ruht, so saugt das Salz doch wieder die Feuchtigkeit der Luft an, sickert ab und verdampft beim Trocknen. So nimmt das Salz im Laufe einer Regeneit immer an Gewicht ab. Mit diesem Defizit muß der Gérant auch rechnen. Fernerhin kann er nach gutem afrikanischen Gebrauche kaum umhin, den Häuptlingen und angesehenen Leuten des Landes von Zeit zu Zeit Geschenke zu machen. Und doch steht ihm das Recht hierzu eigentlich nicht zu. Das Recht hat nur der Chef de Secteur, und wenn der Gérant solche Ausgaben macht, geht es auf seine Kappe. Weiterhin: dem Gérant steht eine gewisse Summe zur Verfügung, die er in Waren seinem Lager entnehmen kann, um sich frische Lebensmittel zu kaufen. Dieser Betrag reicht im allgemeinen hin, aber die meistenteils einer kleinen Schlemmerei wohlgeneigten Herren überschreiten diesen Betrag außerordentlich häufig. Wer dem süßen Getränk zuneigt, kauft wohl öfter Palmwein als nötig ist oder hält sich einen Palmweinzapfer, wieder eine ungebuchte Ausgabe.
Auf solche und gar manche andere Weise stellen sich die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten von kleinen Ausgaben ein, die alle im einzelnen nicht viel bedeuten und deswegen nicht eingetragen werden, die sich aber doch recht summieren und im Laufe der Zeit die Quellen größerer Mankos werden. Leute praktischer Geschäftskenntnisse, die einen soliden Lebenswandel gewöhnt sind und durch Genüsse der Bildung, die man sich in Afrika ebensogut verschaffen kann wie in Europa, wenn sie auch natürlich anderer Art sind, ein Gegengewicht gegen die mit der drohenden Langeweile immer herandrängende Gefahr der materiellen Genußsucht zu halten wissen, vermögen derartige Irtrümernaturlich einzudämmen. Der übliche Typus der unteren Beamten der Kongokompanie ist aber für derartige Lebensführung nicht sehr geeignet.
Der Herr Labryn hat während seiner verhältnismäßig doch recht kurzen Zeit auf diese Weise ein Defizit von 7000 Francs erzielt, anscheinend ohne viel an die Zukunft zu denken. In der letzten Zeit war ihm nun doch wohl etwas ängstlich zumute geworden, und er hatte demnach absonderliche Mittel angewendet, um aus den schlechten Kapitas, den „faulen Kunden“, den Kautschuk oder das Geld, in welcher Form auch immer es sei, herauszupressen. Die Kunde von dem nicht ganz klaren Verfahren war auch nach Dima gelangt. Im Juni 1905 schrieb die Direktion an ihren Chef, den Herrn Konings, einen streng vertraulichen Brief, in dem sie ihm, wie ich mit Bestimmtheit angeben kann, mitteilte, daß in seiner (des Herr Konings) Abteilung angeblich Sklavenhandel getrieben haben werde und daß, zumal in Kabeja, „blamable Zustände“ herrschten. Dieser Beamte der Kompanie berichtete als Antwort hierauf, daß in seinem Distrikt alles aufs beste bestellt sei, und lobte dann im ganz speziellen zumal die Verhältnisse von Kabeja. Hier erhebe ich schon einen schweren Vorwurf gegen die Kompanie. Die Leitung kannte die Angelegenheit des Gebietes und wußte ganz genau, was für saubere Brüder hier zum Teil angestellt waren. Sie begnügte sich aber mit der Auskunft des Herr Konings, dessen Unfähigkeit ebenfalls bekannt war.
Nicht ganz so günstig erschienen mir schon nach wenigen Tagen die Zustände in der Kulturstätte Kabeja. Schon nach den ersten Tagen des Aufenthaltes hörte ich, daß im Speicher fünf Gefangene, an Hals und Leib gebunden, gefesselt säßen. Sie wurden abends als hübsche Kette für fünf Minuten in den Busch geführt. Wir hörten, die Leute hätten Vorschüsse unterschlagen und sollten nun nach Luebo gesandt werden zum Staate. Am zweiten Tage erschien, wie berichtet. Herr Labryn. Hinter seiner Tipoya schritten fünf Weiber her. Er erklärte: „Meine Frauen mit ihren Dienerinnen.“. Ich meinte beim Abendessen, fünf Frauen zu unterhalte sei doch nicht ganz billig. Er entgegenete aber: „Ich kann nicht zweimal hintereinander mit einer Frau schlafen.“ In Wahrheit verhielt sich die Sache in klein wenig anders. Herr Labryn nahm seinen Schuldnern die Frauen fort und behielt sie entweder oder verkaufte sie. Hier einige Beispiele:
Der Kaloschi Kapepulla war als Aufkäufer engagiert und befand sich unter den Gegangenen im Magazin. Er hatte als Vorschuß 20 Stück Stoff erhalten und nur 500 Bällchen Kautschuk gebracht. Der Mann besaß an Wertstücken zwei Frauen und ein Gewehr. Diese nahm im Labryn ab. Die Frau Kaniba verkaufte Labryn an den Boy Kassadi für 10 Stück Stoff. Die Frau Tschabu oder Tschau verkaufte er an den Arbeiter Kassongog für 10 Stück Stoff.Die Flinten verkaufte er den Boy Malaba für zwei Stück Stoff.
Der Mulaba Kalonda war gleicherweise als Aufkäufer engagiert und hatte eine Schuldenlast von 40 Stück Stoff, einen kleinen Sack Perlen (2 ½ kg) und 10 Hackeneisen, demgegenüber nur 400 Bällchen Kautschuk eingeliefert waren. Nun befand er sich gleicherweise im Magazin als Gefangener. Bis zu unserer Ankunft hatte ihm Labryn eine Frau und zwei Kinder entrissen. Als wir zu Tschiffamma kamen, brachte er noch ein Rind Kalondas mit, dessentwegen er uns in seiner Torheit – die ja mit noch brutalem Egoismus meisten teils Hand in Hand geht – eine lange verrückte Geschichte aufband. Die Frau dieses Mannes, Frau Mbombo, war noch nicht verkauft und wanderte im Haremszuge des Herrn Labryn einher. Herr Labryn verfügte im ganzen über zehn Beischläferinnen.
Abgesehen von der Gefangenschaft und der gewalttätigen Pfändung erlitten diese Leute aber noch schwere Schicksale. Zunächst wurden sie in sehr schlechter Weise ernährt. Dann erhielten sie alle paar Tage regelmäßig Prügel, um aus ihnen Mitteilungen und etwaige Wertbesitztümer herauszupressen. Kalonda entlief später Labryn und floh zu uns nach Luebo, wo ich ihn engagierte und dann dem durchreisenden Inspekteur als Schutzbefohlenen übergab. Als dieser Kalonda zu mir kam, hatte er noch breite, blutende Wunden auf dem Rücken, die von dem Erziehungsstabe des Herrn Labryn herrührten.
Das Tollste und Traurigste sollten wir aber selbst miterleben. Am 4. Oktober wurde während unseres zweiten Aufenthaltes in Kabeja ein sechstes unglückliches Negerlein, der Kaloschi Uatobelle eingefangen. Er war auch ein Kapita, der seinen Vorschuß nicht richtig gedeckt hatte. Er sollte ein ausgezeichneter Bursche gewesen sein, war Christ und in der Mission in Luebo erzogen. Am Abend kam er an und am anderen Morgen wurde er gepreßt am Boden gehalten. Auf der einen Seite stand ein Kapita, auf der anderen Seite ein Europäer. Jeder schwang eine Strafrute. Es ging wie in einer Mühle, klipp-klapp, klipp-klapp. Und wenn ein Stock zerbrochen war, dann ward schnell ein anderer gereicht, so daß im vollendeten Rhythmus keine Unterbrechung eintrat. Als dann die Sache schon lange im Gang war, hörte ich noch 53 Klipp-Klapps, also 106 Schläge, Es waren deren aber in Summa sicher über mehr als 150. Als das zu Ende war, konnte der zerprügelte arme Kerl nicht gehen. Er wurde weggetragen und blutete aus fünf schweren Wunden. Wir sahen solches mit eignen Augen. Es ist sonst nach der einfachsten harmlosesten Züchtigung Sitte, daß man den Leuten erlaubt, sich zu baden. Diese Genehmigung wurde hier nicht erteilt. Uatobelle erhielt dieselbe magere Kost wie die anderen Gefangenen und starb an dieser Behandlung am 5. Oktober.
Frobenius, Leo
Im Schatten des Kongostaates
Berlin 1907