1802 - Johann Gottfried Seume
Armes Venedig
Den dritten Februar, wenn ich mich nicht irre, kam ich in Venedig an, und lief sogleich den Morgen darauf mit einem alten, abgedankten Bootsmann, der von Lissabon bis Konstantinopel und auf der afrikanischen Seite zurück die ganze Küste kannte, und jetzt den Lohnbedienten machen mußte, in der Stadt herum; sah mehr als zwanzig Kirchen in einigen Stunden, von der Kathedrale des heiligen Markus herab bis auf das kleinste Kapellchen der ehemaligen Beherrscherin des Adria. Wenn ich Künstler oder nur Kenner wäre, könnte ich Dir viel erzählen von dem was da ist und was da war. Aber das alles ist Dir wahrscheinlich schon aus Büchern bekannt; und ich würde mir vielleicht weder mit der Aufzählung noch mit dem Urteil große Ehre erwerben. Der Pallast der Republik sieht jetzt sehr öde aus, und der Rialto ist mit Kanonen besetzt. Auch am Ende des Markusplatzes, nach dem Hafen zu, haben die Östreicher sechs Kanonen stehen, und gegenüber auf Sankt George hatten schon die Franzosen eine Batterie angelegt, welche die Kaiserlichen natürlich unterhalten und erweitern. Die Parthie des Rialto hat meine Erwartung nicht befriedigt; aber der Markusplatz hat sie, auch so wie er noch jetzt ist, übertroffen.
Es mögen jetzt ungefähr drei Regimenter hier liegen, eine sehr kleine Anzahl für ernsthafte Vorfälle. So wie die Stimmung jetzt ist, nähme und behauptete man mit zehntausend Mann Venedig; wenn man nemlich im Anfange energisch und sodann klug und human zu Werke ginge. Das Militär und überhaupt die Bevölkerung zeigt sich meistens nur auf dem Markusplatze, am Hafen, am Rialto und am Zeughause; die übrigen Gegenden der Stadt sind ziemlich leer. Wenn man diese Parthien gesehen hat und einige Mal den großen Kanal auf und ab gefahren ist, hat Venedig vielleicht auch nicht viel Merkwürdiges mehr; man müßte denn gern Kirchen besuchen, die hier wirklich sehr schön sind.
Das Traurigste ist in Venedig die Armuth und Betteley. Man kann nicht zehn Schritte gehen, ohne in den schneidendsten Ausdrücken um Mitleid angefleht zu werden; und der Anblick des Elends unterstützt das Nothgeschrey des Jammers. Um alles in der Welt möchte ich jetzt nicht Beherrscher von Venedig seyn; ich würde unter der Last meiner Gefühle erliegen. Schon Küttner [Carl Gottlob, war 1799 in Venedig] hat viele Beispiele erzählt, und ich habe die Bestätigung davon stündlich gesehen. Die niederschlagenste Empfindung ist mir gewesen, Frauen von guter Familie in tiefen, schwarzen, undurchdringlichen Schleyern kniend vor den Kirchenthüren zu finden, wie sie, die Hände gefaltet auf die Brust gelegt, ein kleines hölzernes Gefäß vor sich stehen haben; in welches die Vorübergehenden einige Soldi werfen. Wenn ich länger in Venedig bliebe, müßte ich nothwendig mit meiner Börse oder mit meiner Empfindung Bankerott machen.
Drollig genug sind die gewöhnlichen Improvisatoren und Deklamatoren auf dem Markusplatze und am Hafen, die einen Kreis um sich her schließen lassen und für eine Kleinigkeit über irgend eine berühmte Stelle sprechen, oder auch aus dem Stegreife über ein gegebenes Thema theils in Prose theils in Versen sogleich mit solchem Feuer reden, daß man sie wirklich einige Mahle mit großem Vergnügen hört. Du kannst Dir vorstellen, wie geringe die Summe und wie erniedrigend das Handwerk seyn muß. Eine Menge Leute von allen Kalibern, Lumpige und Wohlgekleidete, saßen auf Stühlen und auf der Erde rundherum und warteten auf den Anfang, und eine Art von buntscheckigem Bedienten, der seinem Prinzipal das Geld sammelte, rief und wiederholte mit lauter Stimme: Manca ancora cinque soldi, ancora cinque soldi! [Es fehlen noch fünf Soldi, noch fünf Soldi.] Jeder warf seinen Soldo hin, und man machte gewaltige Augen, als ich einige Mahl mit einem schlechten Zwölfkreuzerstück der Forderung ein Ende machte und die Arbeit beschleunigte. Welch ein Abstand von diesen Improvisatoren bis zu den römischen, von denen wir zuweilen in unsern deutschen Blättern lesen!
Auf der Giudekka ist es, wo möglich, noch ärmlicher als in der Stadt; aber eben deswegen sind dort nicht so viele Bettler, weil vielleicht niemand hoffen darf, dort nur eine leidliche Ernte zu halten. Die Erlöserskirche ist daselbst die beste, und ihre Kapuziner sind die Einzigen, die in Venedig noch etwas schöne Natur genießen. Die Kirche ist mit Orangerie besetzt, und sie haben bey ihrem Kloster, nach der See hinaus, einen sehr schönen Weingarten. Diese, nebst einigen Oleastern in der Gegend des Zeughauses, sind die einzigen Bäume, die ich in Venedig gesehen habe. Die Insel Sankt George hält bekanntlich die Kirche und das Kapitel, wo der jetzige Papst gewählt wurde, und wo auch noch sein Bildniß ist, das bei den Venezianern von gemeinem Schlage in außerordentlicher Verehrung steht. Der Maler hat sein Mögliches getan, die Draperie recht schön zu machen. Die Kirche selbst ist ein gar stattliches Gebäude, und wie ich schon oben gesagt habe, mit Batterien umgeben.
Die Venetianer sind übrigens im Allgemeinen höfliche, billige, freundschaftliche Leute, und ich habe von Vielen Artigkeiten genossen, die ich in meinem Vaterlande nicht herzlicher hätte erwarten können. Einen etwas schnurrigen Auftritt hatte ich vor einigen Tagen auf dem Markusplatze. Man hatte mich beständig in dem nemlichen Reiserocke, (die Ursache war, weil ich keinen andern hatte, da ich keinen andern im Tornister tragen wollte,) an den öffentlichen Orten der Stadt herumlaufen sehen, und doch gesehen, daß ich mit einem Lohnbedienten lief und Liren verzehrte. Ich zahlte dem Bedienten jeden Abend sein Geld, wenn ich ihn nicht mehr brauchte; dieses geschah diesen Abend, da es noch ganz hell war, auf dem Markusplatze. Einige Mädchen der Aphrodite Pandemos mochten bemerkt haben, daß ich bey der Abzahlung des Menschen eine ziemliche Handvoll silberner Liren aus der Tasche gezogen hatte, und legten sich, als der Bediente fort war und ich allein gemächlich nach Hause schlenderte, ganz freundlich und gefällig an meinen Arm. Ich blieb stehen und sie taten das nemliche. Man gruppierte sich um uns herum, und ich bat sie höflich, sich nicht die Mühe zu geben mich zu inkommodieren. Sie fuhren mit ihrer artigen Vertraulichkeit fort, und ich ward ernst. Sie waren beide ganz hübsche Sünderinnen, und trugen sich ganz niedlich und anständig mit der feineren Klasse. Ich demonstrierte in meinem gebrochenen Italienisch so gut ich konnte, sie möchten mich in Ruhe lassen. Es half nichts; die Gesellschaft in einiger Entfernung lächelte, und Einige lachten sogar. Die Gruppe mochte allerdings possierlich genug sein. Eine von den beiden Nymphchen schmiegte sich endlich so schmeichelnd als möglich an mich an. Da ward ich heiß und fing an in meinem stärksten Baßtone auf gut Russisch zu fluchen, mischte so etwas von Inpudenza [Unverschämtheit] und senza vergogna [ohne Scham] dazu, und stampfte mit meinem Knotenstocke so emphatisch auf das Pflaster, daß die Gesellschaft sich schüchtern zerstreute und die erschrockenen Geschöpfchen ihren Weg gingen.
Seume, Johann Gottfried
Spaziergang nach Syrakus
2. Auflage, Braunschweig und Leipzig 1805