1746 - Justus Möser
Mit aufgeräumtem Gemüt in Pyrmont
Pyrmont, den 1. Juli 1746
Liebste Schwester!
Ich bin glücklich und gesund zu Pyrmont angelanget, meine liebste Schwester. Vielleicht werdet ihr sagen, daß bey so bewandten Umständen [ich] nur wiederum nach Hause kehren könnte, weil bey einem gesunden Menschen die Brunnen-Cur überflüßig seyn dürffte. Allein ich bin gerade anderer Meinung. Wer hier krank ist, der ist im Paradiese verdammt. So habe ich auch noch zur Zeit wenige kranke Gesichter in der Allee gesehen. Doch ich darf dieses nicht sagen, die Leute nehmen es hier übel, wenn ihnen sagt, daß sie gesund sind. Es finden sich unter der großen Menge freylich einige, denen es Unglück genug ist, daß sie im Ernst krank seyn müssen. Doch würde ich gegen die Wahrheit sündigen, wenn ich solches von allen vermuthete. Ich glaube, daß es endlich auch verschiedene giebet, welche mit einträglichen Kolicken beschweret sind, die nach Meinung einiger Arzeney-Gelehrten (denn alle kann ich nicht sagen, weil sie nimmer einig sind) nicht eher aufhören, als bis der Mann den Zoll des Eigensinns bezahlet hat.
Es ist einmahl hergebracht, daß man seine Memoires drucken lasse. Es pfleget solches durch Brief zu geschehen, die an niemand geschrieben sind. Verwundert euch also nicht, meine liebste Schwester, daß ich mit gedruckten Briefen ankomme. Ich habe es hauptsächlich deswegen gethan, damit ihr nicht etwa glauben möget, es wären einige Reise-Freyheiten mit untergelauffen. Ihr werdet doch nicht denken, daß man Unwahrheiten drucken lasse.
Ich bin hier angelanget, nachdem ich eine Reihe von entsetzlichen Bergen überstiegen. Man muß durch das Fegefeuer ehe man ins Paradies kommen kann. Pyrmont siehet auch dem letztern ziemlich gleich, und wenigstens demjenigen, wovon der Pfarrer zu Fontenoy seinem Könige vorgesungen, und wo mancher ehrlicher Ketzer sich mit einem braven Catholicken versamlet hat. Beyläufig will ich erinnern, daß jede Religion sich so eine kleine Gelegenheit ausbedungen habe. Die eine geht nach Mecha, die andere nach Lorette und unser einer geht zum Gesund-Brunnen. Man findet hier wie im Paradiese allerley Nationen und Religionen, vom Richter zu Lüda bis zu den Printzen vom Libanon. Man höret vielerley Sprachen, und offtmahls von einer Person zehnerley durch einander reden.
Ich trank anfangs des Wassers sehr viel, weil ich noch immer so ein bisgen von der alten Mode bin. Damahls fühlte ich einen starken Trieb zur Satyre. Nachhero aber habe ich da erfahren, daß die Gesundheit, welche jetzt in Mode ist, so viel nicht vertragen könnte: so habe ich damit ein wenig nachgelassen, und jetzo würket es in mir ein aufgeräumtes Gemüthe.
Ich könnte hier verschiedene alte und neue Sitten-Lehren anbringen. Allein unser grosser Medicus hat mir das Denken verboten. Ich glaube die mehresten Schriftsteller unserer Zeit trinken jetzt den Brunnen. Wenigstens haben sie das Recht eines Brunnen-Gastes, daß sie nicht denken dürfen. Dieses ist die Würkung so es bey gesunden Personen hervorbringet; bey kranken aber thut es in Wahrheit rechte Wunder, und habe ich längst gedacht, daß ein Heiliger hier begraben liegen müsse, weil es ohnmöglich natürlicherweise zugehen kann. Ich kenne auch schon einen gelehrten Jesuiten zu Antwerpen, der solches in achtzehn Folianten mit sehr gelehrten Redensarten dazuthun sich bemühen wird.
Weil doch eine Reise-Beschreibung nicht ordentlich ist, wofern nicht auch eine kleine Nachricht von den Gebäuden eines Orts in derselben befindlich: so muß ich sagen, daß es hier ziemliche Häuser giebet, worin sich eine recht einträgliche Bequemlichkeit findet. Die grosse Allee ist einer der schönsten in ganz Pyrmont, zumahlen wenn ein mit neuen Leidenschaften geneigtes Herz derselben neue Schönheiten leihet. An derselben liegt ein Ballhaus, worin über zweyhundert Personen speisen und wohl auch tanzen können. Die Speisen sind hier recht wohl zugerichtet. Doch will ich eben nicht sagen, daß man aus dem Geschmacke der Suppe den Character der Nation schliessen solle. An einem guten Weine fehlet es auch nicht, ob er gleich nicht eben allemahl auf einem geistlichen Grunde gewachsen. Das Schloß ist ein rechtes Kleinod. Das beste ist die angenehme Gesellschaft, worin man sich von früh Morgens an bis in die späte Nacht befindet. Es fehlet ihr nichts, als daß sie nicht ewig dauret. Ich muß eurem Geschlechte das Recht wiederfahren lassen, daß es unendlich vieles zu dem Vergnügen der Gesellschaft beyträget. Ich kann zwar so eigentlich nicht davon reden, weil mein Stand mich von ihrer Gesellschaft zurückhält, und ich lieber ein Einsiedler werden, als mich nach den Regeln der Umgangs-Koketterin dahin pflanzen lassen wollte, so bald ein Vornehmerer als ich mich in den Augen meiner Begleiterin unendlich kleine gemacht hätte. Ich gehe auch die mehreste Zeit wie ein Provinz-Gesichte in Hannover, welches ganz leise unterm Tropfenfall herschleichet. Solchergestalt versteige ich mich zwar niemahls; ich habe aber auch nicht nöthig mich zu erniedrigen. Andere die bey ihren grossen Verdiensten auch zugleich etwas Glück besitzen, haben mir die Gesellschaft des schönen Geschlechts ungemein gerühmet. Ich sehe selbst einige, denen der hohe Rang zu nichts anderem dienet, als um mit mehrere Würdigkeit leutselig zu sein, und die sich ihres Vorzuges nicht anders als zum Wohlthun bedienen. Ich sehe andere, welche von ihrem Geschlechte weiter nichts als die Schönheit haben. Ihre geistreiche Augen haben habe mir Merkmahle eines männlichen Verstandes gegeben. Und die Antwort hat niemahls mein Nachforschen betrogen. Eine angenehme Flüchtigkeit herrschet in ihrem Wesen, und sie können gründlicher von allerhand beträchtlichen Kleinigkeiten, als Neuton von der anziehenden Kraft reden. Bey ihrer Erblickung hat man gewiß Ursache zu beten, daß der Verstand sich von dem Herzen nicht hintergehen lassen möge.
Es fehlet hier doch auch nicht an lebendigen Barometern, die mit einer widerlichen Mine auf ein kolikalisches Freddo wiesen. Nur eine vollkommene Kokette findet sich nicht. Dieses ist eine Rarität, welche man in Deutschland noch nicht antrifft. Sie würde sich auch beym Gesund-Brunnen nicht schicken, weil die Zeit zu kurz ist nach dem Roman zu verfahren.
Eine besondere Anmerkung habe ich auch gemacht, daß einige Gesichter, so gestern im Besitz aller Stimmen gewesen, heute bey der Ankunft eines schönern bankrott gemacht haben. Verschiedene aber haben sich vom Anfange bis zum Ende glücklich erhalten. Eine von meinen wichtigsten Beschäftigungen ist, gewisse Blicke zu beobachten, und das Verhalten unsers Geschlechts dagegen anzusehen.
Ein Blick der im Vorübergehen
Uns liebreich oder auch zweydeutig angelacht,
Hält oftmals länger auf als man gedacht
Auf diese drey Verse eines grossen deutschen Dichters, die mir wegen des verbotenen Denkens nicht recht beyfallen, beruhet das ganze Liebes-Systema in Pyrmont. Ein schalkhaft-unschuldiger Blick siehet mit ungefehrem Fleisse von der Seite. Es gehet aber ein Zunder-volles Herz vorbey, welches Funken und Flammen fänget, und so lange in die quer neben an gehet, bis ein Glas Brunnen-Wasser solches wiederum auslöschet. Denn dieses muß ich als eine Note vor auswärtigen Nationen erinnern, daß das Trinken jedesmahl eine Methode ist, um sich mit guter Manier einer anklebenden Gesellschaft zu entladen.
Nichts ist so nothwendig zum guten Gebrauch des Wassers, als die Bewegung. Deswegen gehet man des Vormittags einige Stunden in der Allee, und wenn der Regen das Paradies schlüpfrigmacht, im Ballhause spatzieren. Des Nachmittags lebet man nach der Regel des Galens, welcher die Bewegung des Mundes vor die gröste hält. Einige gehen auch wol bis an die Ecke des Ballhauses, doch nicht weiter, weil die Luft daselbst etwas unfreundlicher wird, und gar leicht ein Heldengedichte über die zerstreueten Harloken einem aufmerksamen jungen Poeten an die Hand geben könnte.
Des Morgens herrscht mehrentheils eine sehr ordentliche Nachläßigkeit, die sich gegen Mittag in eine nachläßige Ordnung verwandelt. Mir deucht ich komme dem Herrn Voltaire sehr nahe, wenn es auch nur darin wäre, daß ich allerhand sich widersprechende Worte mit einem gewissen Schwunge zusammen setzete.
Dem Spielen geht es wie dem Trinken. Beydes ist seit kurzer Zeit sehr aus der Mode gekommen. Der Mensch ist nicht tugendhaft, weil es seine Pflichten erfordern, sondern weil es Mode ist. Unsere Vorfahren haben sich wie Narren verdammet. Ihre Nachkommen aber verstehen das Ding besser. Sie thun es mit der grösten Wohllebenheit von der Welt
Man spielet zwar noch, aber nur zum Zeitvertreibe. Doch hat das letztere einen sehr weitläufigen Verstand. Was alle Gottesgelehrten nicht haben verbannen können, das thut hier abermahl die Mode. Denn ich habe noch keinen Menschen fluchen hören. Sonst nahm man bey jedem verlohrnen Spiele den Himmel zum Zeugen, ob er gleich wenig Credit mehr hatte.
Die kleinen Sommerhüte sind zwar recht gut, um sich vortheilhaft darunter zu verlieren. Allein der Mund wird sich bald darüber beschweren, weil ich bemerket habe, daß das Küssen dadurch verhindert wird. Wenn euer Geschlecht sich gern rathen liesse: so würde ich sie bey einigen zwey Finger breit kleiner machen lassen.
Diejenigen, welche Vestungen, Frauenzimmer, Staaten und junge Herren zu vertheidigen haben, können nimmer genug auf ihrer Hut seyn. Man muß auch hier denken, daß man in Feindes Lande sey.
Die Natur hat mir mit Hilfe einer Winterperuke und eines grossen Hutes ein ziemliches Ansehen gegeben. Man frägt im Vorübergehen wer ich sey. Allein die Antwort ist so, daß ich die Vorsicht bitte, sie wolle die Erniedrigung meines Körpers zum besten meiner Seelen anwenden.
Rabelisten, Münche, Reimschmiede und Bettler finden sich hier im Paradiese nicht, sondern lauter wohlgepflegte Leiber, die von dem Flor ihres Landes zeugen.
Alle Gelehrten, die Lebensläufe schreiben wollen, will ich bitten hieher zu kommen, weil einem nirgends mehr heimliche Nachrichten ins Ohr gesagt werden als hier; und ich biete dem freygebigsen Verleger hiedurch zwölf Theile von Memoires Aneckdotes an.
Desgleichen will ich alle Kunststicker eingeladen haben, weil man hier Mansietten, worauf die Thaten des Graf Gages ausführlich gesticket, und Strümpfe antrift, worauf die Thaten des Pretenders im Original geknüttet sind. Auf den Unterröcken mögten vielleicht auch noch wol artige Anmerkungen stehen, allein ein vordringender kleiner Fuß leidet es nicht, daß sie gar zu lange hervorhangen.
Es ist bald sechs Uhr, meine liebste Schwester. Ich muß also vor dieses mahl schliessen, weil es Zeit ist das heilsame Wasser zu trinken. Es ist schlimm genug, daß ich hernach nicht schreiben darf, sondern die grosse Kunst besitzen muß, mich mit Nichts den ganzen Tag zu beschäftigen. Ich bin Urkund meiner eigenen Hand
Meine liebste Schwester,
Euer
gehorsamer Bruder.
Möser, Justus
Schreiben des Verfassers an seine Schwester über den angenehmen Aufenthalt zu Pyrmont
o.O. 1746