1878 - Karl Humann
Die Ausgrabung des Pergamonaltars
Bergama, Türkei
Das Plateau, auf dem wir stehen, ist von allerlei Fundamenten durchzogen; der Volksglaube verlegt hierher den Palast der Attaliden. Der Platz ist wahrhaft königlich!
Nach Norden versperrt uns türkisches Gemäuer die Aussicht. Wir kriechen durch eine Bresche und steigen einige Meter herab auf ein dreieckiges ebenes Rasenfeld, vom Volke der «Garten der Königin» genannt. Eine idyllische Ruhe herrscht hier, Auge und Sinne werden durch keine Ruinen gefangen gehalten, und mit Behagen schweift der Blick nach Osten und Westen in die Fernen und freut sich der scharfen Konturen, welche die Pinienwälder auf den Höhen des Temnos nach Norden an den Himmel zeichnen.
Wir treten an den Rand des Plateaus. Ringsum ziemlich hohe Mauern; wir gehen zur Nordecke, wo sie eine scharfe Spitze bilden, steigen an ihren Fuß hinab und sind nicht wenig erstaunt zu sehen, daß sie zum großen Teil aus milchweißem Marmor bestehen. Also das flache Rasenfeld oben birgt doch Geheimnisse!...
Am Montag, dem 9. September 1878, stieg ich mit 14 Arbeitern hinauf, nahm eine Hacke und sprach: «Im Namen des Protektors der Königlichen Museen, des glücklichsten, allgeliebten Mannes, des nie besiegten Kriegers, des Erben des schönsten Thrones der Welt, im Namen unseres Kronprinzen möge dies Werk zu Glück und Segen gedeihen!»
Meine Arbeiter haben geglaubt, ich spreche eine Zauberformel, und sie hatten nicht ganz unrecht.
Vier Arbeiter zogen zwei Gräben von Süd nach Nord und von Ost nach West gegen den Schutthügel und zehn arbeiteten daran, die byzantinische Mauer westlich vom aufgeschwemmten Schutte zu reinigen. Am nächsten Tage war griechischer Feiertag, und ich hatte nur vier Arbeiter, doch wurden am selben Abend zwei Hochreliefs sichtbar, jedes über zwei Meter lang; sie waren an der Innenseite der Mauer auf die hohe Kante gestellt, die Bildfläche vermauert, die Platte nach außen gerichtet. Am nächsten Abend waren ihrer elf sichtbar und die Erdarbeiter waren in ihren Gräben auf kompaktes Mauerwerk gestoßen, wo sie abgebrochene Schuppenschweife und andere Fragmente fanden. So rasch hatte niemand die Lösung erwarten können; ich sandte deshalb ein Telegramm mit der frohen Nachricht ab und begann ernstlich den Mauerabtrag. Das ganze Mauerwerk war außerordentlich fest und lückenlos vermörtelt; jedes Steinchen mußte mit Keilen und schweren Hämmern einzeln gelöst werden, jeder zutage tretende Marmor wurde in gewissem Abstand umgangen und wenn er ganz frei lag, mit der Winde langsam gelöst. Bis zum 18. September lagen die gefundenen 11 Reliefs nördlich der Mauer auf dem Rasen und bis zum 24. war ihre Zahl auf 17 gestiegen, da beim Abbrechen der Mauer sich sechs weitere platt in derselben liegend gefunden hatten.
Es waren jene Platten, welche jetzt die Heliosgruppe bilden, ferner die Selene, sodann die Göttin der Nacht, welche die Schlangenvase schleudert, die große von Löwen begleitete Göttin mit den Locken, die Göttin, welche jetzt als ein Teil des Reliefs der linken Treppenwange erkannt ist, und die auf dem Löwen reitende Göttin; gleich darauf kam Apollo dazu, dieser aber nicht in der Mauer verbaut, sondern im Erdreich bei dem Altar liegend. Außerdem fand ich schon die Torsen mehrerer Statuen, zwei Reliefs der später sogenannten Telephos-Serie und eine Menge großer und kleiner Fragmente. Ich begann sofort alles zu zeichnen, und je mehr ich die Funde betrachtete, desto erregter wurde ich. «Wir haben eine ganze Kunstepoche gefunden», schrieb ich, «das größte aus dem Altertum übriggebliebene Werk haben wir unter den Händen.» Mitten in dieser Arbeit schenkte meine Frau mir den ersten Sohn, doch ich konnte nicht nach Smyrna eilen. Schlag auf Schlag kamen die Funde. Ende September waren 23 Gruppen der Gigantomachie gefunden...
Entnommen aus:
Zwischen Olymp und Acheron
hrg. von Edith Wolf-Cromme
Zürich 1971