1789 - Nikolai Michailowitsch Karamsin, russischer Bildungsreisender
Die gefährlichen Bürgersteige von London
An jeder Stadt ist mir das merkwürdigste die Stadt selbst. Ich bin London schon in der Länge und Breite durchstrichen. Es hat gegen 25 englische Meilen im Umfange, und da es sich immer vergrößert, wird es die umliegenden Dörfer bald verschlingen, die sich wie die Flüsse im Ozean darin verlieren. Westminster und die City sind die beiden Hauptteile Londons. In dem erstern wohnen größtenteils reiche Partiküliers, und der andere wird von Kaufleuten, Arbeitsleuten und Matrosen bewohnt. Hier fließt die Themse, über welche die prächtigsten Brücken führen, und hier ist die Börse. Die Straßen sind schmaler als in den anderen Teilen Londons und die Volksmenge ist größer. Man sieht hier nicht die außerordentliche Reinlichkeit, die in Westminster herrscht. Die schöne und majestätische Themse trägt nicht zur Verschönerung der Stadt bei, da ihr die herrlichen Kais fehlen, die z. B. die Newa in Petersburg oder die Rhone in Lyon hat. Sie ist auf beiden Seiten mit den schlechtesten Häusern besetzt, in welchen die ärmsten Leute wohnen. Nur an einer Stelle hat das Ufer eine Terrasse, die Adelphi genannt wird, aber zum Unglück ist das gerade eine solche Stelle, wo man den Fluß vor der Menge Steinkohlenboote, mit welchen er unaufhörlich bedeckt ist, gar nicht sehen kann. Doch findet man auch in diesem unansehnlichen Teile der Stadt die reichsten Kaufläden und Magazine, wo Indiens und Amerikas kostbare Produkte zum Gebrauch Europens aufgestapelt liegen. Ein solcher Anblick des Luxus hebt das Herz, indem er an die Kühnheit des Menschen, die moralische Verbindung der Völker und an die allgemeine Aufklärung erinnert. Mag der stolze Reiche, umringt von den Produkten aller Länder, wähnen, daß die Befriedigung seiner Wünsche das einzige Ziel des Handels sei! Der Handel erhält die Tätigkeit, indem er unzählige Hände beschäftigt, und bringt Ideen, neue Erfindungen und neue Mittel, das Leben zu versüßen, aus einem Teile der Welt in den anderen.
Für die Fußgänger ist wohl keine Stadt so bequem wie London. An den Häusern laufen breite Trottoirs, die alle Morgen gereinigt werden, so daß man bei dem ärgsten Kote trockenen Fußes geht. Nur eines gefällt mir an diesen Trottoirs nicht. Man stößt nämlich überall auf Öffnungen, die tagsüber größtenteils offenstehen. Ist man nicht immer auf der Hut, so gerät man in Gefahr, in diese Mausefallen hineinzustürzen. Diese Löcher sind entweder Luftlöcher für unterirdische Küchen und Tavernen oder Fenster von Steinkohlenmagazinen oder auch Treppen, die in Keller führen. Die meisten Häuser in London haben nämlich Kelleretagen, in welchen gewöhnlich die Küche, der Keller und Stuben für die Bedienten sind. Auch die armen Leute und Bettler wohnen größtenteils in solchen unterirdischen Gemächern. In Paris ist gerade das Gegenteil der Fall; da wohnt der Arme im sechsten Stockwerk, nahe an den Wolken. Dort trägt man die Armut auf dem Kopfe, und hier tritt man sie mit Füßen.
Die Häuser in London sind fast alle klein, schmal, aus Ziegelsteinen, nicht geweißt, damit man den Ruß der Steinkohlen weniger bemerkt, und bieten einen langweiligen, einförmigen Anblick. Doch ist die innere Einrichtung sehr angenehm. Alles ist einfach, reinlich und fast ländlich. Die Treppen und Fußböden der Zimmer sind mit schönen Teppichen belegt; überall glänzt Mahagoniholz, und nirgends sieht man ein Stäubchen. Man findet keine großen Säle, aber die Zimmer sind bequem und gemächlich. Fremde, die den Wirt oder die Wirtin sprechen wollen, führt man in ein Zimmer des untern Stockwerks, das Parlour genannt wird, und nur Verwandte und Freunde gehen in die inneren Gemächer, welche die Familie bewohnt.
Was würde London sein, wenn es bei seinen schönen Straßen und bei der Menge reicher Kaufläden ebenso schön gebaut wäre wie Paris? Gewiß könnte man sich nichts Prächtigeres und Majestätischeres denken. Der Fremde gewöhnt sich nur schwer an die hiesige Lebensart, besonders an das späte Mittagessen, das man fast Abendessen nennen könnte. Um 7 Uhr des Abends setzt man sich erst zu Tisch! Wer bis um 11 Uhr schläft, dem mag das recht sein, aber ich bin es gewohnt, um 8 Uhr aufzustehen. Da durchstreiche ich denn die Straßen, besehe die vielerlei Waren, die hier wie auf einer immerwährenden Messe zur Schau gestellt werden, betrachte die an den Türen der Kupferstecherläden hängenden Zerrbilder und wundere mich über die Liebhabereien der Engländer. Wie der Franzose auf alles ein Chanson macht, so macht der Engländer jeden merkwürdigen Vorfall durch eine Karikatur lächerlich. Dann frühstücke ich in einer Kuchenbude, wo man herrliche Schinken, frische Butter und treffliche Kuchen findet, wo alles so rein und ordentlich ist, daß man seine Freude daran hat. Zwar sind dergleichen Frühstücke nicht wohlfeil, und man bezahlt bei gutem Appetit nicht viel weniger als zwei Rubel nach unserem Gelde. Ebenso viel kostet ein Mittagessen im Kaffeehause, das aus Roastbeef, Pudding und Käse besteht. Dafür wird man aber auch mit der größten Höflichkeit behandelt. Der Aufwärter öffnet dem Eintretenden die Tür, und die freundliche Wirtin fragt mit einnehmender Stimme und Miene nach den Befehlen des Gentlemans.
Karamsin, Nikolai Michailowitsch
Briefe eines russischen Reisenden
Band 6, Leipzig 1803