1790 - Georg Forster
Armes Aachen
Aachen liegt sehr anmuthig. Die Hügel rund umher sind schön geformt, und reich an Waldung, Äckern und Gebäuden; daher gewähren sie unter jedem Gesichtspunkt einen verschiedenen, das Auge erquickenden Effekt. Um die Stadtmauern ziehen sich schöne Gänge von hohen schattenreichen Bäumen. Gewisse Theile der Stadt sind ziemlich gut gebauet; ihr ganzer Umfang ist sehr beträchtlich, denn ehedem faßte sie mehr als hunderttausend Einwohner, deren jetzt aber nur dreißigtausend vorhanden sind. „Was ist die Ursache dieser auffallenden Entvölkerung?" wirst Du fragen; denn ich fragte eben so, und ich glaube, jedem, der davon zum erstenmal hört, muß dieselbe Frage auf der Zunge schweben. Die Antwort, die ich darauf erhielt, ist einleuchtend, ob sie gleich nicht befriedigt. Es wäre bald von der Sache zu kommen, wenn man alles einer fehlerhaften Constitution zur Last legen wollte, deren Mängel und Gebrechen jetzt so klar am Tage liegen; allein geübtere Augen erkennen, daß eine Complication von Ursachen eintreten mußte, um den Verfall dieser vor Alters so blühenden Stadt allmälig zu bewirken: und Complicationen dieser Art nachzuspüren, ist keine so leichte Sache, daß ein jeder in wenigen Worten den Knoten lösen könnte. Karls des Großen Residenz, der Krönungsort so vieler Kaiser, war lange der Sitz nützlicher Künste und Gewerbe, ein wichtiges Handelsemporium, ein Mittelpunkt, wo vielfältiges Interesse Menschen aus allen Klassen und aus den entferntesten Gegenden des Reiches zusammenführte, wo dieser Zusammenfluß einen schnelleren Umlauf des Geldes, einen rascheren Tausch der Waaren, einen wenigstens für jene Zeiten wichtigen Grad des Aufwandes verursachte, und zwar dies alles schon, als in der umliegenden Gegend noch keine Nebenbuhlerin sich organisirt hatte und zur Vollkommenheit gediehen war.
Jetzt verhält sich alles anders. Aachen ist nicht einmal mit der Gegenwart eines Kaisers für den Moment der Krönung beglückt, und noch viel weniger dessen beständiger Aufenthalt; der Glanz, den diese Gegenwart ihr geben konnte, ist von ihr gewichen. Um sie her, auf allen Seiten, sind nach und nach ansehnliche Staaten entstanden; der Fleiß, die Freiheit und das Glück haben im Wetteifer mit einander vielen neuen Städten einen Grad von blühendem Wohlstand geschenkt, den Handel in andere Kanäle geleitet, den Geist der Menschen entwickelt und gebildet, wie er an einem vereinzelten Orte, und bei hartnäckiger, blinder Anhänglichkeit an altes Herkommen, nicht mit fortrücken konnte. Sodann aber 20 haben die Tyrannei des Aberglaubens, die noch immer gegen andersgesinnte Religionsparteien wüthet und die Nichtkatholiken von manchen Vorrechten des Bürgers ausschließt, die Wuth der Parteien, die unaufhörlich um die Alleinherrschaft einer nur dem Namen nach freien Reichsstadt kämpften, und endlich der finstere Despotismus der Zünfte, zur Sittenverderbniß, zur Verblendung über das wahre Beste des gemeinen Wesens und des einzelnen Bürgers, zum Müßiggang, zur Bettelei und zur Entvölkerung kräftig mitgewirkt. Wo ist der Wohlstand, der so vielen ihn untergrabenden Feinden widerstehen könnte? Was ächte Bürgertugend allein wider die übrigen ungünstigen Umstände vermocht hätte, stehet dahin; mit ihr hat man die Probe nicht gemacht, und ohne sie verblühen die Staaten, selbst im Schooße des Glücks!
Forster, Georg
Ansichten vom Niederrhein …
In: Werke, Band 9, Berlin 1958