Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1820 - Maximilian Prinz zu Wied
Bei den Botokuden
Brasilien

 

Noch immer weckt der Name Aymorés oder Botocudes bei den europäischen Ansiedlern Empfindungen von Abscheu und Schrecken, weil diese rohen Menschen allgemein in dem Rufe stehen, Anthropophagen zu seyn. Den Namen Botocudos haben sie von den großen Holzpflöcken, womit sie Ohren und Lippe verunstalten, denn „Botoque“ bedeutet im Portugiesischen ein Faßspund; sie selbst nennen sich Engeräckmung, und hören es sehr ungern, wenn man sie Botocudos nennt. Obgleich sie von der Küste verdrängt worden sind, so bleibt ihnen demungeachtet noch ein weiter Strich undurchdringlicher Urwälder zum ruhigen ungestörten Zufluchtsort frey. Heut zu Tage bewohnen sie den Raum, der sich längs der Ostküste, jedoch mehrere Tagesreisen vom Meere entfernt, vom 15. bis zum 19 ½ Grade südlicher Breite ausdehnt, oder zwischen dem Rio Pardo und Rio Doçe liegt. Sie unterhalten von dem einen dieser beyden Flüsse bis zum anderen eine Verbindung längs der Gränzen der Capitania von Minas Gerais; näher an der Südküste aber findet man einige andere Stämme, die Patachos, Machacalis, usw. Westlich dehnen sich die Botokuden bis zu den bewohnten Gegenden von Minas Gerais aus. […]
   Am Rio Grande de Belmonte findet man bis Minas Novas hinauf die Gesellschaften der Botokuden, die hier in ungestörter Ruhe leben. Jede Truppe hat ihren Anführer (von den Portugiesen Capitan genannt), der nach Verhältnis seiner kriegerischen Eigenschaften mehr oder minder in Ansehen steht. Nordwärts am rechten Ufer des Rio Pardo zeigen sie feindliche Gesinnungen; ihren Hauptsitz haben sie jedoch in den großen Urwaldwildnissen an beyden Ufern der Rio Doçe und des Belmonte. In diesen Wäldern schalten sie ungestört, und am Flusse S. Matthaeus streifen sie noch zuweilen bis nahe an die Seeküste hinab.
   Die Natur hat diesem Volke einen guten Körperbau gegeben, denn sie haben eine bessere und schönere Bildung als die übrigen Stämme. Sie sind großtentheils von mittlerer Statur, einzelne erreichen eine ziemlich annehmliche Größe; dabey sind sie stark, fast immer breit von Brust und Schultern, fleischig und muskulös, aber doch proportionirt; Hände und Füße zierlich; das Gesicht hat, wie bey den anderen Stämmen, starke Züge und gewöhnlich breite Backenknochen, zuweilen etwas flach, aber nicht selten regelmäßig gebildet; die Augen sind bey mehreren klein, bey andern groß, aber durchgängig schwarz und lebhaft. Der Mund und die Nase sind oft etwas dick. Zuweilen soll man jedoch auch blaue Augen unter ihnen antreffen, wie dies von der Frau eines Anführers am Belmonte gerühmt ward, die unter ihren Landsleuten für eine große Schönheit galt. Ihre Nasen sind stark, meiste gerade, auch sanft gekrümmt, kurz, bei manchen mit etwas breiten Flügeln, bey wenigen stark vortretend; überhaupt giebt es so mannigfaltige und starke Verschiedenheiten unter ihnen als bey uns, obgleich die Grundzüge mehrentheils auf dieselbe Art darin ausgedrückt sind. Das Zurückweichen der Stirn ist wohl kein allgemeines sicheres Kennzeichen. Ihre Farbe ist ein rötliches Braun, welches heller oder dunkler variirt; es findens sich Individuen unter ihnen, die beynahe völlig weiß, und selbst auf den Backen röthlich gefärbt sind; nirgends aber habe ich diese Völker von so dunkler Haut gefunden, als einige Schriftsteller es wollen, dagegen öfters mehr gelblich braun. Ihr Kopfhaar ist stark, schwarz wie Kohle, hart und schlicht; die Haare am übrigen Körper dünn und gleichfalls straff; bey der weißlichen Varietät ist das Kopfhaar mehr schwarzbraun, Augenbrauen und Bart rupfen viele aus, andere aber lassen wie wachsen, oder schneiden sie bloß ab; die Weiber leiden nie Haar am Körper. Ihre Zähne sind schön geformt und weiß. Sie druchstechen Ohren und Unterlippe und erweitern die Öffnungen durch cylindrische, von einer leichten Holzart geschnittene Pflöcke, die immer größer genommen werden, dergestalt, daß ihr Gesicht dadurch ein höchst sonderbares widerliches Aussehen erhält. Da sich durch diese häßliche Entstellung so auffallend auszeichnen, so schien es mir wichtig, darüber genaue Nachforschungen anzustellen und ich theile meinen Lesern hier mit, was ich theils durch eigene Ansicht, theils durch glaubhafte Nachrichten davon in Erfahrung gebracht habe.
   Der Wille des Vaters bestimmt die Zeit, wenn die Operation vorgenommen und das Kind die seltsame Zierde seines Stammes erhalten soll, welches gewöhnlich schon im siebten oder achten Jahre, öfters auch noch früher geschieht. Man spannt zu dem Ende die Ohrzipfel und Unterlippe aus, stößt mit einem harten zugespitzten Holz Löcher hindurch und steckt in die Öffnungen erst kleine, dann von Zeit zu Zeit größere Hölzer, welche endlich Lippe und Ohrläppchen zu einer ungeheuren Weite ausdehnen. Wie häßlich Ohren und Lippe und durch sie das ganze Gesicht entstellt werden müssen, mag man aus der Größe des Pflockes schließen; denn ich maß eine solches cylindrisches Ohrholz und fand, daß dasselbe vier Zoll vier Linien englisches Maß [18,6 cm] im Durchmesser hielt, bei einer Dicke von anderthalb Zoll [3,8 cm]. Diese Scheiben verfertigen sie aus dem Holze des Barrigudo-Baums (Bombax ventriosa), welches leichter als Kork und sehr weiß ist. Die weiße Farbe erhält dasselbe erst durch sorgsames Trocknen am Feuer, indem dadurch der Saft sich verflüchtigt. Obgleich diese Hölzer äußerst leicht sind, so ziehen sie bey älteren Leuten dennoch die Lippe niederwärts; bey jüngeren stehen sie gerade aus, oder etwas aufgerichtet. Es ist dies ein auffallender Beweis von der Dehnbarkeit der Muskelfieber; denn die Unterlippe erscheint nur als ein dünner um das Holz gelegter Ring, und eben so die Ohrläppchen, welche bis beynahe auf die Schultern herabreichen. Sie können das Holz herausnehmen so oft sie wollen; dann hängt der Lippenrand schlaff herab und die Unterzähne sind völlig entblößt. Mit den Jahren wird die Ausdehnung immer größer und oft so stark, daß das Ohrläppchen oder die Lippe zerreißt, alsdann binden sie die Stücke mit einer Çipó wieder zusammen und stellen den Ring auf diese Art wieder her. Bey alten Leuten findet man meistens das eine, oder selbst beyde Ohren auf diese Art zerrissen, da der Pflock in der Lippe beständig gegen die mittleren Vorderzähne des Unterkiefers drückt und reibt. So fallen diese zeitig, ja schon im zwanzigsten bis dreißigsten Jahre aus, oder sind mißgestaltet und verschoben.

 

Wied, Maximilian zu
Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1817
Band 2, Frankfurt 1821

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