1850 - Anonymus
Ein Samstagabend in Manchester
England
Der Samstagabend ist für die arbeitenden Volksklassen der lebendigste der ganzen Woche. Es gilt die Verausgabung des Lohns, den sie an den andern Tagen durch saure Arbeit erworben haben, und viele finden eine größere Schwierigkeit darin, ihn mit Vorteil anzubringen als ihn zu verdienen. Die Gelegenheit auszugeben ist mannigfaltiger und verführerischer am Samstagabend als an irgendeinem andern Tage. Alle Arten von Lebensmitteln, Kleidungsstücken und Putzsachen sind mit anlockender Preisbezeichnung zur Schau ausgestellt, während die blendenden Gasflammen alles in das günstigste Licht setzen. Am Samstag ist es, wo alle wohlfeilen Dinge angeboten und ausposaunt werden.
Die Fenster und Läden der Buchhändler sind angefüllt mit den noch feuchten Erzeugnissen der Presse, welche meistenteils mit Holzschnitten geziert sind, um die Neugier zu reizen, und welche den jungen Leuten beiderlei Geschlechts, die in den Fabriken arbeiten, eine angenehme geistige Beschäftigung bei der Langeweile des folgenden Tages verheißen, da die Stunden des Sonntags für viele zu langsam verstreichen. Überall bieten sich Vergnügungen für wenig Geld dar. Der Arbeiter, dessen Ohren die ganze Woche hindurch ermüdet sind durch das unaufhörliche und eintönige Getöse der Maschinen, eilt begierig nach den Orten hin, wo Instrumental- oder Vokalmusik zu hören ist, welche doppelt anziehend wird durch die Freiheit, mit der man sie genießen kann, und durch die Gelegenheit, beim Anhören trinken und rauchen zu können.
In Manchester ist der Samstag für die arbeitenden Klassen ein fast ebenso wichtiger Tag wie für ihre Meister der Dienstag, an dem der große Kattunmarkt gehalten wird. Am Samstag werden die Büros und Magazine meistenteils schon um ein Uhr geschlossen, und dann sind deren Angestellte, Arbeiter und dergleichen die für sich allein schon eine Stadt von mittelmäßiger Größe bevölkern könnten, gänzlich frei bis zum Montagmorgen. Die Läden und Fabriken werden gegen vier oder fünf Uhr geschlossen, wo sich dann eine Masse von Menschen, welche man sicherlich auf hunderttausend Seelen schätzen kann, nach der Arbeit einer Woche plötzlich von allen Geschäften frei sieht. Es gibt wohl wenige Straßen von öderem Ansehen als eine mit Magazinen oder Webereien angefüllte Straße von Manchester an einem Samstagabend. Die Dampfmaschine, die zum Stillstand und Schweigen gebracht ist, steht da als eine tote Metallmasse; der hohe Rauchfang wirft keine wogenden Dampfwolken aus, die Werkstätten sind verlassen, die Türen geschlossen, die Lichter ausgelöscht. Man fühlt, daß die Seele der Industrien entflohen ist; der letzte Tag der Woche ist gekommen, und die Arbeiter des großen Bienekorbes haben sich zerstreut, einige hierhin, andere dorthin, um für ihre eigenen Bedürfnisse zu sorgen.
Man gehe einige Schritte weiter, trete in eine benachbarte Straße und mit einem Schlage ist die Szene verändert. Hier wird man durch menschliche Laute aller Art betäubt und durch Vorübergehende mit sehr wenig Komplimenten vor- und rückwärts geschoben, gestoßen und hin- und hergeschleudert. Jedes Haus ist ein Laden und jeder Laden glänzt von Lichtern, Am sieht dort eine Menge Bäcker, deren verschiedene Brotsorten mit vielfarbigen Aufschriften, die die Qualität des Brotes andeuten und die mit offiziellen Preisbestimmungen versehen sind, die dem Publikum verkünden, daß eine neue Herabsetzung des ersten Lebensbedürfnisses stattgefunden hat, und daß die beste Sorte Mehl für die Muffins (eine Art feiner Semmel, welche beim Tee gebraucht wird,) um einen äußerst geringen Preis zu erhalten ist. Die jetzt stillen Fabriken haben den Arbeitern den Wochenlohn bezahlt, und die Lebensmittel sind sehr wohlfeil, so daß die Bäcker nicht über schlechten Absatz zu klagen brauchen.
Die Fleischerbuden sind geöffnet und geschmückt, und die verschiedenen Fleischsorten mit Etiketten versehen, auf welchen die Preise vermerkt stehen, während der Fleischermeister, ein Herkules in seinem Fach mit einem dicken und roten Gesicht, eine reine Schürze um den Leib, Messer und Stahl an der Seite, mit den Händen in der Tasche vor seiner Bude auf- und niederschreitet, indem er von Zeit zu Zeit ausruft: „Tretet ein, meine Damen, hier ist die größte Auswahl, sucht nach Gefallen aus!“ Und die Damen treten hinein und kaufen was sie bedürfen und häufig auch das, was sie nicht unumgänglich notwendig bedürfen. Ein Mann und eine Frau treten ein, beide noch sehr jung an Jahren und dem Anschein nach von sehr zarter Konstitution. Die Frau wählt das Fleisch aus; im Korbe liegt ein kleines Kind, welches sorgfältig eingehüllt ist und sanft schläft. Sie bewohnen wahrscheinlich ein Haus in einer abgelegenen Gasse; die Frau kann nicht eher auf den Markt gehen, als bis der Mann seinen Wochenlohn empfangen hat; sie haben keine Dienstmagd, und da das Kind nicht allein zu Haus seinem Schicksal überlassen werden kann, so gehen alle drei gemeinschaftlich aus: die Frau nimmt dann den Schlüssel mit und trägt das Kind in einem Körbchen mit sich herum. Solchen Familien begegnet man zu Hunderten um elf Uhr abends. Obgleich die Folgen eines derartigen Lebens höchst nachteilig für die Gesundheit des Kindes sein müssen, so ist dies dennoch nicht zu vergleichen mit dem, was alle Kinder zu ertragen haben, deren Mütter in den Fabriken arbeiten und die den ganzen Tag über fremder Aufsicht anvertraut sind, wobei von sorgfältiger Pflege keine Rede sein kann. Die Freiheit, mit welcher die Kinder in Manchester in den Straßen umherschwärmen und in Folge deren viele verloren gehen, übersteigt alle Begriffe. Im Lauf des Jahres 1848 z.B. wurden 4715 Kinder bei der Polizei als verloren angegeben; sie wurden sämtlich wiedergefunden, und zwar 1661 durch die Bemühungen der Polizei.
In Liverpool, dessen Bevölkerung fast ebenso groß, welches aber keine Fabrikstadt ist, betrug die Anzahl der auf der Straßen verloren gegangenen und durch die Polizei ihren Eltern wieder zugeführten Kinder in demselben Zeitrum nicht mehr als 360.
Aber diese Straße, in welcher die Menge auf- und niederwogt, ist nicht bloß mit Leuten angefüllt, die kaufen oder verkaufen. Man erblickt auch viele junge Leute beiderlei Geschlechts mit guten Arbeitskleidern angetan, welche sich sehr wenig um die Bedürfnisse des Samstagabends zu kümmern scheinen. Sie schlendern von Laden zu Laden, betrachten die Mützen und Hüte, die neumodischen Paletots und die übrigen zur Schau ausgestellten schönen Dinge. Die Preise von allen diesen Gegenständen sind gewöhnlich mit großen Zahlen darauf geheftet, aber man muß sehr scharf hinblicken, wenn man nicht durch eine mikroskopische Zahl betrogen werden will, die listigerweise derjenigen beigefügt ist, welche in die Augen springen sollen. Das Äußere dieses jugendlich sorglosen und fröhliches Völkchens sticht scharf ab gegen das der eben erwähnten Personen, welche nur wenig älter, aber verheiratet sind einen Haushalt und in dessen Folge Sorgen haben.
Während in den Läden selbst der Kauf und Verkauf ohne viel Geräusch seinen Gang geht, wird draußen auf der Gasse ein unaufhörliches Geschrei gemacht von den verschiedenen kleinen Kaufleuten, die ihre Waren vor den Häusern feilbieten und die mit einander wettstreiten, die Sorte und den Preis ihrer Ware auszuposaunen. Von den hausierenden Kaufleuten sind die Apfelsinenhändler die zahlreichsten. In einem ziemlich lebhaften Teil Manchesters habe ich an einem Abend gegen 22 solcher Apfelsinenhändler gezählt, und noch dazu nur an einer Seite der Straße. An andern Tagen haben sie kleine Buden oder Läden, die an der Ecke der Straße stehen und mit papiernen Laternen erleuchtet sind; dann kann die Verkäuferin sich mit Stricken oder anderen Handarbeiten beschäftigen. Im allgemeinen aber werden die Apfelsinen in einem Korbe längs den Häusern hingetragen, wobei der Verkäufer schreit: „Vier für einen Penny! Schöne Ware!“ In Manchester muß eine ungeheure Masse dieser Früchte verbraucht werden. Man mag gehen wo man will, überall wird man bestürmt und gequält, Apfelsinen zu kaufen: im Theater, im Zirkus, im Omnibus, im Eisenbahnwagen – überall genießt das Publikum Apfelsinen.
Die Straßen sind außerdem gefüllt mit Regenschirmhändlern, deren Umsatz sich nach der Beschaffenheit des Wetters richtet, mit armen Frauen, die Mützen feilbieten, an denen sie die ganze Woche hindurch gearbeitet haben, mit Hausierern, die Briefpapier, Federn, Almanache und illustrierte Schriften verkaufen, alles zu Spottpreisen. Hier und da sieht man ein Glücksrad oder Spielbrett, wo Kinder eine Handvoll Münzen zu gewinnen trachten.
Mitten in all dem Geräusch und Gewühl dieser verschiedenen Gewerbe gewahrt man eine Klasse von Menschen, die einzig und allein durch Stillschweigen auf den Geldbeutel anderer spekulieren. An den übrigen Tagen der Woche begegnet man sehr wenigen Bettlern in Manchester, am Samstagabend aber kommen sie allerorten zum Vorschein. Nichts ist schwerer als zu ergründen, ob diese stillen Bettler wirklich bedürftig sind oder nicht. So sah ich mehrere Abende hinter einander ein Gemälde des Elends, welches den heftigsten Feind der Bettler erweicht haben würde. In einer der belebtesten Straßen saß eine Frau in ärmlicher, aber sauberer Trauerkleidung an einem Eckhaus auf einem Stuhl. Sie hatte zwei Kinder, wahrscheinlich Zwillinge, auf dem Schoß, und vier andere kauerten neben ihr. Kein einziges ließ ein Wort hören; sie begnügten sich damit, traurige, aber vielsagende Blicke auf die Vorübergehenden zu richten. In der Nähe waren zwei oder drei Branntweinschenken, in welche eine halbbetrunkene wüste Menge hin- und hertaumelte, deren rohe Manieren und schändliche Reden einen grellen Gegensatz bildeten zu der mitleiderweckenden Bedürftigkeit dieser armen Frau. Man konnte es kaum übers Herz bringen vorbeizugehen, ohne ein Almosen zu reichen, und gleichwohl hatte die ganze Gruppe etwas verdächtiges. Diese Art von Bettlern findet man viel in Manchester, aber nur am Samstagabend.
In Manchester gibt es eine gewisse Anzahl öffentlicher Verkaufplätze; der bedeutendste heißt Smithfield. Es ist eine große Fläche, wo Zelte und Buden errichtet sind, welche regelmäßige Gänge bilden und so dem Markt das Ansehen einer ländlichen Kirmes geben. Man trifft dort auch mancherlei Arten von Schaubuden an, z. B. Menagerien, Wachsfigurenkabinette, Gaukler u.s.w. Jede derselben ist mit einem Orchester versehen und von einem Haufen Neugieriger, Müßiggänger und Gauner umdrängt. Außerdem befinden sich auf dem Markt auch noch viele Kaufleute, welche alte Kleider, frisches oder gesalzenes Fleisch und andere Eßwaren feilbieten. Auf diesem Punkt ist die Menge nicht so zahlreich wie man glauben sollte; die Läden werden in Manchester mehr besucht als die Märkte.
Von Smithfield kommt man nach Shyde Hill, einer anderen sehr lebhaften Straße, deren eine Seite hauptsächlich mit Buchläden besetzt ist. Auch sieht man dort Einrichtungen, um seine Größe und sein Gewicht zu erfahren, die Angaben werden einem auf einem Stückchen Papier eingehändigt, und für einen Penny kann man seine Neugier befriedigen. Einige Schritte weiter erbietet sich ein Künstler, für wenige Pence in wenigen Minuten das ähnlichste Porträt von der Welt zu verfertigen, und dort ist der Wunderspiegel aufgestellt, in welchem jeder Junggeselle seine künftige Lebensgefährtin und jedes Mädchen ihren dereinstigen Gemahl erblicken kann. All dieses Volk, Leute von der Elle und von der Waage, Künstler, Gaukler und Zauberer machen gute Geschäfte.
Wenn man diesen Teil der Stadt verlässt, kommt man nach dem alten Kirchhof, der still und verlassen ist. Der hier stehende hohe, durch den Rauch aller Schornsteine von Manchester geschwärzte viereckige Turm erhebt sich wie ein schweigender Riese über all das Gewühl und Gelärme der großen Stadt. Schreitet man über diesen Kirchhof hinüber, steigt einige Stufen hinab und geht über einen anderen Marktplatz, so befindet man sich in Deans Gate, einer der ältesten und bevölkertsten Straßen von Manchester. An einem Samstagabend habe ich dort in einer Zeit von drei Minuten hundert und fünfundfünzig Vorübergehende gezählt. Die von Fabrikarbeit lebende Bevölkerung ist in diesem Teil nicht so zahlreich wie in den übrigen Stadtvierteln, aber die Trunksucht und andre Laster zeigen sich dort in aller Abscheulichkeit. Es ist wahrhaft betrübend zu sehen, wie sich eine Menge von Menschen beiderlei Geschlechts und jeden Alters um die Branntweinschenken hin- und herdrängt, und wenn die Türen der Häuser ein wenig offen stehen, erblickt man drinnen eine noch größere Menge. Der Tee-Totalismus (Beschränkung der Getränkebedürfnisse auf Tee) hat bedeutende Fortschritte gemacht, die Mäßigkeitsvereine haben eine mühsame Arbeit unternommen, neue Schulen sind zu Hunderten und Tausenden errichtet, aber es scheint, daß all die wohltätigen Bemühungen bei einer zahlreichen Masse der Bevölkerung erfolglos bleiben, bei der Klasse, deren Existenzmittel meistens sehr zweifelhaft sind, welche durch die Polizei in Zaum gehalten wird, aber bei der geringsten Aufregung plötzlich hervorbricht, zum größten Entsetzen der vornehmen Leute, die nicht geglaubt hatten, mit derartigen Wesen gleichsam unter einem Dach zu wohnen.
Die Vergnügungen der Bevölkerung von Manchester am Samstagabend bestehen vornehmlich in Musik. Man sieht ein großes Papier an den Mauern angeklebt, auf welchem mit großen Lettern steht: „Konzerte für den Samstagabend“, und welches außerdem meldet, daß in dem Institut der Arbeiter ein musikalisches Divertissement gegeben werden soll, bestehend aus ernsten und komischen Gesangsstücken, zu welchem die Abonnenten für drei und das übrige Publikum für sechs Pence Zutritt haben. Das Programm ist äußerst anlockend und die Unternehmung scheint auf die arbeitenden Klassen berechnet zu sein, Das Institut liegt in einem bevölkerten Stadtteil, der Saal ist erstaunlich geräumig und hübsch, man hat eine gute Orgel darin, aber das Auditorium ist nicht zahlreich. Der Saal, der mehr als tausend Personen fassen kann, war kaum zur Hälfte gefüllt und unter den versammelten wohlgekleideten Menschen hätte man schwerlich Handwerker gefunden. Die Unternehmung der „Samstagabend-Konzerte“ hat in Manchester nicht das gute Resultat geliefert wie in Liverpool, das Institut hat bei der Spekulation sogar Verlust erlitten. Es erhellt daraus, daß die arbeitende Klasse am Samstag ihr Vergnügen anderswo sucht.
In geringer Entfernung vom Institut der Arbeiter befindet sich ein anderes Gebäude, Casino genannt, welches in den öffentlichen Ankündigungen mit dem pomphaften Titel „Tempel der Dichtkunst und des Gesanges“ geschmückt wird, und zu welchem jeder unentgeltlich Zutritt hat. Das Casino liegt in einer sehr vornehmen Gegend, da man in der Nähe viele Kirchen und Kapellen, das Museum der Gesellschaft für die Naturgeschichte, eins der besten Institute dieser Art in den Provinzen, den berühmten Saal der Vorstände des freien Handels, das königliche Theater und den Zirkus antrifft. In derselben Straße, in welches das Casino liegt, an derselben Seite und nur einige Schritte davon entfernt, befindet sich der Konzersaal, wo Leute aus allen Klassen der Bevölkerung von Manchester zusammenkommen, und der Vornehmste wie der Geringste sich den Genuß der Musik verschaffen kann. Vor dem Eingang des Casinos steht immer ein Haufe junger Leute, die jedes Mal, wenn die Tür geöffnet wird, sehnsüchtige Blicke ins Innere werfen; ein Agent hält dort Wache, um für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen, und ein gedruckter Anschlagzettel verkündet, daß man nur gegen Vorzeigen eines „Consumptions-Billets“ eingelassen wird. Dies Billette sind für zwei oder drei Pence zu erhalten, je nachdem der Besucher einen Platz im Parterre oder oben auf der Galerie nimmt. Den Wert seines Billets empfängt er in Erfrischungen von vorzüglicher Güte zurück, die aus Äpfeln, Apfelsinen, Kuchen Ingwerbier, Ale, Porter und Zigarren bestehen.
Der Saal, der mit einem ziemlich zahlreichen Orchester besetzt ist, hat eine länglich viereckige Gestalt. An dem einen Ende befindet sich eine Bühne mit Dekorationen; eine schmale Galerie läuft an den übrigen drei Seiten hin, und zwei besondere Logen sind rechts und links von der Bühne errichtet. Die Wände der Galerie und die Balken, welche das Dach stützen, sind im Theaterstil verziert. Oben und unten sind Büffets, wo die Erfrischungen gegen die Entreebillete eingetauscht oder gegen Geld abgegeben werden. Die Sitzplätze sind so eingerichtet, daß man hinlänglich Raum hat, um Flaschen, Gläser und dgl. neben sich zu stellen; in der Galerie befindet sich ein abgesonderter Raum, um hin- und herzugehen. Das Ganze ist glänzend durch Gasflammen erhellt. Überall sind Einrichtungen, um Pfeifen oder Zigarren anzuzünden. Der Saal kann 1.500 bis 2.000 Menschen fassen, an dem Samstagabend, als ich ihn besuchte, mochte die Zahl der Anwesenden ungefähr 1.000 betragen; die Mehrzahl bestand aus jungen Leuten und sogar aus Kindern beiderlei Geschlechts. Man sah auch viele Frauen, die ein Glas Porter vor sich stehen hatten und ihrem Kind die Brust reichten. Alle Anwesenden schienen nicht zur Klasser der Handwerker zu gehören, denn in der Galerie befanden sich sehr viele Laden- und Comptoirdiener. Nur einzelne Mannspersonen hatten ihre Hüte abgenommen; alle waren mit Essen, Trinken, Rauchen und Schwatzen beschäftigt. Das Ingwerbier schien ein besonders beliebtes Getränk zu sein, das Gesumme der Stimmen und der Töne des Orchesters wurden alle Augenblicke unterbrochen durch das knallende Entkorken des gashaltenden Getränks und durch das Rufen der Diener, die mit ihren Erfrischungskörben den Saal durchkreuzen. Der aus dem Parterre aufsteigende Tabakdampf, die verdorbene Luft, welche durch die Masse von Menschen und durch das Gaslicht hervorgebracht wurde, der Mangel oder vielmehr die Unmöglichkeit eines Luftdurchzuges, machten das Atemholen auf der Galerie äußerst beschwerlich und ungesund; aber die Menge schien diese Unannehmlichkeit nicht zu bemerken, denn jeder war lustig und guter Dinge.
Hin und wieder machte eine Person, die ein wenig laut und anmaßend war, die Dazwischenkunft der Diener und sogar eines Polizeioffizianten notwenig, im Ganzen aber ging es ziemlich ordentlich zu, und ich entdeckte keinen einzigen Betrunkenen. Man verkaufte weder Wein noch Likör, und Ale und Porter, wovon eine furchtbare Quantität verbraucht wurde, schien keine andere Wirkung hervorzubringen, als das Publikum in eine aufgeräumte Stimmung zu versetzen.
Während der Zeit spielte das Orchester unaufhörlich allerlei Arien, welche aber wegen des im Saale herrschenden Getöses kaum zu hören waren. Plötzlich ertönt eine Schelle, der Lärm verstummt und alle Augen wenden sich nach der Bühne, auf der eine schön geputzte Dame erscheint, welche das eine oder andere beliebte Lied singt und sich dann wieder entfernt. Bald kommt sie wieder und gibt ein zweites Stück zum Besten. Darauf beginnen Instrumentalmusik und Lärm von neuem, bis ein Sänger auftritt, der eine gleiche Stimmübung hält. Mitunter gibt’s auch einen Dialog, etwas Handlung, theatralische Aufzüge, und sogar Tanz. Die Worte der Lieder und Gesänge sind im allgemeinen anständig, obwohl dann und wann ein zweideutiges Wort gehört wird, welches sowohl Pfeifen als Beifallsruf veranlaßt.
Dies Casino ist eine der größten Einrichtungen dieser Art in Manchester, und das, was oben darüber gesagt ist, passt auf alle andern. Manche sind natürlicherweise nicht so großartig eingerichtet und haben statt eines Orchesters nur ein Pianoforte oder eine Orgel, andere dagegen gehen so weit, kleine dramatische Vorstellungen zu geben oder Tableaux aufzuführen. Bei einigen sind die Wände mit wirklich beachtenswerten Ölmalereien geziert. Die meisten sind alle Tage der Woche geöffnet und wenigstens ein Dritteil auch am Sonntagabend; im letztern Fall aber wird nur kirchliche Musik aufgeführt, zu welchem Zweck man sich tragbarer Orgeln bedient. Von der Zahl dieser Etablissements kann man sich eine Vorstellung machen, wenn man weiß, daß allein in Manchester, ohne Salford dazuzurechnen, 475 Weinhäuser und 1143 Schenken bestehen, in denen nur Bier verkauft wird.; 49 der erstgenannten und 41 der letztgenannten geben musikalische Unterhaltungen; 26 von den ersten und 10 von den letzern lassen auch des Sonntags Musikstücke aufführen. Man kann das Geld, welches dort verzehrt wird und wovon beinahe ein Drittel allein auf den Samstagabend zu rechnen ist, gewiß auf 1.000 Pfund Sterling wöchentlich schätzen.
Um elf Uhr sind alle Konzerte aus, die Personen, welche das Auditorium ausmachten, begeben sich nach Hause , einige nehmen unterwegs noch eine wohlfeile Zeitschrift mit. Hier und da sieht man einen Betrunkenen gegen die Häuser taumeln, die hausierenden Kaufleute sind verschwunden, die Läden werden geschlossen, die Lichter werden eines nach dem andern ausgelöscht, die Mietkutscher bringen ihre abgetriebenen Pferde in den Stall, und wenn der Sonntag kommt, liegt ganz Manchester mit seinen riesigen Maschinerien, seinen unermesslichen Qualitäten von rohen und bearbeiteten Kaufmannsgütern, mit seinen Hunderttausenden in Todesstille da, die nur von Zeit zu Zeit unterbrochen wird durch das Pfeifen einer Lokomotive und das Donnern des ihr folgenden Zuges oder durch die gellenden Zeichen, welche die Polizeidiener sich wechselweise geben.
Ohne Verfasser
Ein Samstag-Abend in Manchester
In: Das Ausland, 23. Jahrgang, 1850, 2. Band