1906 - Karl Weule, Völkerkundler
Die ersten Kinderjahre
Makonde-Plateau, Tansania
In der mütterlichen Hütte ist das kleine Negerkind, das noch gar nicht schwarz, sondern ebenso rosig aussieht wie unsere Neugeborenen, zur Welt gekommen; der Herr Vater ist weit vom Schuß; ihn haben die weisen Frauen gehen heißen. Säuberlich wird das Baby gewaschen und in ein Stück neuen Rindenstoffes gewickelt. Dabei salbt man ihm seine Ohren mit Öl, damit es hören soll, das Bändchen unter der unter der Zunge aber löst man nun mit dem landesüblichen Rasiermesser, damit es sprechen lerne. Knaben werden überall gern gesehen; in Bezug auf Mädchen verhalten sich die Stämme und, genau wie bei uns, auch die einzelnen Familien verschieden. In der Völkerkunde ist oft zu lesen, daß die Naturvölker die Geburt von Mädchen aus rein mammonistischen Gründen freudig begrüßen, brächten doch die erwachsenen Mädchen dem Elternpaar bei der Heirat den Kaufpreis ein. Bis zu einem gewissen Grade mögen derartige Momente auch hierzulande mitspielen, im allgemeinen aber sind die Mädchen schon deswegen gern gesehen, weil sie der Mutter bei den mannigfachen Arbeiten in Haus und Feld schon frühzeitig an die Hand gehen können. Nach ihrer Verheiratung wird der Herr Schwiegersohn zudem zum treusten unentgeltlichen Diener des mütterlichen Hauses. Hier, im Lande Exogamie, der Außenehe, siedelt nämlich die junge Frau nicht in des Heim des Ehemannes über, sie tritt auch nicht in seine Verwandtschaft hinein, sondern gerade umgekehrt; der Mann verläßt Vater und Mutter und zieht entweder direkt ins schwiegermütterliche Haus oder baut sich doch unmittelbar daneben an; in jedem Fall aber sorgt er, bis seine eigenen Familienumstände es mit sich bringen, mit voller Kraft jahrelang für die Erhaltung des schwiegermütterlichen Anwesens; er besorgt die Aussaat und die Ernte, macht neue Felder urbar, kurz, er sieht der Schwiegermama jeden Wunsch an den Augen ab. Er trägt sie auf Händen.
O, wie habe ich mich geschämt. So oft sich das Gespräch mit diesem oder so manchem andern Punkt des hiesigen Volkstums befaßte. Sind das nun Wilde, oder sind wir es? Blitzschnell genieße ich rückschauend 20, 30 Jahrgänge der „Fliegenden“ und noch einiger andere Witzblätter, unsere Bilanz wird immer schlechter. Ich mit meinem flüchtigen Durchstreifen des Landes kann es ja nicht wissen, aber Knudsen, dieser vollkommen Eingelebte [ein Norweger, der seit Jahren bei den Makonde lebte], mit der Denk- und Handlungsweise der Leute vollkommen Vertraute, bestätigt mir, daß nicht nur das Verhältnis vom Schwiegersohn zur Schwiegermutter als geradezu ideal zu bezeichnen ist, sondern daß auch sonst das Benehmen der Jugend dem Alter gegenüber das Prädikat „musterhaft“ bekommen muß.
Wir Angehörigen der höchsten Kulturschicht, oder, nach bei uns allgemein geteilter Ansicht, der Kulturschicht schlechthin, verbringen unser halbes Leben in den Erziehungsanstalten der verschiedensten Arten und Grade; das Endergebnis legt uns dann die Statistik dar: 0,x % Analphabeten in diesem Staat, 0,y % in dem benachbarten Reich, z % weiter im Osten, gegen Halbasien zu. Wir stehen natürlich oben an, denn wir haben ja den geringsten Prozentsatz. Du lieber Gott, wer Augen hat zu sehen und Ohren hat zu hören, der höre und schaue, aus wie wenig ethischem Empfinden und wieviel Rüpelei sich die Lebensbestätigung gerade unserer Kulturnationen sich zusammensetzt. Ich werde mich hüten, gegen unseren Unterricht und gegen unsere Schulen etwas zu sagen, ich bin ja selber eine Art Schulmeister, aber bedenklich muß es doch stimmen, sehen zu müssen, wie viele unserer Früchte trotz aller auf sie verwendeten Sorgfalt sind, und wie ethisch gesund dagegen das Volkstum dieser Barbaren uns entgegentritt. Und das alles lediglich auf Grund eines Unterrichts von ganzen drei oder vier Monaten, eines Unterrichts zudem durch Lehrer, die weder eine Schule durchlaufen, noch sonst studiert haben.
Zwillingen gegenüber verhalten sich die hiesigen Völkerschaften verschieden; bei den Yao werden sie mit ungeteilter Freude begrüßt, bei den Makonde hingegen sieht man in ihrer Geburt etwas Schreckliches, das man für die Zukunft mit allerlei Medizinen abzuwenden versucht. Doch auch hier sind die Eltern nicht grausam genug, die einmal Geborenen umzubringen; man läßt sie am Leben und behandelt sie genau wie bei den Yao, d.h. man kleidet sie stets ganz gleich. Würde man von diesem Grundsatz abweichen, so würde unfehlbar eines der beiden Kinder sterben, so sagen die Leute.
Das erste Lebensjahr verfließt dem kleinen Negerkind in innigster Gemeinschaft mit der Mutter. Sie und ihr Neugeborenes zeigen sich schon nach einem Wochenbett von nur wenigen Tagen auf einem ersten Ausgang dem Volke, das, nicht anders als bei uns, den neuen kleinen Weltbürger gebührend bewundert. Wie ein Klümpchen Unglück hockt es in einem großen, bunten Tuch, das den Oberkörper der Mutter fast ganz umschließt. Meist hängt der Sack für die Aufnahme des Kindes auf dem Rücken, fast ebenso häufig aber schwenkt die Mutter Sack und Baby auf eine der Hüften herüber. Naht sodann die Zeit der Nahrungsmittelaufnahme für das Kind, so werden beide nach vorn befördert. Nichts macht auf mich den Eindruck des Armen und Primitiven als gerade diese Art der Kinderwartung: kein Wechsel der Wäsche bei Mutter und Kind, denn es ist kein Ersatz vorhanden; kein Trockenlegen, kein Einpudern, keine Windel, kein regelmäßiges Baden von den Tagen des Wochenbettes an, keine Hygiene des Mundes. Dafür wundgefressene Körperstellen bei fast jedem Kinde, besonders in den Gelenkbeugen und der Analfalte; verheilende Schorfe, wo trotz der der Vernachlässigung des Körpers die Natur den Sieg davonträgt; ziemlich allgemein tränende, trübe Augen infolge der ewigen Fliegenattacken; vereinzelt schließlich Schwämme und Pilze in so furchtbaren Maße, daß sie den Unglückswürmern direkt aus Nase und Mund herausquellen!
Ich bin vor einer halben Stunde ins Negerdorf gekommen; die Männer und Knaben sind nach zwei Minuten bereits zur Stelle gewesen, die Frauen kommen langsamer; die kleineren Mädchen bleiben merkwürdigerweise ganz aus. Ganz wie bei uns hat sich die Frauenwelt schleunigst zu einem dicken Klumpen zusammengeballt. Zunächst herrscht noch scheue Stille, kaum aber hat man sich an den Anblick des Weißen gewöhnt, da plappert es auch schon, selbst den riesigsten Lippenscheiben zum Trotz, in allen Tonarten. Mindestens die Hälfte aller Weiber ist babybehaftet, doch wie weit ist hier dieser Begriff zu dehnen! Wahre Riesen, von zwei, drei Jahren gar, räkeln sich auf den schmächtigen Hüften der immerhin zarten Mama herum, oder unternehmen einen mit furchtbarem Ungestüm durchgeführten Angriff auf den mütterlichen Born. Es scheint, als wenn gerade meine photographischen Apparate zu diesem Angriff reizen; wie auf Verabredung schnellt die ganze Schar genau in dem Augenblick um die mütterliche Hüfte herum, wo ich auf dem Ball drücke. So weit ist dies alles ganz lustig und gibt zu vielen Heiterkeitsausbrüchen Anlaß; zu unbändiger Heiterkeit jedoch steigert sich diese Lust bei uns Europäern, wenn bald hie, bald da die Mütter ganz plötzlich mit der Hand energisch an den Oberschenkeln entlang fahren und rasche Schleuderbewegungen vollführen. Das ist die Folge der Windellosigkeit, die sich hier geltend macht; auch ein kleines Negerkind ist von Hause aus nicht stubenrein! Wir Europäer haben gut lachen; verständiger, menschenfreundlicher und edler würde es sein, wenn Regierung und Mission sich verbinden würden, um weniger durch ärztliche Tätigkeit als durch eine im großen Maßstabe durchgeführte Erziehung der Mütter zu den einfachsten Regeln der Hygiene und Reinlichkeit diesen schauderhaften Zuständen ein Ende zu bereiten. Es gilt in erster Linie jener schrecklichen Kindersterblichkeit vorzubeugen, die nach allem, was ich sehe und höre, die Hauptursache für die geringe Volksvermehrung ist.
Die weitere Negerkindheit verläuft nicht viel anders als unsere eigene verlaufen ist; die kleinen Jungen rotten sich zu Trupps zusammen, die in Dorf und Pori [Steppenwald] ihre Spiele treiben; das kleine Mädchen aber fängt sehr bald an, die Mutter durch kleine Hilfeleistungen in Haus und Feld zu unterstützen.
Weule, Karl
Negerleben in Ostafrika
2. Auflage, Leipzig 1909