1787 - Johann Wolfgang von Goethe
Das Wunder von Palermo
Sizilien
Gegen Abend trat ich noch zu meinem Handelsmanne und fragte ihn: wie denn das Fest morgen ablaufen werde; da eine große Prozession durch die Stadt ziehen und der Vicekönig selbst das Heiligste zu Fuß begleiten solle? Der geringste Windstoß müsse ja Gott und Menschen in die dickste Staubwolke verhüllen.
Der muntere Mann versetzte: daß man in Palermo sich gern auf ein Wunder verlasse. Schon mehrmals in ähnlichen Fällen sei ein gewaltsamer Platzregen gefallen und habe die meist abhängige Straße, wenigstens zum Teil rein abgeschwemmt und der Prozession reinen Weg gebahnt. Auch i diesmal hege man die gleiche Hoffnung nicht ohne Grund, denn der Himmel überziehe sich und verspreche Regen auf die Nacht.
Und so geschah es denn auch! der gewaltsamste Regenguß fiel vergangene Nacht vom Himmel. Sogleich morgens eilte ich auf die Straße um Zeuge des Wunders zu sein. Und es war wirklich seltsam genug. Der zwischen den beiderseitigen Schrittsteinen eingeschränkte Regenstrom hatte das leichteste Kehricht die abhängige Straße herunter, teils nach dem Meere, teils in die Abzüge, in sofern sie nicht verstopft waren, fortgetrieben, das gröbere Geströhde wenigstens von einem Orte zum andern geschoben und dadurch wundersame, reine Meanders auf das Pflaster gezeichnet. Nun waren Hundert und aber Hundert Menschen mit Schaufeln, Besen und Gabeln dahinterher, diese reinen Stellen zu erweitern und in Zusammenhang zu bringen, indem sie die noch übrig gebliebenen Unreinigkeiten bald auf diese bald auf jene Seite häuften. Daraus erfolgte denn, daß die Prozession, als sie begann, wirklich einen reinlichen Schlangenweg durch den Morast gebahnt sah und sowohl die sämtliche langbekleidete Geistlichkeit als der nettfüßige Adel, den Vicekönig an der Spitze, ungehindert und unbesudelt durchschreiten konnte. Ich glaubte die Kinder Israel zu sehen, denen durch Moor und Moder von Engelshand ein trockner Pfad bereitet wurde und veredelte mir in diesem Gleichnisse den unerträglichen Anblick, so viel andächtige und anständige Menschen durch eine Allee von feuchten Kothaufen durchbeten und durchprunken zu sehen.
Auf den Schrittsteinen hatte man nach wie vor reinlichen Wandel, im Innern der Stadt hingegen, wohin uns die Absicht verschiedenes bis jetzt Vernachlässigtes zu sehen gerade heute gehen hieß, war es fast unmöglich durchzukommen, obgleich auch hier das Kehren und Aufhäufen nicht versäumt war.
Diese Feierlichkeit gab uns Anlaß die Hauptkirche zu besuchen und ihre Merkwürdigkeiten zu betrachten, auch weil wir einmal auf den Beinen waren, uns nach andern Gebäuden umzusehen; da uns denn ein maurisches, bis jetzt wohlerhaltenes Haus gar sehr ergötzte. Nicht groß aber mit schönen, weiten und wohlproportionierten, harmonischen Räumen. In einem nördlichen Klima nicht eben bewohnbar, im südlichen ein höchst willkommener Aufenthalt. Die Baukundigen mögen uns davon Grund- und Aufriß überliefern.
Goethe, Johann Wolfgang von
Italienische Reise
Ausgabe Berlin 1924